von Susan Bonath
Marktökonomen haben ihre Jubelprognosen für Deutschland gedämpft. Seit Mitte 2018 stagniert das Wirtschaftswachstum. Die Denkfabrik der Bundesagentur für Arbeit (BA), das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), spricht von einer "konjunkturellen Schwächephase". Und wie gehabt, setzt es weiter auf den Niedriglohnsektor und darauf, dass Jobcenter Hartz-IV-Bezieher weiterhin mit Sanktionen in diesen nötigen. Man dürfe die Strafen nicht abschaffen, warnte das IAB nun in einer Mitteilung mit Blick auf ein bevorstehendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG).
Existenzrecht gegen Wohlverhalten
Jobcenter kürzen oder streichen ihren Klienten jährlich rund eine Million, wenn sie eine Auflage nicht einhalten. Bei einem versäumten Termin gibt es drei Monate lang zehn Prozent weniger. Bei allen anderen "Vergehen" sind die Strafen härter. 15- bis 24-Jährigen wird sofort der Regelsatz gestrichen, wenn sie zu wenige Bewerbungen schreiben oder ein Jobangebot ablehnen. Beim zweiten Mal fällt auch der Mietzuschuss weg. Ältere werden in Stufen von 30 und 60 Prozent bestraft. Beim dritten "Pflichtverstoß" droht ihnen eine Totalsanktion.
Das Problem: Hartz IV ist offiziell als Existenzminimum deklariert. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hatte zudem bereits mehrfach nachgewiesen, dass selbst diese Summe kleingerechnet wurde. Diverse Ausgaben armer Haushalte aus den Bereichen Bildung, Kinderspielzeug oder Imbissverpflegung ließ die Bundesregierung herausrechnen. Kürzungen dieser Existenzsicherung könnte das BVerfG in den kommenden Wochen oder Monaten zumindest teilweise für verfassungswidrig erklären.
Bereits am 15. Januar hatte es dazu öffentlich verhandelt. Wie BVerfG-Sprecher Max Schoenthal auf Anfrage der Autorin mitteilte, berät der Erste Senat noch immer darüber. Offenbar tut man sich schwer, abschließend zu urteilen. "Ein Verkündungstermin ist noch nicht absehbar", sagte er. Und: Über den Inhalt wolle Schoenthal nicht vorab spekulieren. Sollten die Karlsruher Richter aber etwas zu beanstanden haben, würden "etwaige Fristen zur Umsetzung durch den Senat im Urteil bestimmt", erläuterte er.
Entscheiden müssen die Verfassungsrichter über eine Beschlussvorlage des Sozialgerichts Gotha. Die Thüringer Kammer erklärt darin Sanktionen auf das Existenzminimum als Verstoß gegen die Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und die freie Berufswahl. Sie kämen harten Strafen gleich und führten zu extremer materieller Not, Obdachlosigkeit, Hunger und medizinischer Unterversorgung, heißt es in der Vorlage. Um ihnen zu entgehen, müssten sich die Menschen ihr Existenzrecht durch Wohlverhalten erkaufen.
IAB: "Hartz-IV-Sanktionen müssen spürbar und sozial sichtbar sein"
Das IAB wertet es andersherum. Zwang sei nötig, weil sonst "Arbeits- und Bildungsanreize verloren gehen". Dies wären "gravierende negative Folgen". Mit anderen Worten: Menschen müssten mittellos gemacht werden und in solche Not gedrängt werden, dass ihnen nichts anderes übrigbleibt, als sich zu jedweden Bedingungen dem Kapitalverwertungsprozess zu unterwerfen. Die Forscher des BA-Instituts drücken es so aus: "Sanktionen müssen spürbar und sozial sichtbar sein."
Dennoch räumte das IAB ein. "Sehr weitreichende Kürzungen, wie die nach mehreren Pflichtverletzungen drohenden Totalsanktionen, verschlechtern in massiver Weise die materiellen Lebensbedingungen der Menschen." Dabei sorgten sich die Experten aber nicht um die Betroffenen und die sozialen Folgen für die Gesellschaft. Vielmehr gefährdeten Sanktionen "damit die Voraussetzungen für die Mitwirkung bei einer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt." Übersetzt: Wer mit dem Überleben und gegen Hunger und Kälte kämpfen muss, hat keine Zeit und Kraft für Bewerbungen oder einen Job.
Schließlich versucht das IAB, wie aus der Politik bekannt, erwerbstätige Nicht-Leistungsbezieher gegen Erwerbslose und Aufstocker auszuspielen. "Letztlich laufen die Ansätze auf eine stärkere Alimentierung nicht Erwerbstätiger zulasten der aktiven Bevölkerung hinaus", formulieren sie. Damit lasten sie das systemische Problem, wonach nicht nur sämtliche Unternehmensprofite, sondern auch Staatseinnahmen letztlich vom Erlös durch produktive Arbeitsleistung abgeschöpft werden, jenen an, die aus irgendeinem Grund nicht im Arbeitsmarkt Fuß fassen können.
BSG-Präsident warnt vor "Einmischung in staatliche Gewaltenteilung"
Der Fall, der dem Urteil zugrunde liegt, geschah bereits 2014. Einem Mann hatte das Jobcenter Erfurt den Regelsatz von damals 391 Euro zuerst für drei Monate um 30 Prozent auf 273 Euro, dann um 60 Prozent auf 156 Euro gekürzt. Er hatte ein Angebot für einen Job und eins für eine Maßnahme ausgeschlagen. Die erste Beschlussvorlage der Gothaer Sozialrichter von 2015 hatte das BVerfG 2016 wegen eines "Formfehlers" abgewiesen. Die Thüringer Kammer verhandelte erneut und legte den Fall 2016 wieder in Karlsruhe vor.
Das bringt die Verfassungsrichter in die Bredouille. Immerhin sind Strafkürzungen des Minimums seit 2005 im neuen Sozialgesetzbuch II enthalten. Und Jobcenter praktizieren sie massenhaft. Im Jahr 2017 waren fast eine halbe Million Hartz-IV-Bezieher von knapp einer Million Sanktionen – also teils mehrfach – betroffen. Darüber hinaus wird diese Praxis auch im Asylbewerberrecht durchgesetzt und ist bei der Sozialhilfe, etwa bei Erwerbsminderung oder Behinderung, ebenfalls möglich.
So rechtfertigte nun etwa Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts (BSG), die Sanktionen: In einem am 25. März in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung(FAZ) erschienenen Interview warnte er vor einem Aussetzen dieser Praxis. Wenn Karlsruhe entscheide, dass Sanktionen menschenunwürdig seien, erklärte er, "kann jeder Mittellose eine Grundsicherung vom Staat verlangen – und zwar bedingungslos." Dies sei nicht zu rechtfertigen und würde faktisch "ein bedingungsloses Grundeinkommen" bedeuten. Damit würden sich die höchsten Richter in die staatliche Gewaltenteilung einmischen, wetterte Schlegel weiter.
Sanktionsbefürworter relativieren Folgen
Dann relativierte der BSG-Präsident: Ohnehin sanktionierten Jobcenter Betroffene nur dann zu 30, 60 oder 100 Prozent, wenn Leistungsbezieher eine zumutbare Arbeit oder Maßnahme ablehnten. Und diese könnten dann Sachleistungen beantragen.
Was Schlegel verschwieg: Erstens gibt es lediglich Gutscheine für Lebensmittel, in Einzelfällen speziell für Hygieneartikel. Zweitens müssen diese umständlich beantragt werden und sind nur bei bestimmten Supermärkten einlösbar. Drittens können damit Miete, Strom, Fahrkosten und sonstige Rechnungen nicht bezahlt werden. Viertens gibt es sie erst ab einer Sanktion von mehr als 30 Prozent und maximal, bei einer Vollsanktion, im Wert von einem halben Regelsatz. Menschliche Grundbedürfnisse, wie Wohnen, Energie und soziale Teilhabe, bleiben ungedeckt.
Das Kleinreden des Ausmaßes staatlicher Bestrafungsorgien ist politisches Programm. Stets ist davon die Rede, dass es nur drei Prozent der Leistungsbezieher treffe. Laut einer Antwort der Bundesregierung an die Linksfraktion waren im vorvergangenen Jahr aber 8,3 Prozent betroffen. Heißt: 5,52 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter durchliefen das Hartz-IV-System und 457.000 dieser wurden 953.000-mal sanktioniert.
Es trifft vor allem psychisch Kranke
Zudem gibt es mehrere Studien, die den Zusammenhang zwischen Obdachlosigkeit, Krankheit, medizinischer Unterversorgung und gar Hunger einerseits und den Sanktionen andererseits klar herausstellen. So kamen im Februar 2017 die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages etwa zum Ergebnis, dass vor allem hohe Sanktionen gegen junge Menschen derart drastische Auswirkungen häufig produzierten. Es treffe dabei besonders oft Jugendliche und Erwachsene mit multiplen psychischen Problemen. Die harten Strafen verstärkten diese noch um ein Vielfaches.
Laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sind in Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen obdachlos – Tendenz steigend. Zehntausende davon kampieren auf der Straße. Weitere aktuelle Studien gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der Hartz-IV-Bezieher unter psychischen Erkrankungen leidet. Von letzteren sind auch zunehmend Beschäftigte betroffen, wie jüngst aus einer Antwort des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) an die Linksfraktion hervorgeht. So haben sich die Krankentage aufgrund solcher Diagnosen von knapp 48 Millionen im Jahr 2007 auf mehr als 100 Millionen im vorvergangenen Jahr mehr als verdoppelt.
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