Das System am toten Punkt: Wie "Joker" gnadenlos die Krankheiten unserer Zeit aufzeigt

Slavoj Žižek

Es hagelt Kritik von allen Seiten: Die Joker-Verfilmung von Todd Phillipps stifte zu Gewalt an. Doch viele übersehen, dass der Film noch eine andere Botschaft transportiert: Die Hoffnungslosigkeit in der "besten aller Welten". Und genau das macht ihn so interessant.

von Slavoj Žižek

Wir sollten Hollywood und dem Publikum zu zwei Dingen gratulieren: Erstens, dass ein solcher Film, der, seien wir ehrlich, ein sehr düsteres Bild des hochentwickelten Kapitalismus vermittelt, ein albtraumhaftes Bild, das einige Kritiker sogar dazu brachte, ihn als "sozialen Horrorfilm" zu bezeichnen, überhaupt herauskam. Und zweitens: Normalerweise haben wir Sozialfilme, die soziale Probleme darstellen, und dann haben wir Horrorfilme. Diese beiden Genres zusammenzubringen, ist nur möglich, wenn viele Phänomene in unserem täglichen gesellschaftlichen Leben zu Phänomenen werden, die zu Horrorfilmen gehören.

Noch interessanter ist es zu sehen, wie die Reaktionen auf den Film schemenhaft die politischen Zusammenhänge in den USA repräsentieren. Auf der einen Seite hatten die Konservativen Angst, dass dieser Film zur Gewalt anregen könnte. Es war eine absurde Behauptung. Durch diesen Film wurde keine Gewalt ausgelöst. Im Gegenteil, der Film zeigt Gewalt und macht auf die Gefahr von Gewalt aufmerksam.

Wie immer befürchteten einige politisch korrekte Menschen, dass der Film rassistische Klischees verwenden und Gewalt feiern würde. Ein ungerechter Vorwurf. Eine der interessantesten Positionen zu dem Film war die von Michael Moore, einem linken Dokumentarfilmer, der den Film als ehrliche Darstellung der Realität jener Armen feierte, die in den USA ausgeschlossen sind und keine Gesundheitsversorgung haben.

Seine Idee ist, dass der Film erkläre, wie Joker-Figuren entstehen können. Es sei eine kritische Darstellung der Realität in den USA, die Menschen wie Joker zur Welt bringe. Ich stimme ihm zu, aber ich möchte auch etwas weiter gehen.

"Am toten Punkt des Nihilismus"

Ich denke, was wichtig ist, ist, dass die Figur des Jokers am Ende, wenn er sich mit seiner Maske identifiziert, eine Figur des extremen Nihilismus, der selbstzerstörerischen Gewalt und eines verrückten Lachens über die Verzweiflung anderer ist. Es gibt kein positives politisches Projekt.

Wir sollten "Joker" so lesen, dass er sehr weise darauf verzichtet, ein positives Image zu vermitteln. Eine linksgerichtete Kritik an "Joker" hätte sein können: "Ja, es ist eine gute Darstellung der Realität in den armen Slums der USA, aber wo ist die positive Kraft? Wo sind demokratische Sozialisten, wo organisieren sich die einfachen Menschen?" In diesem Fall wäre es ein ganz anderer und ziemlich langweiliger Film gewesen.

Die Logik dieses Films ist, dass er es den Zuschauern überlässt, dies zu tun. Der Film zeigt eine traurige soziale Realität und den toten Punkt einer nihilistischen Reaktion. Am Ende ist der Joker nicht frei. Er ist nur in dem Sinne frei, dass er bis zum totalen Nihilismus gelangt.

Es liegt an uns zu entscheiden, was wir tun sollen

Ich vergleiche die Figur des Jokers auf eine bestimmte Art mit Kasimir Malewitsch, dem russischen Avangardisten, der das berühmte Gemälde "Das Schwarze Quadrat" malte. Es ist eine Art minimaler Protest – eine Reduktion auf das Nichts. Joker verspottet einfach jede Autorität. Es ist destruktiv, es fehlt ein positives Projekt. Wir müssen diesen Weg der Verzweiflung gehen.

Es reicht nicht aus, das Spiel der Machthaber zu spielen. Das ist die Botschaft von "Joker". Die Tatsache, dass sie, wie Bruce Waynes Vater in diesem neuen Film, karitativ sein könnten, ist nur ein Teil des Spiels. Man muss all diese liberalen Dummheiten loswerden, die die Verzweiflung der Situation verschleiern.

Doch es ist nicht der letzte Schritt, sondern eine Nullrunde, um den Tisch zu räumen und den Raum für etwas Neues zu öffnen. So lese ich den Film. Es ist keine endgültige dekadente Vision. Wir müssen durch diese Hölle gehen. Nun liegt es an uns, weiter zu gehen.

Sozialer Weckruf

Die Gefahr, nur die Hintergrundgeschichte zu erklären, besteht darin, eine Art rationale Erklärung zu geben, dass wir die Figur des Jokers verstehen sollten. Aber Joker braucht das nicht. Joker ist in gewisser Weise ein kreativer Mensch. Der entscheidende Moment im Film für seine subjektive Veränderung ist, wenn er sagt:

Ich dachte immer, mein Leben sei eine Tragödie. Aber jetzt merke ich, dass es eine Komödie ist.

Komödie bedeutet für mich, dass er sich an diesem Punkt in all seiner Verzweiflung als komische Figur akzeptiert und die letzten Zwänge der alten Welt loswird. Das ist es, was er für uns tut. Er ist keine Figur, die man nachahmen kann. Es ist falsch zu denken, dass das, was wir gegen Ende des Films sehen – Joker, der von anderen gefeiert wird – der Beginn einer neuen emanzipatorischen Bewegung ist. Nein, es ist der ultimative tote Punkt des bestehenden Systems; eine Gesellschaft, die sich auf ihre Selbstzerstörung konzentriert.

Die Eleganz des Films besteht darin, dass er den nächsten Schritt, eine positive Alternative zu ihm aufzubauen, für uns überlässt. Es ist ein dunkles nihilistisches Bild, das uns erwecken soll.

Sind wir bereit, uns der Realität zu stellen?

Die Linken, die sich von dem Film "Joker" gestört fühlen, sind sogenannte "Fukuyama-Linke"; also diejenigen, die der Meinung sind, dass die liberal-demokratische Ordnung die bestmögliche Ordnung ist, und die denken, dass wir sie einfach nur toleranter machen sollten. In diesem Sinne ist heute jeder ein "Sozialist". Bill Gates sagt, er sei für den Sozialismus, Mark Zuckerberg sagt, er sei für den Sozialismus.

Die Lektion von "Joker" ist, dass eine radikalere Veränderung notwendig ist; dass dies nicht ausreicht. Und das ist es, was all diese demokratischen Linken nicht sehen. Diese Unzufriedenheit, die heute aufkommt, ist ernst. Das System kann damit nicht mit allmählichen Reformen, mehr Toleranz oder besserer Gesundheitsversorgung umgehen.

Dies sind Zeichen für die Notwendigkeit eines radikaleren Wandels.

Die wahre Frage ist, ob wir bereit sind, die Hoffnungslosigkeit unserer Situation wirklich zu erleben. Wie Joker selbst zu einem bestimmten Zeitpunkt im Film sagte: "Ich lache, weil ich nichts zu verlieren habe, ich bin niemand."

Es gibt hier auch ein cleveres Namensspiel. Jokers echter Familienname im Film ist Fleck. Und ein Fleck ist bedeutungslos. Es ist wie eine Anamorphose. Wir müssen einen anderen Blickwinkel wählen, um eine neue Perspektive zu sehen.

Ich vertraue diesen linken Kritikern nicht, die Angst vor dem Potenzial des Films haben. Wie Moore sehr schön gesagt hat, hast du Angst vor Gewalt im Film, nicht vor der echten Gewalt in unserem täglichen Leben. Von der im Film dargestellten Gewalt schockiert zu sein, ist nur eine Flucht vor dieser echten Gewalt.

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