von Ulrich Heyden, Moskau
Das muss man den großen deutschen Medien und den führenden Politikern lassen: Sie verstehen es, Stimmungen zu erzeugen, bei denen selbst gestandene Linke wie der Grüne Jürgen Trittin kleinmütig werden und im antirussischen Mainstream mitschwimmen wollen.
Am Dienstag erschien bei Spiegel-Online ein groß aufgemachtes Video-Interview mit dem Grünen-Politiker. In dem Interview behauptet Trittin, Putin habe "die Kontrolle über Russland" verloren. Er habe "sein Versprechen gebrochen, Russland Stabilität zu bringen".
Der Beweis: Der Oppositionsführer Alexei Nawalny sei vergiftet worden. Spuren für eine Vergiftung konnten die Ärzte im sibirischen Omsk zwar nicht finden. Und auch die Ärzte der Berliner Charité vermuten bisher nur eine Vergiftung und können keine exakten Angaben machen, geschweige denn den Tatablauf erklären. Doch eine Vermutung deutscher Ärzte reicht deutschen Politikern allemal, um scharfe Maßnahmen gegen das "Regime Putin" zu fordern.
"Linke" als Kronzeugen
Wenn Linke oder solche, die mal Linke waren, für "deutsche Interessen" im Ausland eintreten, bekommen sie von den deutschen Medien eine große Bühne. Warum? Linke gelten im pazifistischen Teil der deutschen Bevölkerung als glaubwürdig, glaubwürdiger zumindest als CDU-Politiker. Man erinnert sich, wie Joseph Fischer 1999 den Einsatz der Bundeswehr in Jugoslawien mit "Auschwitz" rechtfertigte.
Stimmungsmache gegen "reiche Russen"
In dem Spiegel-Interview fordert Trittin, die Immobilien von "korrupten russischen Politikern" wie dem ehemaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew in Italien und anderen Ländern der EU "zu beschlagnahmen". Die entsprechenden Beweise für Immobilien russischer Bürger, die mit "Schwarzgeld" finanziert wurden, habe Nawalny ja bereits vorgelegt.
Die Unschuldsvermutung gilt nach Meinung von Trittin für reiche Bürger Russlands offenbar nicht. Nach deutschem Recht erfordert die Unschuldsvermutung, dass der einer Straftat Verdächtigte oder Beschuldigte nicht seine Unschuld, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine Schuld beweisen muss.
Trittin will reiche Russen "wie Neuköllner Clans behandeln"
Trittin befindet sich mit seiner populistischen Forderung nach der Beschlagnahmung russischen Eigentums in Deutschland und anderen europäischen Ländern also nicht auf dem Boden der deutschen Gesetze.
In dem Spiegel-Online-Interview sagt Trittin wörtlich:
Vielleicht ist es ja angemessen, die Arbeit von Alexei Nawalny auch hier in Europa – das kann man nur europäisch machen – auch hier in Europa zu würdigen. Er hat ja aufgedeckt, wie dort das Geld, was man sich dort angeeignet hat, in Immobilien, in Vermögen in Europa versenkt worden ist. Warum behandeln wir solche Vorwürfe, die gegen Herrn Medwedew erhoben wurden, nicht genauso wie illegal erworbenes Geld von Neuköllner Clans, indem wir diese Liegenschaften schlicht und ergreifend konfiszieren und sagen, könnt ihr morgen früh wiederhaben, wenn ihr sauber nachweist, dass ihr das mit sauberen Methoden erworben habt. Das wäre eine klare Antwort und das wäre auch ein Zeichen des Respekts vor der aufklärerischen Arbeit von Alexei Nawalny.
Deutscher Hochmut
Seitdem die Sowjetunion aufgelöst wurde und es keine Parteibürokraten und Generalsekretäre mehr gibt, über die die deutschen Medien spotten können, verbreiten die Medien neue Vorurteile über "die Russen". Diese sind rüpelhaft, versoffen, vulgär, und wer reich ist, hat es bestimmt auf krummem Wege erworben. Die Forderung von Trittin, Eigentum reicher Russen zu konfiszieren, passt perfekt in das Bild über "die Russen".
Diese Vorurteile über "die Russen" sind jedoch nichts weiter als rassistisch, weil nur negative Eigenschaften benannt werden. Dieser Rassismus bedient den Hochmut vieler Deutscher, die meinen, sie könnten auf Russland herabgucken, weil sie Bürger einer "Kulturnation" sind. Deutschland sei Russland wegen seiner technischen Leistungen, wegen der "vorbildlichen" Aufarbeitung der Hitler-Zeit, des internationalen Einsatzes für Menschenrechte und Flüchtlingshilfe haushoch überlegen.
Es ist erschreckend, dass ein führendes Mitglied der "antirassistischen" Grünen in die antirussische Gosse abrutscht und sich Stereotype zunutze macht, um Wählerstimmen einzusammeln und sich bei CDU/CSU anzubiedern.
Unvorstellbar: Ein russischer Politiker, der vom "Regime Merkel" redet
Der Hochmut, mit dem deutsche Politiker und Medien Russland gegenübertreten, wird auch an den Hasstiraden gegen das "Regime Putin" und angeblich vom Kreml befohlene "Auftragsmorde" sowie der Behauptung deutlich, "Putin hat von allem gewusst".
Leider denkt niemand darüber nach, welche Narben dieser Hochmut in den Seelen der Russinnen und Russen hinterlässt.
Es ist den Russen hoch anzurechnen, dass sie auf primitive Russophobie und Vorurteile nicht mit gleicher Münze antworten. Für mich ist das ein Zeichen von Kultur.
Es gab in den letzten 30 Jahren keinen einzigen Fall, dass ein bekannter russischer Politiker über das "Regime Kohl" oder das "Regime Merkel" hergezogen ist, auch nicht als Deutschland in Jugoslawien Krieg führte. Moskau beschränkte sich mit harter Kritik immer auf Washington. Deutschland blieb verschont.
Den vorsichtigen Stil der russischen Politik gegenüber Deutschland deuten deutsche Politiker und Medien offenbar als Schwäche, um sich in der Position des Lehrmeisters zu gefallen. Wie kurzsichtig gegenüber einem Land mit einer tausendjährigen Geschichte!
Was man über Angela Merkel in Russland nicht liest
Kein bekannter russischer Politiker verstieg sich bisher zu der Aussage, Angela Merkel habe "die Kontrolle über Deutschland verloren". Die Beweise lägen auf der Hand: Im KSK und der Bundeswehr gebe es rechtsradikale Zellen, und in der Stadt Hanau habe ein Rechtsradikaler ein Massaker an Migranten verübt.
Ein russischer Politiker könnte sich bei solch einer Erklärung nicht auf Mutmaßungen stützen, sondern auf Fakten, die selbst von der deutschen Verteidigungsministerin und dem deutschen Innenminister eingestanden werden. Aber kein russischer Politiker versteigt sich zu Schlussfolgerungen, wie sie Trittin über Putin zieht.
Warum klagt Trittin Poroschenko nicht an?
Es stellt sich die Frage, warum der Grüne Trittin beim Kampf gegen die Korruption so starr nach Russland guckt und keine Maßnahmen gegen die Korruption unter hohen Politikern in der Ukraine fordert.
2016 war bekannt geworden, dass dem damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko geheime Firmen in Offshore-Zonen gehören. Auf diese Weise versteckte er sein Einkommen vor der ukrainischen Steuerbehörde. Gründe für Maßnahmen gegen Poroschenko gäbe es allemal. Unter dem ehemaligen Präsidenten der Ukraine wurden kritische Journalisten als "von Russland gesteuert" verfolgt und zur Flucht ins Ausland gezwungen. Poroschenko ist mitschuldig am Tod von 13.000 Menschen. Denn während seiner Amtszeit führten die ukrainische Armee und rechtsradikale Freiwilligenbataillone einen grausamen Krieg gegen den abtrünnigen Donbass.
Man stelle sich vor, Trittin, Norbert Röttgen, der Spiegel und die taz würden Aufklärung über die zahlreichen Fälle der Verfolgung Andersdenkender in der Ukraine fordern, sie würden sich öffentlich mit dem ukrainischen Journalisten Ruslan Kotsaba solidarisieren, der wegen eines Aufrufs zur Kriegsdienstverweigerung von Februar 2015 bis Juni 2016 sechzehn Monate in einem ukrainischen Gefängnis saß und in Kiew von ukrainischen Nationalisten schon mehrmals tätlich angegriffen wurde.
Man stelle sich vor, die großen deutschen Medien hätten darüber berichtet, als ukrainische Nationalisten den ukrainischen Fernsehkanal 112 im Juni 2019 mit Granaten beschossen, weil der Fernsehkanal einen kritischen Film des US-Regisseurs Oliver Stone über den Staatsstreich in der Ukraine ausstrahlen wollte.
Man stelle sich vor, deutsche Politiker hätten protestiert, als ukrainische Nationalisten 2016 den ukrainischen Fernsehkanal Inter wegen angeblicher "prorussischer Positionen" in Brand steckten.
Die Ukraine ist so etwas wie ein "befreites Gebiet"
Auf Solidarität deutscher Politiker mit Andersdenkenden und eingesperrten Journalisten in der Ukraine kann man lange warten. Die Ukraine gilt deutschen Politikern als "befreites Gebiet". In der Ukraine hat Russland nichts mehr zu sagen. Ein großer Erfolg der westlichen Politik! Von daher wird man den Teufel tun, Kiew zu kritisieren oder von Kiew etwas zu fordern, selbst wenn dort schon ein westlich orientierter liberaler Journalist wie Pawel Scheremet mutmaßlich von ukrainischen Nationalisten mit einer Autobombe ermordet wurde.
Schwarz-grüne Kreuzritter bereiten Regierungskoalition vor
Zwischen der CDU und den Grünen gibt es in der Außenpolitik keine Unterschiede. Trittin und Röttgen schlagen in Bezug auf das "Regime Putin" den gleichen scharfen Zungenschlag an. CDU und Grüne könnten eine Regierungskoalition der neuen deutschen Kreuzritter und Heuchler bilden. Schon jetzt bilden sie im virtuellen Kampf gegen die "autoritären Herrscher" in Minsk und Moskau eine Front. Der Unterschied zu den Kreuzrittern im 11. Jahrhundert ist nur, dass auf den Schildern der neuen Ritter kein Kreuz, sondern das Euro-Zeichen prangt. Diese Währung steht für deutsche Wertarbeit, aber auch für Niedriglöhne, Verarmung und deutsche Großmannssucht.
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