von Slavoj Žižek
Der offensichtlichste Faktor im anhaltenden Konflikt zwischen Kanada und Saudi-Arabien ist das groteske Missverhältnis zwischen Ursache und Wirkung. Dabei löste ein kleiner diplomatischer Protest eine Reihe von Maßnahmen aus, die beinahe schon einen militärischen Konflikt ankündigen.
Passiert ist folgendes: Saudi-Arabien erlaubt Frauen endlich das Autofahren, verhaftet jedoch gleichzeitig Frauen, die sich für dieses Recht eingesetzt hatten. Unter den verhafteten friedlichen Aktivisten war Samar Badawi, die Familienangehörige in Kanada hat. Daraufhin forderte Ottawa ihre Freilassung.
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Im Gegenzug erklärte die saudische Regierung diesen Protest zu einer verwerflichen Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten und verhängte sofort Sanktionen. Dazu gehörten die Ausweisung des kanadischen Botschafters, die Annullierung der Flüge der staatlichen Fluggesellschaft von und nach Kanada, das Einfrieren neuer Geschäfte und Investitionen, der Verkauf von Vermögenswerten in Kanada, der Rückzug von Studenten und die Rückholung von Patienten, die sich in Kanada in Behandlung befinden.
Und das alles unter der Führung eines Kronprinzen, der sich als großer Reformer ausgibt.
Keine Skrupel
In Wirklichkeit ist das, was wir haben, ein klares Zeichen dafür, dass Saudi-Arabien das bleibt, was es ist: Kein echter Staat, sondern ein großes Mafia-Unternehmen, das von einer Familie geführt wird und sich verwerflich in die inneren Angelegenheiten des Jemen einmischt und die Nation buchstäblich ruiniert.
Die Botschaft, gleichzeitig Frauen Autos fahren zu lassen und diejenigen zu verhaften, die dies gefordert hatten, ist klar und eindeutig, da gibt es keinen Widerspruch: Wenn es zu kleinen Veränderungen kommt, müssen diese von oben kommen und es wird kein Protest von unten toleriert.
Ebenso gibt es eine absurde Überreaktion bei den saudischen Gegenmaßnahmen zu Kanadas Protestnote und auch hier ist die Botschaft klar: Kanada hat es falsch verstanden. Es hat so getan, als ob wir noch in der Zeit der universellen Menschenrechte lebten.
Die Tatsache, dass Ägypten und Russland – ja selbst die USA und Großbritannien, die als große Beschützer der Menschenrechte gelten – Saudi-Arabien bei seinen Maßnahmen unterstützten oder beschlossen haben, sich aus dem Streit herauszuhalten, macht deutlich, dass eine neue Weltordnung entsteht, in der die einzige Alternative zum "Kampf der Kulturen" das friedliche Zusammenleben der Zivilisationen (oder der "Lebensweisen" – ein heute populärerer Begriff) bleibt.
So sind Zwangsehen und Homophobie (oder die Vorstellung, dass eine Frau, die allein an einen öffentlichen Ort geht, um Vergewaltigung bittet) in Ordnung, solange sie auf ein anderes Land, das ansonsten jedoch vollständig in den Weltmarkt einbezogen ist, beschränkt bleiben.
Zwei Gesichter
An der Spitze dieses neuen Trends steht ein neu entdeckter Respekt vor dem Islam vonseiten derselben Politiker, die vor der Gefahr der Islamisierung des christlichen Westens warnen. Zum Beispiel gratulierten sie Erdogan respektvoll zu seinem letzten Wahlsieg, denn die autoritäre Herrschaft des Islam ist für die Türkei in Ordnung, aber nicht für uns. Dasselbe gilt für Israel mit seinen umstrittenen neuen Gesetzen, die jüdische Bürger privilegieren. Das ist die Wahrheit des heutigen Multikulturalismus: Jede Auferlegung universeller Standards wird als kolonialistisch angeprangert.
Die sich abzeichnende neue Weltordnung ist also nicht mehr die fukuyamaistische "Neue Weltordnung" der globalen liberalen Demokratie, sondern eine "Neue Weltordnung" des friedlichen Zusammenlebens verschiedener politisch-theologischer Lebensformen, und das natürlich vor dem Hintergrund des reibungslosen Funktionierens des globalen Kapitalismus.
Es wird kein Widerspruch sein, in unseren Ländern die strengsten politisch korrekten feministischen Regeln durchzusetzen und gleichzeitig den Hinweis auf die dunkle Seite des Islam als neokolonialistische Arroganz abzulehnen.
Die Obszönität dieses Prozesses besteht darin, dass er sich als Fortschritt im antikolonialen Kampf darstellen kann: Der liberale Westen darf seine Standards nicht länger anderen aufzwingen und alle Lebensweisen werden gleich behandelt.
In diesem Sinne ist es kein Wunder, dass Robert Mugabe Sympathie für Trumps Slogan "Amerika zuerst" zeigte. "Amerika zuerst!" für dich, "Simbabwe zuerst!" für mich, "Indien zuerst!" oder "Nordkorea zuerst!" für sie und so weiter.
Zurück in die Zukunft
So funktionierte natürlich das Britische Empire, das erste globale kapitalistische Imperium: Jede ethnisch-religiöse Gemeinschaft durfte ihre eigene Lebensweise verfolgen. Zum Beispiel verbrannten Hindus in Indien gefahrlos Witwen und diese lokalen "Bräuche" wurden weder als barbarisch kritisiert oder für ihre vormoderne Weisheit gelobt. Sie wurden jedoch toleriert, da es darauf ankam, dass sie wirtschaftlich Teil des Empire waren.
Willkommen in der neuen Weltordnung, in der Saudi-Arabien den antikolonialistischen Kampf anführt. Aber natürlich gibt es auch etwas Heuchlerisches an den Liberalen, die den Slogan "Amerika zuerst" kritisieren: Als ob dies nicht das ist, was jedes Land mehr oder weniger tut, und als ob die USA nicht eine globale Rolle gespielt hätten, gerade weil sie sich ihren eigenen Interessen anpassten.
Die zugrundeliegende Botschaft von "Amerika zuerst" ist dennoch traurig: Das US-amerikanische Jahrhundert ist vorbei, Amerika hat sich damit abgefunden, nur eines unter den (mächtigen) Länder zu sein. Die höchste Ironie dabei ist, dass die Linken, die lange Zeit den Anspruch der USA, der Weltpolizist zu sein, kritisierten, sich nach den alten Zeiten zu sehnen beginnen, in denen die USA, einschließlich aller Heuchelei, weltweit demokratische Standards auferlegten.
Die traurige Wahrheit, die diese neue "Toleranz" aufrechterhält, ist, dass sich der heutige globale Kapitalismus keine positive Vision einer emanzipierten Menschheit mehr leisten kann, auch nicht als ideologischen Traum. Der fukuyamaistische liberal-demokratische Universalismus scheiterte an seinen eigenen immanenten Grenzen und Inkonsistenzen, und Populismus ist gewissermaßen das Symptom seines Scheiterns, seiner Huntington-Krankheit.
Aber die Lösung ist nicht der populistische Nationalismus, ob er nun rechts oder links ist. Die einzige Lösung ist ein neuer Universalismus, um den Problemen zu begegnen, mit denen die Menschheit heute – von ökologischen Bedrohungen bis hin zu Flüchtlingskrisen – konfrontiert ist.
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