Im Fadenkreuz der westlichen Kritik: Verfassungsänderungen in Russland

Am 1. Juli endet in Russland eine einwöchige Abstimmung, bei der das Volk entscheidet, ob die Verfassung geändert werden soll. Westliche Medien kritisieren Wladimir Putins Vorstoß scharf. Laut Experten fußt solche Berichterstattung nicht ausschließlich auf Tatsachen.

Vom 25. Juni bis zum 1. Juli können wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger Russlands über eine Änderung der Verfassung des Landes abstimmen. Der letzte Tag der Abstimmung wurde für arbeitsfrei erklärt.

Damit der Urnengang angesichts der Corona-Pandemie für die Wähler sicher ist, gelten in den Wahllokalen strikte Sicherheitsvorkehrungen: Mundschutz- und Handschuhpflicht, die Wähler erhalten einen Einwegkugelschreiber, mit dem sie den Stimmzettel ausfüllen können, alle Mitarbeiter der Wahllokale werden nach Angaben der Zentralen Wahlkommission regelmäßig auf das Coronavirus getestet. Russische Bürger können auch im Ausland abstimmen. In 144 Ländern der Welt haben rund 250 Wahllokale geöffnet.

Vom 25. Juni bis zum 30. Juni hat in der russischen Hauptstadt Moskau und im Gebiet Nischni Nowgorod eine Online-Abstimmung stattgefunden, für die sich im Voraus insgesamt fast 1,2 Millionen Wahlberechtigte angemeldet hatten. Um mögliche Sicherheitslücken oder technische Probleme zu entdecken, wurde das System der Online-Stimmabgabe im Vorfeld getestet. Die Probeabstimmung fand am 18. und 19. Juni statt. Im Laufe des Online-Votings verzeichnete die Zentrale Wahlkommission nach eigenen Angaben weder erfolgreiche Cyberangriffe noch signifikante technische Probleme.

Zur Abstimmung steht die Frage: "Stimmen Sie den Änderungen in der Verfassung der Russischen Föderation zu?" Die vorgeschlagenen Novellen lassen sich in mehrere Bereiche wie Russlands Souveränität, Staatssystem, sozialen Schutz, Rechte der Familien, Medizin, Umweltschutz, Bildung, Sprache und Kultur gruppieren.

Zum ersten Mal sollen in der aktualisierten Verfassung digitale Technologien, der Datenschutz und das Streben Russlands zum wissenschaftlich-technologischen Fortschritt erwähnt werden.

Präsident Putins Vorstoß wird von der inländischen Opposition und in westlichen Medien scharf kritisiert. Beanstandet werden vor allem die Punkte, wonach der amtierende Staatschef zusätzliche Machtbefugnisse und das Recht erhält, für weitere zwei Amtszeiten zu kandidieren. Somit könnte Putin bis zum Jahr 2036 an der Macht bleiben. Experten des Europarats, in dem Russland Mitglied ist, befürchten, dass sich das Land künftig nicht mehr an Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte halten könnte, da eine der geplanten Novellen das russische Recht über Entscheidungen von internationalen Gerichten stellt. Kritisiert wird auch die Definition der Ehe als alleiniger Bund zwischen Mann und Frau.

Der Tenor der deutschen Mainestream-Medien ist gleich: Putin wolle seine Macht ausbauen und für ewig behalten. Im Sinne dieses Leitmotivs wetteifern sie miteinander in Wortgewandtheit und versuchen, die Aufmerksam ihrer Leserschaft mit schreienden Aufmachern zu fesseln.

   

Der deutsche Jurist Willy Wimmer erklärt, warum eine Aktualisierung der seit dem Jahr 1993 geltenden Verfassung für Russland Sinn ergeben kann. Die Reaktion der deutschen Medien überrascht den früheren CDU-Bundestagsabgeordneten nicht:

Man muss sagen, dass die westlichen Medien seit mehr als zehn Jahren kein faires Urteil über Russland fällen. Man muss in Ahnung haben, dass sich die westlichen Medien geradezu in ihr Schneckenhaus zurückgezogen haben und nur mit Gift und Galle Russland beurteilen.

Wimmer zufolge sei der Vorstoß, die Verfassung des Landes zu ändern, an sich schon sachgerecht, denn eine Verfassung könne keinen Ewigkeitswert haben. Das treffe insbesondere auf die russische Verfassung zu, die im Jahr 1993 kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und vor dem Hintergrund der damaligen umstrittenen Wirtschaftsreformen geschrieben worden sei:  

Verfassungen sind immer antastbar. Man muss ja die Staaten auch wetterfest machen, was politische, internationale und nationale Entwicklungen anbetrifft. In einigen Staaten, die Verfassungsstaaten sind, wird die Verfassung auch angepasst, geändert, verändert, wie das den gesellschaftlichen und politischen Bedürfnissen entspricht.

Was die Rechtsgültigkeit internationaler Gerichtsurteile in Russland anbelangt, so glaubt Wimmer, dass das Völkerrecht inzwischen vom Westen grundsätzlich unterminiert worden sei:

Man muss hier in Rechnung stellen, dass mit dem völkerrechtswidrigen Krieg 1999 gegen die Bundesrepublik Jugoslawien durch die NATO die geltenden Regeln des Völkerrechts und vor allen Dingen die Charta der Vereinten Nationen – mit dem Gewaltmonopol der Vereinten Nationen – durch die Vereinigten Staaten zerstört worden ist. Das hat einen Prozess in Gang gesetzt, den man als den Versuch der Vereinigten Staaten definieren kann, das internationale Recht durch das amerikanische Faustrecht zu ersetzen. Es ist aus meiner Sicht geradezu natürlich, dass in einem Land wie Russland daraus Konsequenzen gezogen werden.

Dass das russische Parlament durch die aktualisierte Verfassung gestärkt werden soll, begrüßt der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete als gut und sinnvoll: Es sei immer besser, die Macht auf mehrere Institutionen zu verteilen. Nach eigenen Worten habe Wimmer den Eindruck, dass mit diesen Verfassungsänderungen "alle Signale auf null gestellt werden" und dass ein Neubeginn möglich sei. Der Jurist sieht sich zwar nicht berechtigt, eine Aussage darüber zu treffen, ob der amtierende Staatschef erneut kandidieren solle oder nicht, allerdings ist er der Meinung, dass Putin bislang seiner Verantwortung für sein Heimatland gerecht werde. 

Auch die ehemalige österreichische Außenministerin Dr. Karin Kneissl ist der Ansicht, dass Verfassungen immer gesellschaftliche Umstände widerspiegeln. Dabei betont die promovierte Juristin, dass eine Verfassungsänderung die innere Angelegenheit eines Staates sei.

Was die westliche Kritik gegen die Abstimmung in Russland anbelangt, so weist Kneissl darauf hin, dass die Berichterstattung über faktische Hintergründe hinausgehe:

Es geht letztendlich um ein Agenda-Setting. Es geht bedauerlicherweise immer mehr um Meinung, als um echte Berichterstattung.

Die ehemalige Diplomatin glaubt, dass der verfassungsrechtliche Aufbau und die innenpolitische Ordnung eines Staates heute in der internationalen Arena nicht so sehr ins Gewicht fallen. In den Vordergrund würden neuerlich Faktoren rücken wie Geografie, Geschichte und Allianzen, die die internationale Politik mitbestimmen:

Eines meiner Lieblingszitate von Otto von Bismarck ist: 'Die Geografie ist die konstante der Geschichte.' Und wir erleben seit mindestens 15 Jahren, in welchem Umfang die Geografie wieder zurückkehrt als ein Element, das die internationale Politik mitbestimmt.

Der österreichische Rechtswissenschaftler Michael Geistlinger ist der Meinung, dass die Verfassung eines Landes nicht zu oft geändert werden sollte. Gleichzeitig sieht er die Änderungen der russischen Verfassung auf einem "absolut sicheren methodischen Boden":

Zum einen geht es ganz klar um eine Kompetenzverteilungsverschiebung zwischen dem Präsidenten und dem Parlament, dem aus zwei Kammern bestehenden russischen Parlament, und zum anderen um eine sehr starke Verstärkung des Sozialstaates.

Dabei weist der außerordentliche Professor der Universität Salzburg darauf hin, dass die einzufügenden sozialen Garantien im internationalen Vergleich kaum zu finden seien.

Es ist vielen Verfassungen schon zum Vorwurf erklärt worden, dass sie bestimmte andere sogenannte Grundprinzipien, also zum Beispiel das Prinzip der Bundesstaatlichkeit oder das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ausführlich regeln, aber zum Sozialstaatsprinzip selbst nur sehr programmatische Formulierungen enthalten. Insofern würde ich diese Verfassungsänderung im weltweiten Vergleich als eine Vorreiterrolle einstufen.

Der österreichische Rechtswissenschaftler macht darauf aufmerksam, dass die russische Verfassung allgemein als eine Präsidialverfassung bezeichnet werde. Der Staatschef habe daher ein klares Machtübergewicht im Vergleich zum Parlament. Dabei sei die Kompetenzverteilung zwischen den einzelnen Organen für die Qualität einer Verfassung entscheidend:

Wenn daher in dieser Kompetenzverteilung der Präsident Kompetenzen abtritt und diese Kompetenzen an das Parlament übergeben werden, so bedeutet das einen Eingriff in die Qualität und einen kleinen Schwenk in die Richtung einer Stärkung der parlamentarischen Demokratie und des Einflusses des Parlamentes auf die Führung des russischen Staates.

Im vergangenen Jahr wurden in Russland wiederholt Vorschläge laut, dem Land eine gänzlich neue Verfassung zu geben. In seiner Ansprache an die Föderale Versammlung am 15. Januar 2020 sagte Putin, dass eine neue Verfassung seiner Meinung nach nicht erforderlich sei, da das Potenzial der bestehenden Verfassung aus dem Jahr 1993 bei weitem nicht erschöpft sei. Gleichzeitig bot er einige Novellen an und schlug vor, eine Abstimmung über die Änderungen durchzuführen.

Am 11. März wurde die endgültige Liste der Novellen von den beiden Kammern des russischen Parlaments als Gesetz verabschiedet. Am 14. März unterzeichnete Putin ein Gesetz, laut dem die Verfassungsänderungen erst nach einer allrussischen Abstimmung in Kraft treten sollen. Am 16. März urteilte das Verfassungsgericht des Landes, dass alle verabschiedeten Novellen mit der geltenden Verfassung vereinbar seien.

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