Von "Umweltsäuen" und kollektiver Hysterie

Susan Bonath

Shitstorm, Dauerentrüstung und Morddrohungen nach einem missglückten Kinderliedchen: Warum beides Ausdruck für verdrängte Widersprüche, Angst und Projektion ist. Ein Kommentar unserer Gastautorin Susan Bonath.

von Susan Bonath 

Teile meiner Stadt gleichen seit Neujahr einem Müllcontainer. Flaschen, Scherben, Glitzer, Pappschachteln, Plastikhülsen, Papierschlangen, übelriechendes Erbrochenes: All die Hinterlassenschaften der Umweltsäue vom Silvesterfeuerwerk werden noch lange die Straßen zieren. Die Stadtreinigung macht Urlaub. 

Die Umweltsau hat den Jahreswechsel überlebt. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Im echten Leben gehören ihre Entgleisungen zur deutschen Tradition. Ein provokantes Kinderliedchen aber, ausgestrahlt vom öffentlich-rechtlichen WDR, das geht mal gar nicht. Die gigantische Empörungswelle darüber hat es sogar bis ins neue Jahr geschafft. Man kann getrost von einer kollektiven wahnhaften Entgleisung sprechen, die jeder Beschreibung des Alltags in psychiatrischen Akutstationen spottet. Angestachelt hat sie ein rechter Online-Mob, der nicht erst seit gestern Empörung produziert und für sich nutzt.

Man steht da und bekommt den Mund vor Staunen nicht mehr zu: Da singt ein Kinderchor eine umgedichtete Version des Kinderlied-Klassikers "Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad". Die fiktive Oma darin wird zur Umweltsau erklärt, die mit ihrem SUV Opas überfährt, täglich Discounterfleisch isst und Kreuzfahrten unternimmt.

Oma-Protest in Springerstiefeln

Man muss das nicht gut finden. Aber Erwachsene, die deshalb derart ausrasten, wie nun zu sehen ist, haben offenbar ein tiefer sitzendes Problem. Kaum hatte der WDR den Klamauk veröffentlicht, brach ein von rechtsextremen Netzwerken organisierter Shitstorm los. Jeder Journalist, der diesen Leuten nicht nach dem Mund schreibt, weiß inzwischen, wie so etwas abläuft. Doch Intendant Tom Buhrow knickte völlig unprofessionell ein. Er entfernte das Hassprodukt und fiel damit seinem freien Mitarbeiter in den Rücken. Er hätte wissen können: Das Video dreht weiter seine Runden, die Hasskampagne geht weiter.

Ja, dann ging es erst richtig los: Empörte "Omas" – nicht wenige von ihnen mit Springerstiefeln, Glatzen und einem Aufnäher der rechtsradikalen "Bruderschaft Deutschland" an der Jacke – marschieren vor der WDR-Zentrale auf. Journalisten werden mit Morddrohungen bombardiert. Eine Sondersendung wird produziert. Hinz und Kunz aus der Politik geben ihren Senf dazu. Tagelang! Zum Thema Oma, Hühnerstall, SUV und so weiter. Wird es bald einen Brennpunkt zu "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" geben, weil sich alle Schwiegermütter dadurch beleidigt fühlen? Man fasst sich an den Kopf.

Individualisierte Symptome

Die neurotische "Oma-Gate-Hysterie", mit der Deutschland in die 2020er-Jahre gestartet ist, spiegelt indes genauso beispielhaft den entfremdeten Zustand unserer Gesellschaft wider wie der Inhalt der WDR-Dichtung, den man auch ignorieren könnte. Deren Text individualisiert in bekannter kleinbürgerlicher Manier die gigantische Umweltzerstörung durch die profitgetriebene kapitalistische Produktionsweise. Er sucht die Schuld allein bei Lohnarbeitskraft-Verkäufern, die die fiktive Oma verkörpert.

Das ist so falsch, wie es trotzdem Wahrheiten enthält. Denn die Profitmaschine wird am Laufen gehalten durch ebendiese Mitläufer. Die stecken freilich in Widersprüchen fest: Man braucht einen Arbeitsplatz zum Überleben, auch wenn er Umweltsau-Konzernen dient. Man muss Grundbedürfnisse befriedigen, auch wenn sie umweltschädlich produziert wurden. Andererseits nahmen es die meisten Omas und Opas, Mütter und Väter widerspruchslos hin, als Plastiktüten den Planeten überschwemmten. Nur zum Beispiel.

Die Jugend gegen träge Bewahrer

Fakt ist: Viele Erwachsene haben sich eingerichtet. Sie sehen ungeniert zu, wie die Müllberge wachsen, wie Kriege um Öl und andere Ressourcen, woran auch die Rüstungsindustrie hängt, den Planeten überziehen. Sie wehren sich nicht gegen den Zerstörungsfeldzug der Großkonzerne. Sie blicken teilnahmslos auf die vom Kapital vorangetriebene Klimakatastrophe, die schon jetzt zu Wasser- und Nahrungsmangel, Verteilungskriegen, Hungerkatastrophen, Verelendung und Flüchtlingen führt. Sie laufen einfach mit.

Es ist nicht zu leugnen: Viele Ältere sind einfach zu trägen Bewahrern eines immer unhaltbareren Ist-Zustandes mutiert. Auch ehemalige 68er. Schon immer hat sich die Jugend gegen sie aufgelehnt. Je offensiver ein solcher Konflikt ausgetragen wird, desto progressiver könnte das Ergebnis sein. Nein, "die Alten" haben nicht immer Recht, gleichwohl es "die Alten" nicht gibt. 

Die Hilflosigkeit hinter dem Durchdrehen 

Das kollektive panische Ausrasten hat seinen Ursprung wahrscheinlich in den Widersprüchen, die das System erzeugt. Im Kapitalismus geht es nicht ums Sein. Es geht ums Haben, wie schon der Psychoanalytiker Erich Fromm einst bemerkte. "Haben" durch Aufsteigen im Job, Aufsteigen durch Anpassen, Anpassung an fremdbestimmte Arbeit zum einzigen Zweck des Lohnerwerbs, mag sie einem auch unsinnig oder schädlich erscheinen. Groß ist die Angst vor Verlust. Verlust heißt heute Abstieg.

Die Widersprüche sind so immanent, so symptomreich, so krisendynamisch zunehmend, dass sie kaum stillschweigend ignoriert werden können. Ein Ausweg aber scheint nicht in Sicht. Die hilflose Psyche wehrt sich. Man flüchtet in jene kollektive Verantwortungslosigkeit, die die Herrschenden vorleben. Man schreit, tobt, blockiert, wütet, projiziert. Feindbilder liefern die politischen Fraktionen, die um die Macht ringen.

Verdrängung des Sichtbaren

Die völlig abstruse Hysterie um ein Kinderchorlied ist letztlich der Ausguss verdrängter und bekämpfter Widersprüche in einem System, in dem von sich selbst entfremdete Statusakrobaten verzweifelt und immer rabiater um die Futtertröge drängen. Und nicht zuletzt steckt darin auch der Kampf um Deutungshoheit in Sachen Klimakrise. Dort zeigt sich das gleiche Bild:

Die einen warnen. Sie präsentieren Forschungsergebnisse, die alles andere als eine rosige Zukunft versprechen. Und die Gefahr ist schon lange zu sehen: Die Temperatur steigt, die Gletscher schmelzen, reiche Küstenstädte erhöhen ihre Dämme wegen der wachsenden Flutgefahr, arme können das nicht.

Die Wüsten breiten sich aus, die Zahl der Hungernden und an Wasserknappheit Leidenden nimmt zu. Hitzewellen mit Temperaturen bis zu 50 Grad Celsius überziehen ganze Landstriche, aktuell Australien. Doch während dort Buschbrände nie dagewesenen Ausmaßes immer mehr Opfer fordern, sorgt Premierminister Scott Morrison für mehr Arbeitsplätze in gigantischen Kohleminen. Es ist verrückt.

Morrison gehört zur Fraktion der anderen, der wütenden Ignoranten, die tagein, tagaus "Klimakirche!" schreien. Wilde Verschwörungstheorien, ausgedacht von Thinktanks der Ölgiganten mit Namen wie Heartland Institute oder EIKE, kursieren im Netz. Wer darauf anspringt, glaubt offenbar, dass es im Kapitalismus erst seit gestern darum geht, Profite einzutreiben. Vielleicht weiß er aber einfach nicht, dass es bei den allermeisten Kriegen der letzten 100 Jahre um Öl ging, keineswegs um Windräder und CO2-Zertifikate. Und dass die Waffenschmieden ohne Öl nichts produzieren könnten.

Den Widersprüchen stellen

Es verwundert daher nicht, dass die sogenannten "Klimaskeptiker" viel lauter, viel hysterischer sind als die angeblichen Panikmacher der angeblichen "Klimakirche". Da ihre "Argumente" teils seit Jahren widerlegt sind und sie keinerlei Beweise außer Bauchgefühle bringen, muss hinter dem Geschrei etwas anderes stecken.

Es wäre gut, wenn wir uns einfach einmal den Widersprüchen stellen würden. Beide Seiten. Die menschengemachte Klimakrise ist genauso wahr wie die vermüllten Ozeane und die Tatsache, dass Kapitalismus von Kapital kommt. Kapital ist investiertes Geld zum Zweck der Profitmaximierung. Sonst nichts. Demzufolge ist es nichts Neues, dass Kapitalisten im Kapitalismus alles zu Geld machen, was ihnen zwischen die Finger kommt. Natürlich gehören dazu auch Windräder und CO2-Zertifikate. Daraus zu schließen, man solle sich dann einfach der Zerstörung ergeben, ist irrational. Wer das nicht will, muss rationalerweise den Kapitalismus bekämpfen.

Es ist auch so schwer nicht zu verstehen: Ein System, dessen einziger irrationaler Selbstzweck es ist, Maximalprofit für die Eigentümer der Wirtschaft zu generieren, muss irgendwann die Umwelt für uns Lebewesen irreparabel zerstören. Wir sind ein Teil dieser Umwelt, und kollabiert sie, gehen wir mit drauf. Wollen wir erhalten, was uns zerstört? Das wäre Wahnsinn.

Nur eins ist sicher: Ein Wandel wird nicht von den Mächtigen und ihren gut bezahlten Fürsprechern kommen. Er kann nur kollektiv von unten durchgesetzt werden. Er wird für die einen mit Gewinn, für die anderen mit Verlust einhergehen. Bei gutem Management vor allem mit dem Verlust an Macht und Illusion.

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