von Susan Bonath
Wer hätte das gedacht? Wer mit Hartz-IV-Sanktionen unter das Existenzminimum gedrückt wird, landet besonders oft in einer Spirale aus Niedriglohnjobs und wiederkehrender Erwerbslosigkeit. Derlei Bestrafungen wirken sich langfristig negativ auf die behördlich anvisierte "Integration in den Arbeitsmarkt" aus. Das fand das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sage und schreibe 16,5 Jahre nach Einführung von Hartz IV in einer Langzeitstudie heraus.
Demnach nehmen Sanktionierte zwar etwas schneller eine neue Arbeit auf als nicht Sanktionierte. Vermutlich um der Mittellosigkeit zu entkommen, landen sie allerdings öfter in prekären Jobs, die schlecht bezahlt sind und unter ihrer Qualifikation liegen. Da diese Arbeitsverhältnisse oft befristet sind, werden die früheren Hartz-IV-Bezieher auch öfter wieder arbeitslos. Fünf Jahre nach der Sanktion sei bei ihnen die Wahrscheinlichkeit signifikant höher, schlecht entlohnt zu werden oder wieder erwerbslos zu sein. Die IAB-Autoren sprechen von einer "geringeren Beschäftigungsstabilität".
Auf die angestrebte "Integration in den Arbeitsmarkt" wirkten sich diese Leistungsminderungen negativ aus, so die Forscher. Sie schlussfolgern:
"Bei der Anwendung von Sanktionen besteht also tendenziell ein Zielkonflikt zwischen schneller und nachhaltiger Beschäftigungsintegration."
Nun wollen sie ihre Ergebnisse über noch längere Zeiträume sowie für verschiedene Gruppen überprüfen. Immerhin: Diese offensichtlich so schnell nicht endende Geschichte sichert zumindest den IAB-Wissenschaftern die Arbeitsplätze.
IAB "begrüßt" von Betroffenen hart erkämpftes Karlsruher Urteil
Die neuen Erkenntnisse, wonach sich Kürzungsstrafen negativ auf die Vermittlung von Hartz-IV-Beziehern auswirken, veranlasste die Autoren keineswegs dazu, für ein Ende dieser Praxis zu werben. Jedoch "begrüßten" sie ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom November 2019. Das hatte alle Kürzungen von mehr als 30 Prozent als "derzeit verfassungswidrig" eingestuft. Die Bundesregierung musste alle höheren Kürzungen umgehend aussetzen. Dies galt zugleich für das Asylbewerber-Leistungsgesetz, in dem ebenfalls höhere Sanktionen festgelegt worden sind. Entsprechend geändert hat sie die Gesetze bisher aber nicht.
Um ein solches Urteil hatte zuvor eine Initiative um den Berliner Ralph Boes jahrelang gekämpft. Erst 2015, mehr als zehn Jahre nach der Einführung des repressiven Gesetzes, wandte sich ein Thüringer Sozialgericht an das BVerfG. Danach dauerte es noch einmal viereinhalb Jahre, bis der Fall eines Mannes, der erst eine dreimonatige Kürzung um 30, dann 60 Prozent erhalten hatte, bis die Karlsruher Richter entschieden.
Vor diesem Urteil herrschte ein noch strengeres Sanktionsregime. Lehnte ein Betroffener ein Jobangebot ab, wies er nicht genügend Bewerbungsschreiben nach oder verstieß gegen andere Auflagen wie die Pflicht zur Ortsanwesenheit, kürzten die Jobcenter unter 25-Jährigen in der Regel die Leistungen sofort für drei Monate um 100 Prozent. Bei einem zweiten "Vergehen" innerhalb eines Jahres fiel auch der Mietzuschuss weg. Die Bestraften konnten lediglich Lebensmittelgutscheine als sogenannte Kann-Leistung beantragen.
Über 25-Jährige wurden in Etappen bestraft: Erst kürzten ihnen die Behörden die Leistungen um 30, dann um 60 Prozent. Bei der dritten "Pflichtverletzung" stampften sie die gesamte Leistung für drei Monate ein. Dabei entfiel dann auch der Krankenversicherungsschutz, Betroffene rutschten zusätzlich in eine Schuldenspirale bei ihrer Kasse.
Aktuell erhält ein alleinstehender Hartz-IV-Bezieher 446 Euro pro Monat plus eine "angemessene Miete". Partner bekommen je 401 Euro, Behinderte in Einrichtungen und unter 25-Jährige 357 Euro, 14- bis 17-jährige Jugendliche 373 Euro. Kindern unter sechs Jahren gewährt der Staat 283 Euro, für Sechs- bis 13-Jährige gibt es 309 Euro. Die Regelsätze für Asylbewerber sind geringer: 364 Euro gibt es für Alleinstehende, je 328 Euro für Partner. Die Bezüge für Kinder und Jugendliche staffeln sich je nach Alter von 247 Euro (Kleinkind) bis 323 Euro pro Monat (Jugendliche).
Frühere Studien: Hungersanktionen, die krank machen
Die IAB-Experten weisen auch darauf hin, dass zuvor bereits mehrere Studien negative Auswirkungen von Sanktionen nahelegten. Abgesehen davon, dass solche Erkenntnisse auch ohne Studien naheliegen, gab es diese tatsächlich zuhauf. 2017 stellten sogar die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in einer Analyse verschiedener Studien unter anderem fest:
"Die Sanktionen führten zu einer mangelhaften Ernährung. In einem Fall sprach die Person explizit von zeitweisem Hungerleiden. Aber auch die weiter oben bereits aufgeführten Einsparungen bei Arzt und Medikamenten resultierten aus den fehlenden Einnahmen. Durch die Sanktionen hervorgerufene Schuldgefühle führten bei einem Befragten zu einer psychischen Störung und einer chronischen Krankheit; bei einem weiteren Interviewten wurde die bereits bestehende Existenzangst, wegen der er bereits in Behandlung war, weiter verstärkt."
Hinzu kamen demnach vor allem bei jungen Betroffenen häufig Zwangsräumungen mit folgender Obdachlosigkeit und dauerhafte Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit. Aus anderen Studien ging beispielsweise hervor, dass die Sanktionspraxis dem Niedriglohnsektor massiv auf die Sprünge geholfen habe. Dies war 2003 bei der Vorstellung der Agenda 2010, die die sogenannten Hartz-Gesetze beinhaltet, auch erklärtes Ziel des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD).
Forscher: Besser eine "milde Peitsche"
Die IAB-Forscher plädieren nun für ein abgeschwächtes Strafregime: Sanktionen müssten sein, um die "Erwerbsintegration" zu fördern, erklären sie sinngemäß. Die Strafen dürften dabei aber die Beschäftigungsqualität nicht über Gebühr mindern, so ihre Schlussfolgerung.
Die Linksfraktion im hessischen Landtag lobte indes am Montag die "neue" Erkenntnis der Arbeitsmarktforscher, wonach Sanktionen eine wirksame Integration in Erwerbsarbeit behindern.
"Wer massiven Druck aufbaut, um Menschen in irgendwelche Maßnahmen, Minijobs oder Leiharbeit zu zwingen, schafft zwar schöne Vermittlungszahlen, aber auch massive Drehtüreffekte", erklärte deren sozialpolitische Sprecherin Christiane Böhm.
Damit sei "nun selbst vonseiten der Befürwortenden das letzte angebliche Argument für die Sanktionslogik im Sozialrecht hinfällig". Böhm forderte, was die Linkspartei seit Beginn von Hartz IV fordert: eine bedarfsorientierte und sanktionsfreie Mindestsicherung, die über der relativen Armutsschwelle von insgesamt 1.180 Euro im Monat liegen müsse. Zur Debatte steht das im Bundestag derzeit aber nicht.
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