Ein puritanisches Zeitalter ist hereingebrochen – nicht das erste Mal. Krähwinklige Enge, ein pedantisches, lustfernes Denken, die Heiligung des Verzichts und die Verachtung roher Männlichkeit. In den Universitäten und in den Redaktionen der … sagen wir halbstaatlichen Medien dominiert die neue Geisteshaltung, ensteht eine neue Leitkultur. Deren Symbol ist die gouvernantenhafte Strenge der führenden Talkmasterinnen des Landes, ihre Mimik, der Faltenwurf ihrer Gesichtszüge. Als Bolzplatz dient den neuen Tugendwächtern das Internet, dessen Shitstorms jede Übertretung des eng gezirkelten Anstandskorridors mit kollektivem Hass sanktioniert.
Dass gerade der akademische Sektor und die Medien vom puritanischen Virus befallen sind, erklärt sich auch aus den Veränderungen der dort tonangebenden Milieus. Enger gezogene geistige und materielle Grenzen verbunden mit egalitären Wertvorstellungen bilden einen Humus, in dem Kleinmut eher gedeiht als Großmut. Damit ändern sich die Vorbilder. Wer sich Dinge herausnimmt, von denen andere allenfalls träumen, fällt aus der Zeit – auch Genies und Helden.
Das Haus Springer ist ein letztes Refugium der sterbenden Überzeugung: Quod licet Iovi non licet bovi. Die Götter sind abgeschafft, und die Ochsen darf man nicht mehr Ochsen nennen; das wäre politisch unkorrekt. Nur im Umfeld des Springer-Chefs Matthias Döpfner wird der alte Stil, für den der Gründer und Patriarch Axel Caesar wie ein Markenzeichen stand, auch heute noch gepflegt. Doch die Zeichen stehen auf Rückzug. Widerwillig, aber dann doch, wurde BILD-Chef Julian Reichelt dem neuen Puritanismus geopfert. Ab sofort gilt auch dort die strikte Trennung von Büro und Bett. Die Klugen haben das schon früher so gehalten (niemals mit derselben Feldpostnummer), aber heute dürfen auch die Unklugen nicht mehr. Fairerweise muss man hinzufügen, dass die neue Ordnung die Damenwelt einer Aufstiegschance beraubt. Darin liegt auch ein Opfer. Im Übrigen kann mir niemand weismachen, dass Reichelts sämtliche Bürobekanntschaften ihrem Chef nur mit Abscheu und Überwindung ins Bett gefolgt sind.
Der Puritanismus hat zwei Schwestern: die Selbstlüge und die Scheinheiligkeit. Ein Beispiel: In den USA wird der schwarze Comedian Dave Chappelle geshitstormt, weil er die privilegierte Lage weißer Homosexueller und emanzipierter weißer Akademikerinnen mit der Lebensrealiät der meisten Schwarzen vergleicht – LGBTQ und MeeToo dominieren den Zeitgeist in den hippen, weißen Vierteln, derweil die Black-Lifes-Matter-Bewegung sich in Lippenbekenntnissen erschöpft. Doch so viel Wahrheit darf nicht sein, auch nicht aus dem Mund eines schwarzen Comedians.
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Der Kampf gegen die Ostseepipeline Nord Stream 2 durch deutsche Politiker (und Journalisten) kann nur noch als schäbiges Schauspiel bezeichnet werden. Das Wort Verrat ist nicht zu hoch gegriffen. Und das gleich mehrfach. Da ist der Verrat an den Interessen der deutschen Endkunden, der Gasverbraucher. Die Preise auf Rekordniveau, der Winter vor der Tür, die Armen voller Angst vor den kommenden Monaten – doch die Grünen-Politikerin, die das Land regieren wollte, hat die Stirn, die Lieferung von zusätzlich 55 Milliarden Kubikmetern jährlich in den Wind zu schlagen. Da ist sie, die würdige Erbin einer berühmten Vorgängerin: Was brauchen wir Brot? Sollen die Leute Kuchen essen.
Außerdem möchte sie die Gasverbraucher zwingen, auch künftig einen ohne IWF- und Transit-Milliarden längst bankrotten Staat zu finanzieren. Die Ukraine. Liest man die Medien, muss es Millionen Deutsche geben, die bereit sind, für die Ukraine ihr letztes Hemd zu opfern. Da wäre es nur demokratisch und gerecht, ein Ukraine-Hilfswerk einzurichten. Jeder, der das Land unterstützen will, möge nach Belieben dort einzahlen – aber bitte nicht gezwungenermaßen als Teil der Gasrechnung.
Man überzeuge mich: Wenn das kein Verrat ist, was dann? Und das ist nicht alles. Der Widerstand gegen Nord Stream 2 ist ein Verrat auch an den Klimazielen. Bis wir unseren Energiebedarf mit Windmühlen und Sonnenkollektoren decken, wird Gas als fossiler Energieträger mit der niedrigsten CO2-Intensität zum Brennstoff der Wahl. Kohleausstieg ist gleichbedeutend mit Gaseinstieg – jedenfalls für die vor uns liegenden Dekaden. Jetzt wird es interessant: Was ist der grünen Kanzlerkandidatin wichtiger? Geostrategische US-Interessen oder die Klimarettung?
Es gibt aus deutscher Sicht nur ein einziges Argument gegen die Ostseepipeline: Dann haben uns die anderen nicht mehr lieb. Das ist so. Man misstraut den Deutschen, und nur wenn sie folgsam sind, werden sie gestreichelt. Vor allem jeder Flirt mit Russland wird mit Argusaugen verfolgt, in den USA, in Polen und im Baltikum, in England und und und. Es ist das einzige Argument gegen die Pipeline, das zählt. Alle anderen sind vorgeschoben, verlogen, verquer.
Auf lange Sicht, drei Generationen nach dem Krieg, kommt Deutschland um die Diskussion nicht herum: Was wollen wir eigentlich mit unserer Souveränität? Ewig herumzudrucksen wird uns nicht gelingen, und die Pipeline wäre ein Anlass aufzuwachen. Wer die Erlösung von der deutschen Frage in den Vereinigten Staaten von Europa sah (oder sieht), ist schon gescheitert. Die anderen wissen es nur noch nicht.
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In Russland ist der Begriff außersystemische Opposition ein gängiger Terminus. Die systemische, das ist die zugelassene Opposition: die Kommunisten und ein paar Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien. Die außersystemische verweigert sich dem Korridor der richtigen Meinungen, vor allem aber dem Kotau vor der Macht. Sie ist ein sperriger Haufen, in dem sogar eine internationale Symbolfigur wie Alexej Nawalny nur eine Teilmenge verkörpert. Da gibt es extreme Rechte, extreme Linke und jede Menge Querfronten. Nawalny gehört nicht dazu, weil er besonders liberal oder besonders demokratisch wäre (ist er nicht), sondern weil er handfesten Interessen einiger Mächtiger ins Gehege gerät.
Das Thema hier: Ist der Begriff außersystemische Opposition unter den Bedingungen der Internet-Massendemokratie – die auch in Russland herrscht – vielleicht sogar nötig, um gesellschaftliche Zustände im 21. Jahrhundert zu beschreiben? Wo ist der große Unterschied zur Vergangenheit: Jeder nimmt teil oder kann jedenfalls teilnehmen, gern auch als Anonymus. Während die repräsentative Demokratie alle wesentlichen Strömungen in ihren Parlamenten abbildet, bietet das Internet den dort zu kurz Gekommenen einen grenzenlosen Mitteilungsraum. Wo einst die Verlage ein wirksamer Filter waren, bricht sich im Internet jede beliebige Anschauung Bahn. Bildete die öffentliche Meinung in den Demokratien der Vergangenheit ein weites Spektrum ab, jenseits dessen es nur unerhörte, politische Subkultur gab, sind heute alle Meinungen öffentlich – die einen weniger, die anderen mehr gelitten. Öffentlich sind auch die völlig Ungelittenen, in Deutschland etwa die Querdenker, Verschwörungstheoretiker und Querfrontler. Wie wird mit den Ungelittenen verfahren? Sie werden geschmäht, verachtet und verbannt. Keine Talkmasterin wird den Fehler machen, sie auf ihre Couch einzuladen. Es wäre ihr letzter Fehler …
Der Begriff außersystemische Opposition ist daher durchaus auch für Deutschland passend. Da der ungelittene Teil der Öffentlichkeit unter den Bedingungen des Jahrhunderts nicht mehr zu verbergen ist, wird das System seine Vertreter abstoßen wie die weißen Blutkörperchen eine fremde, unwillkommene Zelle. Wo es nottut, auch mit autoritären Mitteln. Verbote (und ihre Verfechter) sind rasch zur Hand, wenn es um den Bestand des Ganzen geht. Und das Ganze ist das System.