Eine Wertung der aktuellen internationalen Lage im Hinblick auf die Geschehnisse in Weißrussland hat Russlands Außenminister Sergei Lawrow in einem Interview an den TV-Sender Rossija in Moskau am 19. August 2020 abgegeben. Er beobachtet, wie westliche Regierungen die internen Probleme Weißrusslands zur Einflussnahme in dessen Innenpolitik auszunutzen versuchen und zieht Parallelen zum Maidan in Kiew. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die Angelegenheiten östlich und westlich von Wien jeweils mit zweierlei Maß misst, spiele dabei eine unrühmliche Rolle – dank ihres schwammigen Regelwerks im Hinblick auf Wahlbeobachtungen, welches die westlichen Teilnehmerstaaten jahrzehntelang – wider besseres Wissen und entgegen entsprechenden Vorschlägen aus Russland – partout nicht durch ein verbindlicheres Reglement ersetzt sehen wollen.
Ein Ausschnitt des Interviews folgt hier in deutscher Übersetzung:
Abgesehen von der Ukraine, gibt es mit Weißrussland nun einen weiteren Konfliktpunkt. Inwieweit werden die USA und die EU Ihrer Ansicht nach die politische Situation in Minsk aktiv beeinflussen, intervenieren und Druck ausüben? Haben Sie vielleicht dieses Thema sogar heute bereits in einem Gespräch mit dem deutschen Außenminister Heiko Maas angesprochen?
Ja, auch darüber haben wir gesprochen, denn was in Weißrussland geschieht, beunruhigt uns sehr. Wir sind besorgt über den Versuch, die internen Schwierigkeiten, mit denen Weißrussland, das weißrussische Volk und die Führung jetzt konfrontiert sind, dafür auszunutzen, um sich von außen in diese Ereignisse und Prozesse einzumischen – nicht nur, um sich einzumischen, sondern um den Weißrussen jene Ordnung aufzuzwingen, die äußere Akteure für sich selbst als vorteilhaft erachten. Niemand macht einen Hehl daraus, dass hier von Geopolitik die Rede ist, über den Kampf um den postsowjetischen Raum. Wir haben diesen Kampf auch in den früheren Entwicklungsphasen der Lage nach dem Ende der Sowjetunion gesehen. Das letzte Beispiel ist selbstredend die Ukraine.
Bei dem, was wir jetzt aus den europäischen Hauptstädten vernehmen – vor allem aus den baltischen Staaten (Litauen, Estland), aber auch aus Polen, dem Europäischen Parlament –, geht es nicht um Lukaschenko, um Menschenrechte und Demokratie. Das dreht sich alles um Geopolitik. Es geht gerade um jene Regeln, die unsere westlichen Partner im täglichen Leben auf unserem Kontinent und in anderen Teilen der Welt einführen und umsetzen wollen.
Es gibt einen internationalen Rechtsrahmen, an den es sich beim Festlegen der eigenen Einstellung zu den Ereignissen in diesem oder jenem Land zwingend zu halten gilt. Wenn in diesem Fall die Nachbarn von Weißrussland Mängel in der Art und Weise sehen, wie die Wahlen organisiert wurden – so ist erstens Weißrussland ein souveräner Staat. Es gibt dort eine Verfassung, Gesetze und Verfahren, die man auf der Grundlage dieser Gesetze unbedingt in Gang setzen muss, um die Ergebnisse des Wahlprozesses in einem bestimmten Wahllokal oder auch allgemein anzufechten oder infrage zu stellen.
Zweitens: Wenn wir uns alle von unseren Verpflichtungen leiten lassen, so hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR, engl. ODIHR). Eine seiner Aufgaben ist die Beobachtung nationaler Wahlen in den OSZE-Teilnehmerstaaten. Dies ist in den Verpflichtungen festgehalten, die von ausnahmslos allen Staaten dieser respektablen Organisation unterzeichnet wurden. Nun wird uns gesagt, dass die Verstöße während des Vorwahl- und Wahlkampfes offensichtlich waren, dass sie von freiwilligen Beobachtern, in sozialen Netzwerken, in Videoclips und so weiter dokumentiert wurden. In diesem Büro selbst, das Wahlen beobachten soll, erklärt man, man sei nicht nach Weißrussland gereist, weil man die Einladung zu spät erhalten habe. Dies ist – gelinde gesagt – eine Unwahrheit, denn die einzige Verpflichtung besteht für Weißrussland – wie für jeden anderen OSZE-Mitgliedsstaat auch – darin, "internationale Beobachter zu den nationalen Wahlen einzuladen".
Das BDIMR verfolgt unterschiedliche Ansätze für die Wahlbeobachtung einerseits östlich von Wien, im postsowjetischen Raum, und andererseits westlich von Wien, insbesondere in den Vereinigten Staaten. An bestimmte Orte werden 800 Leute entsandt, an bestimmte andere Orte 12 Personen, und an bestimmte dritte Orte – gar niemand. Beispielsweise hat das Büro in einige baltische Länder mehrmals keine Beobachter entsandt – obwohl Hunderttausende von Menschen in Estland und Lettland des Wahlrechts beraubt sind, weil sie [dort] den für die Europäische Union beschämenden Status von "Nichtbürgern" haben. Seit vielen Jahren schlägt Russland gemeinsam mit seinen GUS-Partnern vor, ein für alle Mal Regeln der Wahlbeobachtung festzulegen, die für alle verständlich sein sollten – sodass feststeht, wann eine Einladung verschickt werden sollte, wie viele Beobachter als Teil der Vorfeld-Gruppe entsandt werden und wie viele aber – von Pro-Kopf-Berechnungen ausgehend – unmittelbar zur Wahlbeobachtung entsandt werden. Man antwortete uns mit Ablehnung – und den größten Eifer dabei zeigten gerade jene Länder, die jetzt lautstark erklären, das Büro sei nicht in der Lage gewesen, die Wahlen zu beobachten, weil es nicht dazu eingeladen worden wäre. Als die Entwicklung solcher Kriterien abgelehnt wurde, wurde uns gesagt, dass die "Zweideutigkeit" und "Flexibilität", die dieses Amt innehabe, den "goldenen Standard" darstelle und dass es diesen ("goldenen Standard") in jeder Hinsicht zu pflegen gelte. Es bedarf keiner Erklärung, dass eine solche "Zweideutigkeit", wie sie sich in den Funktionen des Büros erhalten konnte, nur für einen Zweck notwendig ist: um sie nach Gutdünken derer zu manipulieren, die das Rückgrat seiner Belegschaft stellen. Und das Rückgrat der Belegschaft stellen dort gerade Mitglieder der NATO und der Europäischen Union. Wenn sich das Büro von dem leiten ließe, worauf sich die Mitgliedsstaaten tatsächlich geeinigt haben, hätte es sich daher nicht "in Pose stellen" dürfen, und auch nicht "Ihr habt uns zu spät gerufen!" sagen dürfen. Sie hätten hinfahren und beobachten sollen – dann hätten sie mehr Grundlage gehabt, die Verstöße zu melden, die sie jetzt auf jede erdenkliche Art aufblähen.
Das Obige bedeutet nicht, dass die Wahl perfekt war. Natürlich nicht. Dafür gibt es eine Menge Zeugenschaft. Dies wird auch von der weißrussischen Staatsführung anerkannt, die versucht, in einen Dialog mit den Bürgern zu treten, die gegen die ihrer Meinung nach erfolgte Verletzung ihrer Rechte protestieren. Ich würde einfach jedem davon abraten, diese Situation in Weißrussland (und sie ist kompliziert) dafür auszunutzen, einen normalen, von gegenseitigem Respekt geprägten Dialog zwischen den Behörden und der Gesellschaft zu untergraben, oder ihn provokativ zu gestalten. In Videomaterialien und in sozialen Netzwerken sehen wir unverblümt provozierende Aufrufe. Wir sehen Versuche, die Gesetzeshüter zu provozieren – auch durch den Einsatz brutaler Gewalt gegen sie. Ich hoffe sehr, dass die Weißrussen – wie auch alle Freunde Weißrusslands im Ausland (denn ihrer gibt es viele) – in der Lage sein werden, ihre eigenen Angelegenheiten zu klären – und sich nicht von diejenigen an der Leine führen lassen, die dieses Land nur dafür brauchen, geopolitischen Raum zu erschließen und die altbekannte destruktive Logik "entweder seid ihr mit Russland oder ihr seid mit Europa" zu fördern.
Sie erinnern sich: In den Jahren 2004 und 2014, als es in der Ukraine jeweils zum "Maidan" kam, brachten viele Beamte der EU-Mitgliedsstaaten gerade diese "Entweder-oder-Logik" zum Ausdruck. Wenn jetzt von "Vermittlung" die Rede ist – Vorschläge dazu hören wir aus Litauen und Polen; jemand meinte, die OSZE solle als Vermittler fungieren –, so fordere ich alle, die solche Ideen vorbringen, dringend dazu auf, dies nicht am Mikrophon zu tun, sondern [diese Ideen] direkt an die Weißrussen und allen voran an die weißrussische Landesführung [heranzutragen]. All diejenigen, die sagen, dass diese Vermittlung der einzige Ausweg aus der gegenwärtigen Situation ist, ermahne ich[: Sie sollen] nicht vergessen, wie unsere westlichen Kollegen im Jahr 2014 während des "Maidan" in Kiew "vermittelt" haben. Damals "vermittelten" angesehene Vertreter der Europäischen Union und erzielten Vereinbarungen. Doch wir alle erinnern uns, was daraus geworden ist. Ich bin überzeugt, dass das weißrussische Volk aus seiner eigenen Weisheit die gegenwärtige Situation selber regeln kann. Ich sehe keinen Mangel an Dialogbereitschaft auf Seiten der Regierung. Ich hoffe, dass auf Seiten derjenigen, die aus dem einen oder anderen Grund mit dem Wahlergebnis unzufrieden sind, die gleiche Bereitschaft gezeigt wird.