von Rainer Rupp
Da bezeichnet der französische Präsident Macron die NATO als "hirntot". Wenig später wird der türkische Präsident Erdoğan persönlich und bezeichnet Macron – nicht die französische Politik – als hirntot. US-Präsident Trump, der bereits zu seinem Amtsantritt die NATO als "obsolet", also als veraltet und überflüssig bezeichnet hatte, hatte plötzlich Gefallen an der NATO gefunden, weil die Europäer angeblich seit seinem Amtsantritt Dutzende von Milliarden Dollar mehr für Rüstung ausgegeben haben, vor allem für Waffen "Made in USA".
Die Tatsache, dass ausgerechnet der kleine Franzose Macron nun Trumps "erfolgreiche" NATO heftig kritisierte, empfand der US-Präsident als "sehr übel". Niemand bräuchte die NATO mehr als Frankreich. Aber er habe den Eindruck, dass Frankreich von dem Bündnis abfalle, so der verärgerte Trump am Dienstag. Zuvor hatten Trump und Macron in der US-Botschaft ein bilaterales Treffen gehabt, in dem sie hätten ihre Differenzen beilegen können. Das war offensichtlich wenig erfolgreich gewesen, denn während der anschließenden gemeinsamen Pressekonferenz unterbrach Macron Trump zweimal in seiner Rede, um ihn bei offensichtlichen Fehlern zu korrigieren und vor der Weltpresse zu blamieren.
Trump wäre nicht Trump, wenn er diese Bloßstellung Macron so einfach verzeihen würde. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die in Aussicht gestellten US-Strafzölle gegen ein Kernsortiment französischer Landwirtschaftsexporte nicht lange auf sich warten lassen. Diese wiederum sollen eine US-Vergeltungsmaßnahme gegen die von Frankreich erhobene Digitalsteuer sein, die gegen US-Konzerne wie Google und Facebook erhoben wird, die bisher so gut wie keine Steuern in Frankreich gezahlt haben.
Aber Frankreich hat den USA auch im Persischen Golf einen dicken Knüppel in den Weg geworfen. Unabhängig von dem US-britischen Flottenverband will Paris mit eigenen Schiffen den Frieden in der Straße von Hormus sichern. Allein durch die Anwesenheit französischer Kriegsschiffe als eventuelle Augenzeugen wird damit die Handlungsfreiheit der US-Kriegsmarine gegenüber dem Iran erheblich eingeschränkt.
Macrons Hirntod-Äußerung ist französischen Berichten zufolge das direkte Resultat von Trumps einsamem Entschluss, den US-Abzug aus Nordsyrien zu befehlen, von dem der französische Präsident vorher nicht unterrichtet worden war. Wenn man die NATO nicht einmal mehr als Konsultationsmechanismus für solche wichtigen sicherheitspolitischen Entscheidungen nutzte, dann war sie in der Tat hirntot, war Macrons offensichtlicher Schluss.
Zuvor, im August dieses Jahres, hatte Macron vor den Botschaftern der Französischen Republik laut über die gesellschaftlichen Veränderungen in Frankreich, Europa und im Westen nachgedacht. Die bisherige internationale Ordnung werde "auf beispiellose Weise durchbrochen". "Massive Umwälzungen" fänden "in fast allen Bereichen und in historischem Maßstab" statt. Wörtlich sagte er: "Wir sind wahrscheinlich dabei, das Ende der westlichen Hegemonie auf der Welt zu erleben." "Amerikanische Entscheidungen in den letzten Jahren", die nicht erst mit Trump begonnen hätten, hätten Paris veranlasst, die existierenden "diplomatischen und militärische Strategien und gelegentlich Elemente der Solidarität, von denen wir dachten, dass sie für immer unveräußerlich sind, grundlegend zu überdenken".
Macron fuhr fort: "Ich glaube, wir müssen eine neue Architektur aufbauen, die auf Vertrauen und Sicherheit in Europa basiert, denn der europäische Kontinent wird niemals stabil sein, wird niemals sicher sein, wenn wir unsere Beziehungen zu Russland nicht lockern und klären. Das aber liegt nicht im Interesse einiger unserer Verbündeten. Lassen Sie uns das klarstellen. Einige von ihnen werden uns dringend auffordern, Russland mehr Sanktionen aufzuerlegen, weil dies in ihrem Interesse liegt."
Vor dem Hintergrund dieser Neuorientierung Macrons war es denn auch nur noch ein kleiner Schritt bis zu seiner Feststellung des Hirntods der NATO. Dafür wurde Macron von seiner deutschen, inzwischen nicht mehr so geliebten Freundin Merkel und ihrem transatlantischen Tross in CDU/CSU und SPD prompt gerügt. Die NATO sei heute wichtiger als zu keinem anderen Zeitpunkt seit dem Ende des Kalten Krieges, flötete die Kanzlerin.
Klar, damals am Ende des Kalten Krieges fand der total freiwillige Rückzug der Roten Armee aus der DDR und den osteuropäischen Staaten bis hinter die Grenzen Russlands statt. Das geschah alles im naiven Vertrauen Moskaus auf das US-NATO-Versprechen, dass die westliche Militärorganisation nicht gen Osten in Richtung Russland expandieren würde. Das Gegenteil ist dann geschehen, mit tatkräftiger Hilfe Deutschlands und seines Militärs.
Inzwischen haben sich deutsche und NATO-Truppen nicht nur in ganz Osteuropa, sondern auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken unmittelbar an den Grenzen zu Russland militärisch eingenistet. Warum brauchen wir Deutsche dann laut unserer Kanzlerin "die NATO heute dringender denn je? Wollen wir noch weiter gen Osten? Oder ist die NATO für Merkel heute wichtiger denn je, weil Russland sich in letzter Zeit nicht mehr jede Provokation des Westens gefallen lässt? Weil die Russen dem aggressiven Expansionstreiben der NATO-Unwertegemeinschaft – ob in Syrien oder beim westlichen Putsch in der Ukraine und dem versuchten US-Zugriff auf die Schwarzmeerbasis der Russen in Sewastopol – nicht länger tatenlos zuschauen?
Fakt ist: Schon heute stehen deutsche Panzer im Baltikum nur noch 160 Kilometer entfernt von Sankt Petersburg. Sie stehen dort sicherlich nicht als Dankesgeste der deutschen Regierung für den russischen Abzug aus der DDR und der Ermöglichung der Deutschen Einheit! Vielmehr erinnern sie daran, dass die Großväter der Bundeswehr-Panzerfahrer seinerzeit bereits als Wehrmachtsoldaten Leningrad – so hieß Sankt Petersburg damals – mehr als zwei Jahre lang belagert hatten, um die Stadt auszuhungern. Unter täglichem Trommelfeuer und abgeschnitten von Lebensmitteln wurden in der Zeit eine Million Russen, hauptsächlich Zivilisten, von deutscher Hand getötet.
Dass nach diesem unvorstellbaren historischen Verbrechen der deutschen Wehrmacht, heute ausgerechnet deutsche Panzer – diesmal gemeinsam mit der NATO – wieder vor Sankt Petersburg stehen und eine Bedrohung für die wunderbare Stadt darstellen, ist nicht hinnehmbar. Diese Ungeheuerlichkeit darf man den CDU-Kriegstreibern und den transatlantischen Speichel leckenden Genossen der SPD nicht durchgehen lassen. Ihre Mitläufer und Wähler sollten in der Öffentlichkeit auf Schritt und Tritt immer wieder an die deutschen Panzer vor Sankt Petersburg erinnert werden.
Ein Minimum von Anstand und Respekt gegenüber den russischen Opfern von Leningrad hätte die erneute Entsendung deutschen Militärs in diese Region verboten. Aber Anstand und Friedfertigkeit gegenüber Russland sucht man im Berliner Kanzleramt vergeblich.
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