von Ulrich Heyden, Moskau
Mascha ist Designerin. Bis zur Corona-Quarantäne am 30. März arbeitete die zart gebaute 45-Jährige als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft. Seit einer Woche hat Mascha nun eine leicht erhöhte Temperatur von 37,5. Sie hat Angst, dass sie sich mit dem Coronavirus infiziert hat. Als sie in ihrer südöstlich von Moskau gelegenen Kleinstadt Schukowski den Arzt aus der Poliklinik zu sich nach Hause rief, hörte der Arzt sie ab und erklärte, ihre Lunge sei "sauber". Mascha, die über Atembeschwerden klagte und ein Druckgefühl im Brustkorb hat, wollte einen Corona-Test machen, aber der Arzt aus der Poliklinik sagte zu ihr: "Tests haben wird nicht."
Ob sie nicht eine gründlichere Untersuchung machen wolle, einen Corona-Test oder eine Computertomographie der Lunge, fragte ich Mascha. Der Test in einer privaten Klinik koste 25 Euro und eine Computertomographie wahrscheinlich 60 Euro, antwortete sie. Dieses Geld habe sie nicht. Meine Bekannte bekommt für die Zeit ihrer häuslichen Quarantäne kein Gehalt, muss aber zwei Töchter ernähren. Ihr Ex-Mann zahlt nur unregelmäßig Alimente.
Im Gespräch mit Mascha merke ich, dass sie verzweifelt ist. Ihre Unsicherheit wird verstärkt durch Nachrichten aus dem Bekanntenkreis. Eine 50 Jahre alte Freundin, die ebenfalls in der Kleinstadt Schukowski wohnt, hat seit Tagen trockenen Husten, 38,5 Grad Fieber und schmeckt nichts mehr. Der Arzt der Poliklinik habe sie abgehört und keine Anzeichen für eine Krankheit festgestellt. Er lehnte es ab, die Freundin ins Krankenhaus einzuweisen, "obwohl sie mit ihrer Tochter zusammenwohnt, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hat", empört sich Mascha.
Und es gibt noch einen Fall, der Mascha Sorgen macht. Ein 50 Jahre alter Bekannter von ihr starb vor einigen Tagen. Er wurde wegen einer Lungenentzündung und erhöhter Temperatur von den Ersthelfern ins Krankenhaus gebracht. Doch der Bekannte verließ das Krankenhaus auf eigene Faust, ging zur Arbeit und hatte Kontakt mit seiner Familie. Als Todesursache sei die Lungenentzündung angegeben worden. Niemand hat die Familie des Verstorbenen auf eine Corona-Infektion überprüft. Das sei doch sehr merkwürdig, meint Mascha.
Eine Woche auf ein Testergebnis gewartet
Die Nachrichtensprecher im russischen Fernseher berichten täglich von einer steigenden Zahl an Corona-Tests. Doch in russischen Zeitungen tauchen jetzt Berichte auf, in denen Menschen schildern, wie schwer es ist, einen Test zu machen. Ein gewisser Dima, Mitarbeiter der Boulevardzeitung Komsomolskaja Prawda, berichtete seinem Blatt, es habe eine Woche gedauert, bis er einen Test für Mitglieder seiner Familie organisieren konnte. Und noch mal eine Woche dauerte es, bis man das Ergebnis hatte, das eine Infektion auswies.
Wladimir Putin hat am Dienstag in einer Ansprache an die Bevölkerung erklärt, in der Corona-Krise stehe man jetzt "vor der schwierigsten Etappe im Kampf gegen die Epidemie. Die Gefahr, sich zu infizieren, steigt auf das Maximum". Der Präsident ordnete an, die Quarantänemaßnahmen bis zum 11. Mai zu verlängern. Die Zahl der Infizierten in Moskau habe innerhalb einer Woche um 70 Prozent zugenommen, von 26.000 auf 45.000, erklärte der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin am 28. April. Die Zahl der Moskauer, die mit der Diagnose Coronavirus im Krankenhaus liegen, sei auf 17.000 gestiegen.
Moskau ist nach wie vor Hotspot Nr. 1. In Russland sind bisher 972 Menschen am Coronavirus gestorben, davon 546 Menschen in der Hauptstadt. Für den 28. April meldete die Moskauer Stadtverwaltung die Rekordzahl von 67 Corona-Toten.
In Russland sind bis Mittwoch 99.399 Menschen am Coronavirus erkrankt. Aber immerhin, es gibt auch positive Nachrichten: 10.286 am Coronavirus Erkrankte wurden geheilt. Auf der Liste der am stärksten von dem Virus betroffenen Staaten steht Russland auf Platz acht.
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Zahl der Infizierten vermutlich höher als offiziell angegeben
Kritiker meinen, die Zahl der Infizierten sei viel höher als offiziell angegeben. Der Journalist und Video-Blogger Maksim Schewtschenko, der von 2012 bis 2019 Mitglied des Rates für Menschenrechte beim russischen Präsidenten war, vermutet, dass es unter der einen Million Arbeitsmigranten in Moskau, die Hochhäuser und andere Infrastrukturprojekte bauen und die oft nicht ordnungsgemäß registriert seien, viele nicht bekannte Infizierte gibt.
Die Regierung hat zwar viel Geld für den Kampf gegen den Virus bereitgestellt, aber immer noch mangelt es an dem Einfachsten.
Igor Korotschenko, Chefredakteur der russischen Zeitung Nationale Verteidigung, twitterte am 27. April: "Wo sind die Masken in den Apotheken????"
Ich kenne Korotschenko aus russischen Fernseh-Talkshows. Er ist kein Panikmacher, sondern ein kühler Analytiker. Aber auch diese brauchen in diesen Tagen Masken und werden in Moskauer Apotheken nur sehr selten fündig.
Ich selbst suchte in den Apotheken meines Wohnbezirks vergeblich, bis ich vor drei Wochen in einem Haushaltswarengeschäft die letzten fünf Masken kaufte. Neue Masken wurde dort bisher nicht angeliefert.
Auf die Twitter-Anfrage des Chefredakteurs antwortete eine Frau, die Masken lägen in den Regalen des Großhandels. "Man muss sie wie Drogen über sieben Vermittler suchen. Und die Preise sind verrückt. Man macht auf unlautere Weise Geld damit. Wo sind die Ermittlungsorgane?"
Die Suche nach Betten für COVID-19-Kranke
Wegen der steigenden Zahl der COVID-19-Kranken werden jetzt überall im Land Krankenhäuser für die Aufnahme entsprechender Patienten umgerüstet. Das "Haus der Geburten" in der Kleinstadt Schukowski, wo bisher Kinder zur Welt kamen, hat hundert Betten und wurde bereits für die Aufnahme von Corona-Infizierten umgerüstet. Geburtshilfe für die Frauen aus Schukowski müssen jetzt Geburtshäuser in Nachbarstädten im Moskauer Gebiet leisten.
Da das ehemalige Geburtshaus mit COVID-19-Kranken schon ausgelastet ist, hat die Chefärztin des einzigen Krankenhauses der Kleinstadt Schukowski sich nun bereit erklärt, das Krankenhaus mit seinen 400 Betten ebenfalls komplett für die Aufnahme von COVID-19-Patienten aus dem Moskauer Umland umzurüsten. Das stößt auf Kritik. Aktivisten meinen, es gebe andere Gebäude in der Kleinstadt, die man umrüsten könne. Das Argument der Chefärztin: Das Krankenhaus sei "nicht ausgelastet", und die Zahl der Corona-Infizierten steige mit jedem Tag. Und was wird aus den Patienten aus Schukowski, die nicht mit dem Coronavirus infiziert sind, fragen die Kritiker. Die sollen in das Krankenhaus der zehn Kilometer entfernten Stadt Rjamenskoje gebracht werden, heißt es von offizieller Seite.
"Unbeschreibliche Schmerzen"
Dass die anfangs geschilderten Erlebnisse von Mascha aus der Kleinstadt Schukowski kein Einzelfall sind, zeigt der Videobericht Schewtschenkos. Das Video, in dem er von seiner eigenen, dramatisch verlaufenen Corona-Erkrankung erzählt, wurde 3,2 Millionen Male angeklickt.
Als er am 30. März 39 Grad Fieber hatte, sei er telefonisch zur Ersten Hilfe kaum durchgekommen. 40 Minuten habe er in der Warteschleife mit Musik im Hörer gewartet. Keiner der Ärzte, die ihn dann untersuchten, habe es für möglich gehalten, dass er mit dem Coronavirus infiziert ist. Das Abhören der Lunge habe keine akustischen Hinweise auf eine Krankheit gegeben. Schewtschenko berichtet, er habe insgesamt fünf Corona-Tests gemacht, aber eine Corona-Infektion sei nicht festgestellt worden.
Da er "unbeschreibliche Schmerzen" und hohes Fieber gehabt habe, sei er schließlich dem Rat eines Bekannten gefolgt und habe eine Computertomographie seiner Lunge machen lassen. In die Moskauer Stoliza-Klinik sei er aber erst gekommen, nachdem er mit Tabletten sein Fieber gedrückt habe. Die Tomographie habe das erschreckende Ergebnis gebracht, das er eine beidseitige Lungenentzündung hatte, und er sei sofort in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Inzwischen geht es ihm leidlich.
So viel hat der Blogger Schewtschenko mit seinem Video zumindest erreicht: Er hat bekannt gemacht, dass die Computertomographie der Lunge ein sicheres Mittel ist, um das Coronavirus festzustellen. Das war eine wichtige Neuigkeit, denn nur die Hälfte der in Russland positiv Getesteten hat COVID-19-Symptome wie Fieber oder Husten.
Gesundheitsbereich für eine Pandemie nicht gerüstet
Die Corona-Pandemie offenbarte mit einem Schlag gravierende Schwächen der russischen Gesundheitsversorgung. In den letzten 15 Jahren wurden in Russland nach Angaben der Nesawisimaja Gaseta 4.000 Krankenhäuser im Rahmen eines Programms zur "Optimierung" geschlossen und die Zahl der Krankenhausbetten um 400.000 reduziert. Im Dezember 2019 gestand die stellvertretende Ministerpräsidentin Tatjana Golikowa ein, dass sich die Gesundheitsversorgung "stark verschlechtert" habe.
Der Blogger Schewtschenko stellt angesichts der nicht ausreichenden Betten für COVID-19-Kranke in einem Video bohrende Fragen. Der Blogger fragt, warum es nicht möglich ist, eine ausreichende Anzahl von Krankenhäusern für Katastrophen – wie die jetzige Pandemie – in Bereitschaft zu halten. Warum wurden in Moskau nicht ausreichend und rechtzeitig Krankenhäuser umgerüstet, um Menschen mit Infektionskrankheiten aufzunehmen? Warum wurde in der Rekordzeit von nur einem Monat das neue Infektionskrankenhaus beim Dorf Woronowskoje südwestlich vom Moskauer Stadtzentrum aus dem Boden gestampft? Das Krankenhaus werde nach der Pandemie doch leerstehen, meint Schewtschenko. Seiner Meinung nach verdienen sich am Krankenhausneubau Beamte und Unternehmer eine goldene Nase. Denn bei solchen Großaufträgen fließen immer Schmiergelder, sogenannter "Otkat", insbesondere, wenn sie schnell abgewickelt werden müssen.
Ein anderer bekannter Blogger, Konstantin Sjomin, zeigte in einem seiner Videos einen Auftritt des Moskauer Bürgermeister Sobjanin vom Dezember 2019, in dem dieser erklärt, nur wenn Krankenhäuser zusammengelegt werden, könnten die Gehälter der Ärzte von 900 auf 1.700 Euro erhöht werden. Derselbe Bürgermeister sucht nun händeringend nach ausreichend freien Krankenhausbetten in Moskau, um für alle Fälle gewappnet zu sein.
Heldenhafter Einsatz von Ärzten und Krankenschwestern
Die Corona-Krise in Russland führt auch vor Augen, dass das medizinische Personal nicht ausreichend auf hygienische Schutzmaßnahmen vorbereitet wurde. In Moskau, Sankt Petersburg, der Kleinstadt Schukowski und anderen Städten werden immer wieder Fälle gemeldet, in denen große Teile des medizinischen Personals infiziert sind. Einige der Infizierten – so liest man im Internet – arbeiten trotzdem weiter. Wer will schon Lohneinbußen hinnehmen?
Die Ärzte und Krankenschwestern sind zweifellos Helden. Die Ansteckungsgefahr ist groß, die Arbeitsbedingungen extrem. Von einer Ärztin hörte ich, dass sie während ihrer Zwölfstundenschichten im Krankenhaus Windeln trägt, weil es ein zu großer Aufwand ist, den Corona-Schutzanzug, der unter bestimmten hygienischen Bedingungen angezogen wird, nur für eine Toilettenpause auszuziehen und dann wieder anzuziehen.
Flashmob am 9. Mai
Wegen der Quarantäne wird einer der wichtigsten russischen Feiertage, die Feiern zum Sieg über Hitlerdeutschland am 9. Mai – nur in kleinerem Rahmen stattfinden. Die Militärparade auf dem Roten Platz sagte Putin am 16. April ab. Hubschrauber und Kampfflugzeuge der russischen Luftwaffe werden aber am 9. Mai über den Stadtzentren von zwölf Städten im europäischen Teil Russlands Formationsflüge veranstalten.
Statt des alljährlichen Marsches "Unsterbliches Regiment", bei dem Angehörigen von Frontsoldaten des Zweiten Weltkrieges mit den Porträts ihrer Angehörigen durch die Städte demonstrieren, wird es dieses Jahr einen Flashmob geben. Der bekannte 86 Jahre alte Schauspieler Wassili Lanowoi hat vorgeschlagen, dass die Bürger am 9. Mai auf ihre Balkons gehen und dort das in Russland sehr bekannte Lied "Tag des Sieges" singen.
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