von Rainer Rupp
(Teil 2, Teil 1 können Sie hier nachlesen.)
Kann diese Entwicklung die Chancen des neuen ukrainischen Präsidenten erhöhen, gegen den massiven Widerstand der Rechtsextremisten und westlicher Unterstützer die Beziehungen mit Moskau zu normalisieren? Mit meinem Kommentar zu den ultimativen Drohungen gegen den neuen Präsidenten Wladimir Selenskij unmittelbar nach seiner Wahl endete der erste Teil. Zur Erinnerung: In ihrer "Gemeinsamen Erklärung" vom 23. Mai 2019 hatten prominente ukrainische Gewaltextremisten, die nun als "Vertreter der Zivilgesellschaft" posieren, mit Unruhen und einem neuen "Maidan" gedroht, falls der neue Präsident die von ihnen gezogenen "Roten Linien" in den Bereichen Außenpolitik, Nationale Identität (Sprache, Bildung und Kultur), Innenpolitik und Sicherheit, Wirtschaft, Medien- und Informationspolitik und in den Strukturen des Regierungsapparats übertreten würde.
Diese Drohungen wurden von der ganzen Palette bedeutender westlicher "Demokratie-Organisationen" unterstützt. Ziel dieses engmaschigen Netzes aus "Roten Linien" ist es, den mit 75 Prozent Mehrheit gewählten Selenskij von jeglicher Abweichung vom Schmusekurs mit NATO und EU abzuhalten, sondern – auch unter ihm – vielmehr außenpolitisch den extrem anti-russischen Kurs fortzusetzen und innenpolitisch die rassistisch-nationalistische Line beizubehalten. Wie eine kleine Minderheit – selbst mit Unterstützung von ausländischen NGOs – sich gegen die große Mehrheit im eigenen Land durchsetzen könne, verwunderte den RT-Deutsch-Leser "asr_m62", und er stellte die Schlüsselfrage:
"Mich interessiert einmal, wie stark diese so genannte 'Zivilgesellschaft' wirklich zahlenmäßig in der Ukraine vorhanden ist. Klar gibt es eine minimale Anzahl Ultranationalisten, die lieber verhungern würden, als sich mit Russland an einen Tisch zu setzen. Doch die Mehrzahl der Ukrainer haben doch ganz normale Interessen, wie Arbeitsplätze und bezahlbare Lebenshaltungskosten. Aber gerade diese Interessen können doch am ehesten durch einen Dialog mit Russland befriedigt werden – denn ukrainische Produkte sind im Wertewesten nicht konkurrenzfähig und Aufbau der Ukraine zu einer zweiten Werkbank, analog zu der in Polen ist schlichtweg unnötig. Wie können diese Organisationen dann einen solchen Einfluss auf die Regierung ausüben – wenn gleichzeitig die Interessen der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit konterkariert werden?"
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Die Antwort darauf ist, dass dies mit Repression doch sehr gut erreichbar ist, nämlich in einem Zusammenspiel von westlichen Regierungen und mächtigen und finanzstarken, ausländischen "Nicht-Regierungs-Organisationen" mit faschistoiden Grundmustern sowie mit gut organisierten, obrigkeitshörigen, extrem sendungsbewussten ukrainischen Rechtsextremisten und (Neo-)Nazis. Letztere haben das in den fünf Jahren seit dem Maidan-Putsch unverhohlen demonstriert. Mit extremer Brutalität sind sie militärischen Formationen mit schwerem Gerät in blutige Schlachten gegen die eigene Bevölkerung gezogen – nicht nur in der Ost-Ukraine. Der Schutz des menschlichen Lebens stellt für diese ideologisch verbohrten Kampfeinheiten schon längst keine Hemmschwelle mehr dar, erst recht nicht, wenn es gegen russisch sprechende Landsleute und andere "Untermenschen" geht.
In Zeiten des politischen Chaos – und die Ukraine befindet sich auch nach der Wahl Selenskijs immer noch in einer solchen Situation – kann sich auch eine kleine Minderheit militärisch diszipliniert handelnder Intensiv-Täter jederzeit gegen die weitgehend ungeschützte, andersdenkende, aber friedfertige Mehrheit in dem von ersteren kontrollierten Umfeld durchsetzen.
Der gordische Knoten in der Ukraine ist, dass sich die regulären ukrainischen Streitkräfte nach dem Maidan im Wesentlichen aufgelöst haben. Die neuen Kriegsherren in Kiew konnten sich im angestrebten Vernichtungskampf gegen die Gegner des Maidan-Putsches in der Ostukraine nicht auf die reguläre Armee verlassen, die sich ja schließlich noch aus wehrpflichtigen Soldaten aus allen Schichten des Volkes zusammensetzte. So wurden sie nur noch in einigen größeren Schlachten als Kanonenfutter benutzt, z.B. als vorgeschobene Ziele, um das Hauptfeuer "des Gegners" auf sich zu ziehen.
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Tatsächlich wurden die schnell wachsenden, militärischen Verbände der Neonazi-Milizen zur alleinigen Durchsetzungsmacht für die von Faschisten durchsetzte, ukrainische Regierung in Kiew. Deshalb konnte auch Selenskijs Vorgänger, der Oligarch Poroschenko, der selbst kein Neonazi war, nichts dagegen setzen, um die Nazi-Milizen davon abzuhalten, das zu tun, was sie wollten. Die Tatsache, dass auch Poroschenko einst von der Mehrheit in der Rumpf-Ukraine gewählt worden war, hatte auch ihm keine reale Macht beschert. Letztlich blieb Poroschenko, der sich lieber voll und ganz auf die Ausplünderung seines Landes konzentriert hätte, nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich immer wieder in einer lächerlichen militärischen Uniform an der Seite von Nazi-Milizen zu präsentieren.
An diesem Grundproblem hat sich für Selenskij nicht viel geändert. Die Macht in der Ukraine, die dort – frei nach Mao Tse Dong – "aus den Mündungen der Gewehrläufe" kommt, wird derzeit auch weiterhin nicht von den mit großer Mehrheit gewählten Volksvertretern kontrolliert und befehligt, sondern von einer kleinen Minderheit, die nach wie vor die Schaltstellen der sogenannten "Sicherheitsorgane" besetzt hält. Deshalb sind die eingangs erwähnten Drohungen der selbsternannten "Zivilgesellschaft" mit den "Roten Linien" und einem neuen "Maidan" von Selenskij durchaus sehr ernst zu nehmen, zumal sich die Rechtsextremisten moralisch im Recht fühlen und in ihrem Tun auch noch vom Westen unterstützt werden.
Eine erste Warnung an den neuen Präsidenten dürfte der Granatwerferangriff auf den Sitz des ukrainischen TV-Senders 112 Ukraine in Kiew in der Nacht zum Samstag, dem 13. Juli dieses Jahres gewesen sein. Der Sender hatte zuvor angekündigt, eine Dokumentation über den Film von Oliver Stone über den Maidan, ergänzt durch ein Interview mit Russlands Präsident Wladimir Putin, ausstrahlen zu wollen. Für den Angriff übernahm niemand die Verantwortung. Dennoch kann sie zweifelsohne den Rechtsextremisten zugerechnet werden, hätte diese Sendung doch klar gegen die "Roten Linien" in deren Medien- und Kulturpaket verstoßen. Zum Glück gab es "nur" Sachschaden, Menschen wurden nicht verletzt. Interessanterweise sprach die Polizei von einem "terroristischen Angriff", was allerdings zumindest ein Vorbote für einen neuen Wind in Kiew sein könnte. Allerdings hatte der Angriff dennoch seinen Zweck voll erreicht, denn die angekündigte Sendung wurde nicht ausgestrahlt.
Wie weit die Unterstützung der existierenden Nazi-Strukturen derzeit in den ukrainischen Ministerien sogar durch westliche Regierungen geht, wurde jüngst durch den öffentlichen Protest westlicher Botschaften gegen Selenskijs Pläne offensichtlich, die Schaltstellen in den Ministerien mit neuen, unbelasteten Leuten zu besetzen, die seiner Politik folgen und auch versuchen würden, sie umzusetzen.
Einen Bericht aus Kiew von Mitte Juli dieses Jahres überschrieb die Financial Times "Selenskijs Plan zur Säuberung der ukrainischen Behörden stößt auf Kritik". Dass diese Kritik just aus dem Westen kommt, wird auch schnell deutlich: "Wut über das Verbot von öffentlichen Ämtern für alle, die seinem Vorgänger gedient haben. Die Säuberung des Personals aus der Poroschenko-Ära würde Wladimir Selenskij auf Kollisionskurs mit den Regierungen bringen, die seine Pläne zur Beschleunigung der Reformen ansonsten begrüßt haben." Gemeint sind damit natürlich die westlichen Regierungen, die befürchten müssen, durch einen Personalaustausch die von ihnen angefütterten Ansprechpartner in den Ministerien zu verlieren und somit Einfluss auf eben jene Ebenen zu verlieren, auf denen politische Pläne ausgearbeitet und Entscheidungen umgesetzt werden .
Der Text des Artikels liest sich teilweise weiter wie eine Realsatire, wenn es z.B. heißt, dass Selenskijs Plan zu einem Beamtenaustausch, "bei den internationalen Unterstützern Kiews Besorgnisse über seine demokratischen Qualifikationen ausgelöst habe". Dabei würde Selenskij ja nur das tun, was die Rechts-Extremisten nach ihrem blutigen Maidan-Putsch 2014 sofort getan hatten, als sie alle Schlüsselpositionen in den Ministerien der gestürzten, aber rechtmäßigen weil demokratisch gewählten Regierung von Wiktor Janukowitsch unter ihre Kontrolle brachten und mit eigenen Leuten besetzten. Das hatte damals im Westen natürlich keine Besorgnis über "demokratische Qualifikationen" ausgelöst!
In einer unverfrorenen Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine haben die Botschafter der G7-Staaten in Kiew am 12. Juli laut Financial Times eine gemeinsamen Erklärung zu Selenskijs Plan veröffentlicht: "Wahlwechsel und politische Rotation sind in Demokratien die Norm. … Pauschale Verbote für frühere Mitarbeiter in der Exekutive und Legislative des Regierungsapparats gehören nicht dazu. … Während es richtig ist, diejenigen, die ihr Amt missbraucht haben, zur Rechenschaft zu ziehen, ist die heutige Situation in der Ukraine unserer Überzeugung nach nicht mit der nach der Revolution der Würde vergleichbar." Mit der "Revolution der Würde" meinen (und benutzen) die Botschafter der G7-Staaten devot den von den Rechtsextremisten geprägten Begriff für den blutigen Maidan-Putsch.
Aber wenn es Selenskij nicht gelingt, die Schlüsselpositionen seines Regierungsapparats bis hinab auf die mittlere Ebene von Mitgliedern und Sympathisanten der Rechtsextremisten und Faschisten zu säubern, dann werden die ihm auf Schritt und Tritt politische Knüppel in den Weg werfen. Besonders wichtig wäre auch, wenn ihm die Sisyphusarbeit der Stärkung der regulären ukrainischen Armee gelingen würde. Das könnte ihm bei der bevorstehenden Auseinandersetzung mit den Neonazis und ihren militärischen Einheiten, die Poroschenko sogar zu einem offiziellen Teil der ukrainischen Streitkräfte gemacht hat, sehr helfen. Diese Konfrontation wird unausweichlich, wenn Selenskij auch nur einen Teil seines Regierungsprogramms wirklich durchsetzen will.
Allein die Umsetzung des Abkommens Minsk II zwischen Kiew und der Ost-Ukraine, für das Deutschland, Frankreich und Russland als Garantiemächte mit dem Ziel der Normalisierung der Beziehungen zwischen Kiew und den abtrünnigen Regionen im Osten des Landes fungieren, wäre für die ukrainischen Rechtsextremisten bereits "Hochverrat", und die "Rote Linie" zu einem neuen Maidan wäre überschritten.
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Dennoch gibt es Grund zur Hoffnung. Selenskij hat offensichtlich verstanden, dass die Ukraine gegen – oder auch nur ohne – Russland keine Zukunft hat. Daher sucht er die Normalisierung der Beziehungen zu Moskau. Dass das nicht von heute auf morgen geht, versteht sich aus den oben dargelegten Gründen von selbst. Dennoch scheint es, dass der neue Präsident geschickt versucht, seinen Handlungsspielraum auszuweiten, indem er auch unter gemäßigten Kräften im Westen für seine Politik wirbt. Dabei kommt ihm zugute, dass auch im Westen die bisherige Einheitsfront gegen Russland bröckelt, und das nicht nur aus ökonomischen Gründen.
Selbst in den USA scheinen zunehmend gemäßigte Kreise wieder Gehör zu finden, die daran erinnern, dass viele Probleme der USA in der Welt nicht gegen Russland, sondern nur mit Russland gelöst werden könnten. Das gilt erstrecht für die Sicherheit Europas! Zugleich hat wegen Washingtons forcierter Konfrontation gegen China andererseits Russland selbst für die USA wieder einen höheren Stellenwert bekommen.
Viele Amerikaner hängen allerdings dem Irrglauben an, man könne einfach mal mit Ouvertüren wie der Wiederaufnahme Russlands in die G7 (also dann wieder G8), den Kreml auf die Seite des Westens ziehen, um ihn dann gegen China in Stellung bringen. Wenn man aber tatsächlich wieder nett im Kreml Hände schütteln will, dann kann man nicht zugleich in der Ukraine hysterische Russen-Hasser und Faschisten mit neuen Waffen füttern. Dieser vorerst zaghaft angedeutete Umschwung in der politischen Großwetterlage könnte Selenskij die Chance geben, die er braucht, um sein Land in den nächsten Jahren zur Normalität und zum inneren Frieden zurückzuführen.
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