von Susan Bonath
Wer hätte das noch vor 28 Jahren gedacht? Im wiedervereinten Deutschland 2018 boomt die private Armenfürsorge. Immer mehr materiell abgehängte Menschen konkurrieren bei den Tafeln um aussortierte Lebensmittel. Überforderte Helfer sprechen von einem Verdrängungswettbewerb. So auch in Essen, wo der jüngste Entschluss, keine Ausländer mehr aufzunehmen, nicht nur für moralische Furore sorgte.
Er rückte das Thema Tafeln in den Fokus. Rund 1,5 Millionen Menschen sind im Land der Exportüberschüsse auf Essensspenden angewiesen – Tendenz steigend. Regierungssprecher Steffen Seibert findet das nicht dramatisch. Im Gegenteil: Auf Nachfrage von RT Deutsch lobte er den angeblichen Ausbau des Sozialstaats.
Die Tafeln, bekräftigte Seibert während der Bundespressekonferenz, seien Ausdruck bürgerschaftlichen Engagements, das dankenswerter Weise den vermeintlich großzügigen Sozialstaat ergänze. Mehr noch: Das Netz der privaten Fürsorge-Einrichtungen mit inzwischen über 2.000 Ausgabestellen sei "eine Tradition, auf die wir durchaus stolz sein dürfen".
Hartz IV als Grundlage für größten europäischen Niedriglohnsektor
Irgendwie klingt das wie eine energische Aufforderung, die von "Einheitskanzler" Helmut Kohl versprochenen blühenden Landschaften doch bitteschön endlich wahrzunehmen. Oder wahlweise auch des nackten Kaisers Kleider. Welche Tradition meint Steffen Seibert eigentlich? Die klösterlichen Almosen an Bettler im späten Mittelalter? Die Arbeitshäuser vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein? Das lässt der Sprecher offen, versichert allerdings: Die Armutsbekämpfung sei "eine der wichtigsten Aufgaben jeder Bundesregierung".
Betroffene und Tafelhelfer dürften sich gleichermaßen verwundert die Augen reiben. Waren es etwa nicht die Bundesregierungen der vergangenen Jahrzehnte, die mit Hartz IV inklusive Sanktionsapparat den größten europäischen Niedriglohnsektor erst möglich gemacht haben, während sie Großkonzernen und Finanzkapital mit Steuergeschenken und sonstigen Zuwendungen einen Boom nach dem anderen bescherten? Waren es etwa nicht die Regierenden, die die Bundeswehr im NATO-Verbund in Angriffskriege geschickt und mit dafür gesorgt haben, dass Menschen erst flüchten mussten? Tun sie nicht alles dafür, um das Kapital in den Händen der Reichen zu mehren, so dass unten immer weniger zum Verteilen bleibt?
Tritt Steffen Seibert eigentlich ab und zu vor die Tür des herrschaftlichen, gut geheizten Gebäudes der Bundespressekonferenz? Direkt am gegenüber liegenden Ufer der Spree mehren sich Jahr für Jahr die Zelte der Obdachlosen. Die Bundesregierung hat das Elend direkt vor der Tür. Entweder sie übersieht es, oder aber es ist ihr völlig egal, solange niemand dagegen aufmuckt. Will man den Verantwortlichen im Berliner Regierungspalast derartige Blind- und Taubheit nicht zutrauen, muss man Letzteres vermuten.
Die Folgen des Regierungsversagens können nicht die Tafel-Helfer ausbügeln
Im Fall Essen ist es, wie bei anderen Tafeln mit begrenztem Zugang, völlig unerheblich, wer sich irgendwann vielleicht nicht benommen hat wie erwartet. Der Skandal ist es, dass im reichen Deutschland Millionen Menschen um Essensspenden betteln müssen, während ein kleiner Teil im Luxus schwelgt und Milliardenprojekte in den Sand gesetzt werden. Ja, man muss es betteln nennen, denn keine Tafel ist verpflichtet, jedem zu helfen. Schon gar nicht sind die Ehrenamtlichen dafür ausgebildet, mit psychischen und physischen Problemen als Folgen der Armut umzugehen. Und sie alleine sollen in der Geldgesellschaft des 21. Jahrhunderts die von Staat und Wirtschaft angerichteten Verwerfungen managen?
Nun, Betroffene und Verärgerte könnten Seiberts Worte im Auftrag einer seit Monaten amtierenden Bundesregierung auch anderes begreifen: als Aufruf zur Solidarität untereinander – unabhängig von der Herkunft. Es sieht nämlich ganz und gar nicht danach aus, als würde die kommende Regierung irgendetwas an den sozialen Missständen ändern wollen. Im Gegenteil.
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