von Ivan Rodionov
Katrin Göring-Eckardt fokussiert den Blick auf jemanden hinter der Kamera, hält inne. Vorgehaltene Mikrofone baumeln wartend. Dann – auf ein unsichtbares Zeichen hin – nickt sie und redet. Sie eilt über ein kurzes Staccato-Intro ("Mordversuch durch die mafiösen Strukturen des Kreml"), – prescht über die etwas hastig geschlagene Brücke ("bis hierher und nicht weiter"), – und stürmt prompt zum eigentlichen Anliegen: "Nord Stream 2 ist nichts mehr, was wir zusammen mit Russland vorantreiben sollen". Danach klatscht sie noch ein Finale hin:
Kein Wandel durch Wegschauen – nicht bei Russland von heute.
Die Choreographie mit dem unsichtbaren Taktgeber wirkt surreal und grotesk. Auch wenn es nur ein "Kamera läuft"-Zeichen gewesen sein mag.
Auf Göring-Eckardt folgt Norbert Röttgen. Ein Atlantikbrückenpfeiler auf eine Atlantikbrücken-Anbeterin. Ein Zufall, natürlich. Man kommt nur an den Mitgliedern des famosen "Sportvereins" (Zitat Göring-Eckardt) kaum vorbei, wenn man nach Sprechköpfen mit Schwergewicht in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Energie-Politik sucht. Röttgen spult das gleiche Narrativ ab. Es gehe um Werte und Moral. Nord Stream 2 müsse gestoppt werden. Die Pipeline wäre eine Belohnung für Putin.
Es ist der Nachrichten-Aufmacher des Tages – und der folgenden Tage: Das spezialisierte Bundeswehr-Labor hat in den Proben von Alexei Nawalny einen Kampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe festgestellt. Die Bundeskanzlerin verurteilt das Geschehen aufs "Allerschärfste". Russland muss sich erklären. Nur die russische Regierung kann die schwerwiegenden Fragen beantworten. Und sie muss. Die Welt wartet. Angela Merkel blickt vom Manuskript auf. Die Welt liegt ihr schwer auf den Schultern.
Nowitschok also. Putins neue Signatur. (Hat jemand etwa Zyklon B erwartet? – lästern russische Telegram-Kanäle) Der tödlichste Nervenkampfstoff der Welt, den Putin immer einsetzt, wenn er sicherstellen will, dass das Opfer lebend davonkommt und seine Diplomaten dann mit viel Tamtam ausgewiesen werden.
Zehn Tage zuvor wird Alexei Nawalny aus Omsk mit einer Spezialmaschine nach Berlin überführt. Seine bisherigen Behandlungsprotokolle und Labor-Befunde reisen mit.
Zu diesem Zeitpunkt sehen die Ärzte der Notfallklinik von Omsk zusammen mit ihren Moskauern Kollegen ihren ursprünglichen Vergiftungsverdacht durch die Labor-Befunde widerlegt. Die Proben sind unabhängig voneinander in mehreren russischen Laboren untersucht worden. Die Ergebnisse stimmen überein – und sind damit aus ärztlicher Sicht gesichert. Die vorläufigen Diagnosen richten sich auf mögliche somatische Ursachen.
Und nun sagt die Kanzlerin etwas völlig anderes. Nowitschok sei nachgewiesen worden. Punkt. Damit unterstellt sie pauschal den russischen Ärzten Betrug.
Mal vorstellen, als Gedankenspiel, Russland hätte die Bundesregierung aufgefordert, den Treppenabsturz und die tödliche Lungenembolie von Philipp Mißfelder zu erklären, unter Berücksichtigung seiner herausragenden Rolle für die deutsch-russischen Beziehungen. Oder der Russische Journalistenverband hätte von Deutschland eine transparente Ermittlung des frühzeitigen Todes des regime-kritischen Enthüllungsjournalisten Udo Ulfkotte dringlich verlangt. Man kann sich die wütende Empörungslawine ausmalen.
Das Regierungsstatement ist als ein Ultimatum formuliert. Mit dem Wissen, dass Ultimaten den weiteren Dialog enorm erschweren, wenn nicht komplett ausschließen. Kein Gegenüber lässt sich auf der staatlichen Ebene einen solchen plakativ anmaßenden Ton gefallen. Ist das die Absicht? Das Ziel? Soll Russland provoziert werden, zu mauern, sich zu verschließen?
Es ist nur eine der zahlreichen Fragen, die sich sofort nach der Erklärung der Bundesregierung aufdrängen. Die allererste: Wo ist dieser Befund aus dem Bundeswehr-Labor?
Der russische Botschafter wird ins Außenamt einbestellt. Ein drastischer Schritt. Ihm wird die Regierungserklärung vorgelesen. Als ob er diese nicht ohnehin schon kannte. Er bekommt keine Unterlagen, keine Befunde, nichts Faktisches, nichts Handfestes zu sehen, geschweige denn übergeben.
Wie ist es zu erklären, dass durch den Einsatz eines Kampfstoffes, von dem ein Gramm 250 Menschenleben auslöschen kann, im menschengedrängten Flughafen niemand sonst zu Schaden kommt? Weder im Café, wo Nawalny seinen Tee trank, noch in der Warteschlange zum Boarding, noch im Bus, wo er unbekümmert Selfies mit anderen Passagieren machte, noch im vollbesetzten Flugzeug? Weder seine Begleiter, noch seine Frau, noch der Rettungsdienst, der ihn in die Omsker Klinik brachte, noch die Ärzte, die zwei Tage lang um sein Leben kämpften – niemand. Das Supergift hat dort keine Spur hinterlassen.
Warum greifen die Kreml-Killer wieder zu einem Giftstoff, der schon einmal kläglich versagt haben soll – wenn man dem westlichen Skripal-Narrativ glaubt – und der überhaupt nur in den Netflix-Serien richtig funktioniert?
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Mal angenommen, ein Putin (als Sammelbegriff für alles Böse) wollte seinen Opponenten ausschalten. Wieso macht er den Rückzieher und lässt Nawalny retten? Warum eilten die Ärzte aus besten Moskauer Kliniken nach Omsk, wenn – wie der deutsche Mainstream es glauben machen will – in Russland ohne Putins Befehl kein Hahn krähen darf?
Warum vergiftet Putin Nawalny mit einer unverkennbaren Substanz – und lässt ihn dann nach Deutschland ausfliegen? Und wie kann es sein, dass niemand außer einem Bundeswehr-Labor diese Substanz detektiert? Und warum hat es zehn Tage seit der Ankunft in Deutschland gedauert – und niemand hat in der Zwischenzeit an Schutzvorkehrungen gedacht? (Fußnote: die Briten waren deutlich schneller, oder waren die innenpolitischen Probleme Theresa Mays nur noch dringlicher?)
Wozu sollte Putin Nawalny vergiften? Wegen der anstehenden Kommunalwahlen? Echt jetzt? Bei den bisherigen Wahlen war Nawalny ihm keine Gefahr. Wegen seines Youtube-Kanals? Den gibt es schon seit mehr als 7 Jahren, warum ist es Putin erst jetzt aufgefallen? Und warum nimmt er einen Haufen weitere, nicht minder reichweitenstarke Kanäle so gelassen hin, die an der russischen Regierung kein gutes Haar lassen?
Nawalnys zweifelsohne teuer und professionell produzierte Filme bauen lange nicht auf Recherchen offener Quellen und auf investigativem Geschick allein. Sensible Unterlagen, Einblicke in Dateien und Dokumente, die er präsentiert, lassen gewisse Informanten und Unterstützer in höheren Positionen ahnen. Kurzum: Nawalny ist längst ein Teil des oppositionellen Establishments. Zynisch gesagt, sein vertrautes Tun und Treiben schaden den "Machthabern" viel weniger, als sein knapp abgewendeter Tod geschadet hätte. Dazu noch ein so dämlich theatralischer.
Warum bleiben die Angebote der Ärzte aus Omsk an die Charité-Kollegen, die russischen und die deutschen Proben miteinander abzugleichen, unbeantwortet?
Warum lässt das deutsche Justizministerium die Anfrage der russischen Generalstaatsanwaltschaft unbeantwortet? Die Behörde untersucht den Vorfall im Rahmen einer sogenannten "vorläufigen Überprüfung", also einer Vorstufe zu einer kriminalistischen Ermittlung. Diese kann in Russland aus formalen Gründen nicht eingeleitet werden, weil es bislang an Anhaltspunkten für den Verdacht einer "Vergiftung äußeren Ursprungs" fehlt. Wenn die Deutschen diese Anhaltspunkte haben, warum teilen sie dies nicht mit den Russen?
Und die brennendste Frage: warum stellt niemand diese so evidenten, so elementaren Fragen in Deutschland? Warum werden sie im öffentlichen Diskurs regelrecht tabuisiert und warum wird im Gegenteil jeder Zweifel an den offiziellen Verlautbarungen als Verdrehung, Vertuschung und Ablenkung denunziert?
In der eingedampften Substanz stehen nun Aussage gegen Aussage und Befund gegen Befund (der russische liegt öffentlich vor, dem deutschen gebührt ein Vertrauensvorschuss). Und wenn sich die beiden widersprechen, kann das hierzulande – alternativlos – nur eines bedeuten: der Russe lügt.
Schließlich hat der Kreml in der Vergangenheit seine Gegner schon oft vergiftet. Genauer gesagt, wird das behauptet. Beweise gab es nie, weil der Kreml sie angeblich verhindert hat. So schließt sich der argumentative Kreis im deutschen Mainstream.
Am Ende ist es eine Glaubenssache. Wer daran glaubt, dass ein Putin einen Nawalny punktuell mit Nowitschok tötet…, ähm, halb tötet, um ihn einzuschüchtern, weil ihn dessen Youtube-Kanal nervt und das Ganze mit den Kommunalwahlen zusammenhängt, der lässt sich diesen Glauben durch keinerlei Fakten zerstören.
Eines aber muss Putin dringend machen: jedem seiner halbwegs bekannter "Kritiker", jedem "Kreml-Gegner" und einigermaßen prominenten Oppositionellen einen Rund-um-die-Uhr-Personenschutz anbieten. Denn der Fall Nawalny zeigt, wie gefährlich sie leben: als potenzielle "weiche Ziele" in undurchschaubaren Windungen der Geopolitik, wo über die Bande gespielt wird und am Ende eine unfertige Gas-Pipeline liegt.
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