Die neue Corona-Mutation Omikron entlarvt die wahre Pandemie dieser Welt

Slavoj Žižek

Die Reaktion auf die neueste Mutation des Coronavirus hat eine unangenehme Wahrheit bestätigt. Während viele die Idee einer globalen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Pandemie begrüßen, wird nichts Greifbares unternommen. Brauchen wir eine noch größere Krise, um uns aufzuraffen?

Ein Kommentar von Slavoj Žižek

Wir alle wissen inzwischen, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO eine neue besorgniserregende Omikron-Variante des Coronavirus für COVID-19 bestätigt hat. Die neue Variante mit dem wissenschaftlichen Kürzel B.1.1.529 wurde der WHO am 24. November erstmals aus Südafrika gemeldet. Sie weist mehr als 30 Mutationen auf, und es besteht der Verdacht, dass sie sich viel schneller ausbreiten wird als andere Varianten – einschließlich der Delta-Variante. Daher ist es ungewiss, ob die Impfstoffe, die wir derzeit haben, dagegen eine Wirkung haben. Die weltweiten Reaktionen darauf waren vorhersehbar: Flüge aus dem südlichen Afrika wurden gestrichen, Aktienkurse brachen ein und so weiter.

Ist es nicht erschreckend, dass in den Industrieländern Abwehrmaßnahmen wie Reiseverbote die stärkste Reaktion auf das Gespenst einer neuen Katastrophe sind? Dr. Richard Lessells, Spezialist für Infektionskrankheiten an der Universität von KwaZulu-Natal in im südafrikanischen Durban, betonte: "Es kam kein Wort der Unterstützung, was man afrikanischen Ländern anbieten werde, um ihnen bei der Eindämmung der Pandemie zu helfen, und insbesondere auch keine Erwähnung einer Bekämpfung der Ungleichverteilung von Impfstoffen, vor der wir das ganze Jahr schon gewarnt haben und von der wir jetzt die Konsequenzen sehen."

Die Verbreitung der Omikron-Variante wurde durch eine dreifache skandalöse Unterlassung erleichtert. Erstens ist es viel wahrscheinlicher, dass das Virus an Orten mutiert, an denen die Impfquote gering und die Übertragungsrate hoch ist, sodass die große Kluft zwischen den Impfraten in den Industrieländern und jenen in den Entwicklungsländern wahrscheinlich dafür verantwortlich ist.

Einige westliche Länder vernichten sogar Impfstoffe, deren Verwendungsdatum nun abgelaufen ist, anstatt sie zuvor kostenlos an Länder mit einer niedrigeren Impfquote weitergegeben zu haben.

Zweitens berichtete das renommierte Fachmagazin The Lancet im April: "Pharmazeutische Unternehmen haben stark von riesigen Summen öffentlicher Mittel für Forschung und Entwicklung profitiert. Zwischen 2,2 und 4,1 Milliarden US-Dollar (Stand 1. Februar 2021) wurden allein in Deutschland, Großbritannien und Nordamerika ausgegeben." Als die Pharmaunternehmen jedoch aufgefordert wurden, eine kostenlose Lizenzierung der Impfstoffe zuzulassen, lehnten sie alle dies ab und hinderten so viele ärmere Länder daran, die Impfstoffe selbst herzustellen, weil die sich die Lizenzgebühren ja einfach nicht leisten können.

Und schließlich entwickelte sich gerade in den Industrieländern sehr rasch ein Pandemie-Nationalismus anstelle einer ernsthaften Koordinierung aller gemeinsamen Bemühungen.

In allen drei Fällen verfehlten die Industrieländer ihre eigenen öffentlich verkündeten Ziele und zahlen jetzt den Preis dafür. Wie ein Bumerang kommt die Katastrophe, die wir in der Dritten Welt einzudämmen versuchten, zu uns zurück. Wie konnte das geschehen?

Friedrich Jacobi, der um 1800 wirkende deutsche Philosoph, schrieb einmal: "La vérité en la repoussant, on l'embrasse" – Indem man die Wahrheit abstößt, umarmt man sie. Beispiele für dieses Paradoxon gibt es viele – so sagen wir, die Aufklärung hätte wirklich erst dann gegen den traditionellen Glauben und die traditionellen Autoritäten gewonnen, als die Anhänger der traditionellen Sichtweisen begannen, rationale Argumente der Aufklärung zu verwenden, um ihre Haltung zu rechtfertigen (eine Gesellschaft braucht eine feste, unbestreitbare Autorität, um ein stabiles Leben zu genießen und so weiter). Aber gilt das auch umgekehrt? Ist es so, dass man die Wahrheit abstößt, wenn man sie annimmt?

Genau das passiert heute: "Wahrheit" – die dringende Notwendigkeit globaler Zusammenarbeit – wird zurückgewiesen, indem man öffentlich die Notwendigkeit von ökologischem Handeln oder Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Pandemie anerkennt – wie man auf der Klimakonferenz COP26 in Glasgow sehen konnte. Diese war durchzogen von deklarativem Blabla – aber nur von sehr wenigen bindenden Verpflichtungen.

Dieser Mechanismus wurde bereits 1937 in 'The Road to Wigan Pier' (Der Weg nach Wigan Pier) von George Orwell beschrieben, der dafür die Mehrdeutigkeit der vorherrschenden linken Haltung gegenüber den Klassenunterschieden benutzte:

"Wir alle wettern gegen Klassenunterschiede, aber die wenigsten wollen sie ernsthaft abschaffen. Hier stößt man auf die wichtige Tatsache, dass jede revolutionäre Meinung einen Teil ihrer Stärke aus der geheimen Überzeugung schöpft, dass nichts geändert werden kann. […] Solange es nur darum geht, das Los der Arbeiter zu verbessern, ist jeder anständige Mensch einverstanden. […] Aber leider kommt man nicht weiter, indem man sich Klassenunterschiede einfach wegwünscht. Genauer gesagt ist es notwendig, sie wegzuwünschen, aber Ihr Wunsch hat keine Wirkung, wenn Sie nicht verstehen, was er beinhaltet. Die Tatsache, der man sich stellen muss, ist, dass die Abschaffung von Klassenunterschieden bedeutet, einen Teil von sich selbst abzuschaffen. […] Ich muss mich dermaßen komplett verändern, dass ich am Ende kaum noch als dieselbe Person zu erkennen bin."

Orwells Standpunkt war, dass die Radikalen die Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung als eine Art abergläubisches Zeichen beschwören, welches das Gegenteil bewirken soll – nämlich verhindern solle, dass die Veränderung wirklich stattfindet. Die heutigen akademischen Linken, die den kapitalistischen Kulturimperialismus kritisieren, sind in Wirklichkeit entsetzt über die Vorstellung, dass ihr Studienfach überflüssig werden würde.

Und dasselbe gilt für unseren Kampf gegen die Pandemie und die globale Erwärmung – eine passende Abwandlung von Orwells Zitat dafür wäre:

"Wir alle wettern gegen die globale Erwärmung und die Pandemie, aber nur sehr wenige Menschen wollen sie ernsthaft abschaffen. Solange es nur darum geht, das Los der einfachen Leute zu verbessern, ist jeder anständige Mensch einverstanden. Aber leider kommt man nicht weiter, indem man sich die globale Erwärmung und die Pandemie nur wegwünscht. Genauer gesagt ist es notwendig, sie wegzuwünschen, aber der Wunsch hat keine Wirkung, wenn man nicht versteht, was er beinhaltet. Die Tatsache, der man sich stellen muss, ist, dass die Abschaffung der globalen Erwärmung und der Pandemie bedeutet, einen Teil von sich selbst abzuschaffen. Jeder von uns wird sich so komplett verändern müssen, dass man am Ende kaum noch als dieselbe Person zu erkennen ist."

Ist der Grund für diese Untätigkeit einfach die Angst, die eigenen wirtschaftlichen und sonstigen Privilegien zu verlieren? Die Dinge sind wohl komplexer: Die erforderliche Veränderung ist ein zweifache – eine subjektive und eine objektive.

Der US-Philosoph Adrian Johnston charakterisierte die heutige geopolitische Situation als eine, "in der die Gesellschaften der Welt und die Menschheit als Ganzes mit mehreren akuten Krisen konfrontiert sind – mit einer globalen Pandemie, mit Umweltkatastrophen, massiver Ungleichheit, zunehmender Armut, potenziell verheerenden Kriege und dergleichen. Man scheint nicht in der Lage zu sein, die – zugegebenermaßen radikalen oder revolutionären – Maßnahmen zu ergreifen, um diese Krisen zu lösen. Wir wissen, dass die Dinge kaputt sind, und wir wissen, was eigentlich repariert werden müsste. Wir haben sogar manchmal Ideen, wie wir das reparieren könnten. Trotzdem tun wir nichts, um bereits angerichtete Schäden zu beheben oder weitere, leicht vorhersehbare Schäden zu verhindern."

Woher kommt diese Passivität? Unsere Medien spekulieren oft darüber, welche verborgenen Motive die Impfgegner so hartnäckig an ihrer Haltung festhalten lassen. Aber soweit ich weiß, nennen sie nie den offensichtlichsten Grund: Auf einer bestimmten Ebene wollen Impfgegner, dass sich die Pandemie fortsetzt – und sie wissen, wenn sie sich Schutzmaßnahmen verweigern, wird dadurch die Pandemie verlängert. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, stellt sich als nächstes die Frage: Was bringt Impfgegner dazu, sich eine Verlängerung der Pandemie zu wünschen?

Wir sollten hier alle pseudo-freudianischen Vorstellungen von einer Form der Todessehnsucht oder von einem Wunsch zu leiden und zu sterben vermeiden. Hingegen ist die Vorstellung wahr, dass einige Impfgegner Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ablehnen, weil sie nicht bereit sind, die westliche liberale Lebensweise zu opfern, die für sie der einzig mögliche Rahmen von Freiheit und Würde ist, aber greift ebenfalls zu kurz. Hinzurechnen sollten wir hier eine perverse Freude an der Abkehr von alltäglichen Freuden, was eine solche Pandemie eben mit sich bringt. Wir sollten die heimliche Befriedigung nicht unterschätzen, die das passive Leben der Depression und Apathie bietet, das man ohne ein klares Lebensziel somit einfach nur in die Länge zieht.

Jedoch ist der erforderliche Wandel ja nicht nur ein subjektiver, sondern auch ein globaler gesellschaftlicher Wandel. Zu Beginn der Pandemie hatte ich geschrieben, dass dieses Virus dem Kapitalismus einen tödlichen Schlag versetzen würde. Ich bezog mich dabei auf die letzte Szene von Quentin Tarantinos "Kill Bill 2", in der die Protagonistin den bösen Bill außer Gefecht setzt und ihn mit der "Fünf-Punkte-Pressur-Herzexplosions-Technik" erledigt, einer Kombination von fünf Schlägen mit den Fingerspitzen auf fünf verschiedene Druckpunkte auf dem Oberkörper des Opfers. Wenn das Opfer danach fünf Schritte macht, explodiert sein Herz im Körper und es fällt tot um.

Ich wollte damit sagen, dass die COVID-19-Pandemie eine Art Angriff mittels einer "Fünf-Punkte-Pressur-Herzexplosions-Technik" auf das globale kapitalistische System ist – ein Signal, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher und dass ein radikaler Wandel erforderlich ist. Viele Leute haben mich danach deswegen ausgelacht: In Wahrheit hätte der Kapitalismus nicht nur die Krise eingedämmt, sondern sie sogar genutzt, um sich selbst weiter zu festigen. Ich meine trotzdem, dass ich Recht hatte.

In den letzten Jahren hat sich der globale Kapitalismus so radikal verändert, dass manche – wie etwa Yanis Varoufakis oder Jodi Dean – die neue, aufstrebende Weltordnung nicht mehr als Kapitalismus bezeichnen, sondern als Neofeudalismus der Konzerne. Die Pandemie gab dieser neuen Weltordnung der Konzerne Auftrieb, in der neue Feudalherren wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg zunehmend unsere gemeinsamen Kommunikationsräume und Diskurse kontrollieren.

Es drängt sich die pessimistische Schlussfolgerung auf, dass noch stärkere Schocks und Krisen erforderlich sein werden, um uns alle wachzurütteln. Der neoliberale Kapitalismus stirbt bereits ab, daher wird der bevorstehende Kampf kein Kampf zwischen dem Neoliberalismus und dem, was ihm zugrunde liegt sein, sondern ein Kampf zwischen zwei Formen von Nachwirkungen: ein Kampf zwischen dem Neofeudalismus der Konzerne mit seinen schützenden Blasen gegen Bedrohungen – wie Zuckerbergs "virtuelles Metaversum", also Blasen, in denen wir weiter träumen können – und dem bösen Erwachen, das uns zwingen wird, neue Formen der Solidarität zu finden.

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Übersetzt aus dem Englischen.

Slavoj Žižek ist Kulturphilosoph und Senior-Forscher am Institut für Soziologie und Philosophie der Universität Ljubljana, Professor für Deutsch an der New York University und Internationaler Direktor des Birkbeck-Instituts für Geisteswissenschaften an der Universität von London.