von Susan Bonath
Sind die Fixkosten bezahlt, reicht es oft kaum für das Nötigste zum Leben: Immer mehr Menschen machen im deutschen Dauerlockdown diese Erfahrung. Ein Gradmesser sind die Tafeln. "Wir sehen immer mehr Menschen, die durch die Pandemie in eine existenzielle Notlage geraten sind", erklärte Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Tafel Deutschland, in einer Mitteilung.
Kurzarbeiter in Not
Demnach verzeichnen fast 40 Prozent der 950 Tafeln jeweils meist mehreren Ausgabestellen einen hohen bis sehr hohen Zuwachs an "Kunden". Vor allem Kurzarbeiter suchten immer häufiger die Tafeln auf. Nach Schätzungen des Ifo-Instituts München waren im April 2021 noch immer 2,7 Millionen Menschen auf Kurzarbeitergeld angewiesen. Zum Vergleich: In der letzten Wirtschaftskrise lag der Höchststand Anfang 2009 bei 1,44 Millionen Kurzarbeitern.
Diese Leistungen zu berechnen, ist Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit (BA). Ein Sprecher der Behörde sagte vor einigen Wochen im Gespräch mit der Autorin, dieses Thema binde sehr viel Personal. Man habe viele befristete Arbeitsstellen dafür geschaffen, auch einen Teil der Beschäftigten aus der Statistik-Abteilung habe die BA dafür abgezogen.
"150 Euro sind ein Witz"
Seit dem Herbst, so Brühl, habe sich die Lebenssituation vieler Menschen weiter zugespitzt. Ganze Branchen lägen lahm, Ersparnisse seien aufgebraucht, versprochene staatliche Hilfen flössen spärlich oder kämen viel zu spät. Niedrige Renten reichten angesichts steigender Preise immer weniger zum Leben. Stark angestiegen seien auch die Anzahl erwerbsloser Tafelgänger. Dies zeige, so der Verbandsvorsitzende, dass die Regelsätze das Mehr an Ausgaben nicht mehr deckten. "Die einmalige Sonderzahlung von 150 Euro nach einem Jahr Pandemie ist ein Witz", kritisierte Brühl.
Zugleich erlebten die vor allem ehrenamtlichen Tafelmitarbeiter eine paradoxe Situation, erläuterte er weiter. Viele Menschen blieben trotz dringenden Bedarfs der Tafel seit Pandemie-Beginn fern – aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Und: Fast die Hälfte der im Verband organisierten karitativen Einrichtungen habe Probleme, genügend Lebensmittel zu organisieren. Dort wird es nun enger für die wachsende Zahl von Bedürftigen.
Zusätzlich erschwerend wirkten sich pandemiebedingte Vorschriften und Einschränkungen aus. 86 Prozent aller Einrichtungen beklagten eine enorme Arbeitsbelastung, die etwa dazu führe, das Ehrenamtliche ausfielen. Immerhin, betonte Brühl, seien fast drei Viertel der Freiwilligen selbst im Rentenalter. So fielen sonst vielerorts nebenher bereitgestellte Angebote, etwa für Kinder aus armen Familien, weg. Inzwischen suchten mehr als 1,6 Millionen Menschen regelmäßig eine Tafel auf – Tendenz steigend. Und die Dunkelziffer an Bedürftigen ist offenbar viel höher.
Karitatives Wohltätertum statt staatlicher Absicherung
Darüber hinaus klagte rund die Hälfte der Verbandstafeln über steigende Kosten und sinkende Spenden. Geld benötigen die Einrichtungen beispielsweise für die Wartung ihrer Fahrzeuge, die Beschaffung von Kühlschränken oder Ausgaben für Benzin, Strom und Raummieten. Die Lebensmittel sind deshalb auch nicht kostenlos für die Bedürftigen. Zwischen zwei und fünf Euro wird fällig pro Person und Lebensmittelration. Wer etwas bekommen will, muss seine Bedürftigkeit in aller Regel mit Lohnzetteln oder einem Bescheid von der Arbeitsagentur, dem Jobcenter oder der Rentenversicherung belegen.
Das Netz der Tafeln könnte man inzwischen als eine Art expandierendes Recycling-Unternehmen bezeichnen. Supermärkte und andere Läden sparen sich Entsorgungskosten für abgelaufene oder lädierte Waren und lassen, was sie sonst wegwerfen müssten, von den Einrichtungen abholen. Für die Supermarkt-Ketten und den Staat hat das Nebeneffekte: Erstere können sich als karitative Wohltäter präsentieren, letzterer scheint sich derweil schleichend aus der Verantwortung zu stehlen, dem wachsenden verarmten Teil der Gesellschaft die Grundversorgung zu sichern.
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