Konferenz in Belgrad lässt NATO-Werbung abblitzen (Teil II)

Rainer Rupp

Teil II befasst sich mit der zukünftigen politischen Orientierung Serbiens im Spannungsfeld zwischen EU-Lockrufen aus Brüssel und Freundschaftsbeschwörungen und Hilfsangeboten der Russen. Allerdings bleibt die außenpolitische Bewegungsfreiheit Belgrads weiterhin beschränkt.

von Rainer Rupp

(Teil 1 können Sie hier nachlesen. Die in diesem Artikel verwendeten Fotos wurden während der Konferenz in Belgrad gezeigt.)

Nach dem Ende des NATO-Bombenkriegs im Jahr 1999 kam in einem vom Westen gesteuerten Putsch 2000 eine Marionetten-Regierung in Belgrad an die Macht. Ihre Aufgabe, die Bevölkerung dafür zu gewinnen, „zu vergeben, zu vergessen und nach vorne zu blicken" in eine gemeinsame Zukunft in der EU und der NATO, konnte sie nicht erfüllen. Bei der Wahl 2012 wurden die West-Marionetten davon gejagt. Seither ist das politische Pendel wieder etwas zurückgeschwungen, wie die Konferenz in Belgrad gezeigt hat.

"Wir werden niemals ein Mitglied der NATO werden. Selbst wenn wir das letzte Land in Europa wären, das der NATO noch nicht beigetreten ist, werden wir kein Mitglied werden". An dieser Stelle wurde die Rede des serbische Verteidigungsminister Aleksandar Vulins von einem lang anhaltenden, stürmischen Applaus im bis auf den letzten Platz gefüllten Saal im 'Haus der Armee' in Belgrad unterbrochen. Dort hatte gerade der zweite Tag der Internationalen Konferenz "NATO-Aggression - Niemals vergessen - 1999-2019 - Frieden und Fortschritt statt Krieg und Armut" vom 22. bis 23. März 2019 anlässlich des 20. Jahrestags des NATO-Überfalls auf Jugoslawien begonnen.

Niemals werden wir vergessen, dass die NATO unsere Kinder getötet hat",

legte Minister Vulin an anderer Stelle seiner Rede nach. Auch beträfen die NATO-Verbrechen nicht nur die ermordeten Kinder und Zivilisten, sondern auch die serbischen Polizisten und Soldaten, die jedes Recht hatten, ihre Heimat gegen den durch nichts provozierten Überfall zu verteidigen.

Minister Vulin gab noch eine weitere Begründung, weshalb er die NATO strikt ablehnte: Denn in diesem Bündnis würden kleinere Länder in die Pflicht genommen, zusammen mit den Großen und Mächtigen andere freiheitsliebende Länder, die nicht nach der Pfeife der NATO tanzen wollten, militärisch zu überfallen oder mit Sanktionen zu destabilisieren. An sowas würde sich Serbien, das selbst die Freiheit als höchstes Gut schätzt, niemals beteiligen.

Wiederholt bedankte sich der Minister bei den zahlreichen, internationalen Gästen. Sie seien die Einzigen gewesen, die vor 20 Jahren das damals von allen Staaten, einschließlich von dem geschwächten Russland, allein gelassene Serbien gegen den NATO-Überfall durch Demonstrationen und Veröffentlichungen unterstützt hätten.

Zum Abschluss seiner Rede ging Vulin auf den diplomatischen und wirtschaftlichen Druck ein, den die EU und die NATO weiterhin auf Belgrad ausüben. Die beiden Brüsseler Organisationen wollen, dass die Serben sich um eine Mitgliedschaft in ihrer so genannten "westlichen Wertegemeinschaft" bewerben. Dazu fordern sie das serbische Volk auf, "zu vergeben, zu vergessen und in eine gemeinsame Zukunft nach vorne zu blicken". Darauf antwortete Vulin:

Ich spreche hier im Namen des serbischen Volkes und ich kann nicht vergeben und auch nicht vergessen. Selbst wenn alle anderen Länder Europas bereits Mitglieder der NATO wären, Serbien wird niemals dieser Organisation beitreten. Wir Serben werden alles tun um den Frieden zu erhalten, fast alles, außer unsere Freiheit aufzugeben.

Die Rede des Ministers Vulin war im prall gefüllten Saal wiederholt von großem Beifall unterbrochen worden. Insbesondere die venezolanische Diplomatin im Botschafterrang, Dia Nader d El-Andari, die als Nächste sprach, würdigte den selbstbewussten und kämpferischen Beitrag von Verteidigungsminister Aleksandar Vulin.

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Allerdings hatte der serbische Verteidigungsminister die Möglichkeit einer Mitgliedschaft in der EU, mit der Brüssel derzeit Belgrad umgarnt, nicht angesprochen. Der Grund mag darin liegen, dass die EU nicht sein Ressort ist und seine Kollegen vom Außen- und Wirtschaftsministerium dafür verantwortlich sind. Es mag aber auch andere Gründe haben, auf die weiter unten eingegangen wird.

Kaum Unterschiede zwischen EU-Armee und NATO

Die Europäische Union hat neben ihrer Einschränkung der nationalen Souveränität ihrer Mitgliedsländer in ökonomischen Dingen auch noch eine geopolitische und militärische Komponente. Das brachte der Vorsitzende des Deutschen Freidenkerverbands Klaus Hartmann in seinem auf Vulins Rede folgenden Beitrag auf den Punkt. Laut Hartmann sind "die NATO und die militärische Komponente der EU zwei Seiten ein und derselben Medaille".

"Betrachten wir die NATO und die EU, dann finden wir in militärischer Hinsicht keine prinzipiellen Unterschiede", so Hartmann und erinnerte die Konferenzteilnehmer "zum Beispiel an die Vorbereitungen des Maidan-Putsches in Kiew, wobei die Europäische Union bei der Unterstützung der nationalistischen und faschistischen Gewaltextremisten Hand in Hand mit den USA und der NATO zusammen gearbeitet hat". Ganz aktuell wäre da auch noch an "die völkerrechtswidrige Unterstützung des von den USA eingesetzten Putschpräsidenten in Venezuela durch die EU in Brüssel zu erinnern".

Weiter hob der Freidenker hervor, "dass trotz aller verlockenden Versprechungen der EU-Eliten an die potentiellen serbischen Profiteure eines EU-Beitritts, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union für Serbien bedeutet, dass das Land wichtige Bereiche seiner nationalen Souveränität verlieren wird und an die nicht-demokratisch gewählte EU-Kommission in Brüssel abgeben muss."

Damit sprach Hartmann die Tatsache an, dass kein Wähler eines EU-Staates, egal in welchem Land, mit seiner Stimmabgabe irgendeinen Einfluss auf die Zusammensetzung oder auf die Arbeit der EU-Kommission hat. Die EU-Kommission arbeitet auch nicht im Dienst der Völker Europas sondern im Dienst der globalen Konzerne, für die sie auf dem europäischen Kontinent die von den USA getriebene, neoliberale Weltordnung durchsetzt.

Der hohe Preis einer EU-Mitgliedschaft

Außerdem verweist der Bundesvorsitzende der Deutschen Freidenker darauf, dass das serbische Parlament als Mitglied der EU "das Wichtigste von allen parlamentarischen Rechten an Brüssel abgeben" müsste, nämlich "das Recht, über den Haushalt des serbischen Staates selbst und ohne Einmischung von außen zu entscheiden". Auch alle Rechte und Vorschriften des Außenhandels müsste Belgrad an Brüssel abgeben, was unter anderem auch bedeutet, "dass die Regierung in Belgrad sich an den völkerrechtswidrigen Wirtschafts- und Handelssanktionen der EU beteiligen müsste, zum Beispiel gegen freiheitsliebende Staaten wie Syrien oder gegen das mit Serbien eng befreundete Russland".

Besonders wichtig sei, – so Hartmann weiter – dass die Menschen in Serbien und die Regierung in Belgrad erkennt, "dass der Vertrag über eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union auch eine militärische Komponente enthält". Diese verpflichte zur militärischen Integration in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen, deren bewaffneter Arm, die sogenannte EU-Armee, Hand in Hand mit der NATO für neo-koloniale Zwecke gegen freiheitsliebende und unabhängige Staaten eingesetzt wird. Nur gegen die NATO zu sein, aber Mitglied des neoliberalen Projekts Europäische Union, sei "ein Widerspruch in sich selbst".

Das verstärkte Engagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan

Allerdings hat die EU die in Anbetracht des "erheblichen wirtschaftlichen Potentials" Serbiens und des Expansionsdrangs westlicher Konzerne in die Region in einem Dokument vom Februar 2018 ihre neue Strategie für den Westbalkan vorgestellt, in dem vor allem Serbien die Hauptrolle spielt.

Das Strategie-Papier mit dem Titel: "Eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive für ein verstärktes Engagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan" wurde von der EU-Kommission unter anderem an das EU-Parlament und den EU-Rat geschickt. Das Papier unterstreicht, dass "keines der West-Balkan-Länder derzeit als eine funktionierende Marktwirtschaft angesehen werden kann" und dass die "bilaterale Streitigkeiten zwischen den Ländern der Region" von der EU nicht akzeptiert werden. Allein dieser letzte Satz zeigt, mit welcher Arroganz die Herren in Brüssel die real existierenden Probleme der Region sehen.

Die neue Dringlichkeit, welche die EU plötzlich wieder dem West-Balkan und vor allem Serbien beimisst, hat jedoch einen anderen Grund. Der wird in dem EU-Strategiepapier zwar nur verklausuliert erwähnt, aber jeder weiß, worum es tatsächlich geht – nämlich "um das wachsende Interesse ausländischer Mächte in der Region, vor allem von Russland und der Türkei". So stand es zum Beispiel im Konferenzprogramm der Loccum Akademie zum Thema "Der Westbalkan zurück in Focus", die im Mai 2018 stattfand und mit dem Untertitel "Wie kann das erneute Engagement Europas in der Krisenregion gestaltet werden?"

Die stark verbesserten Beziehungen zwischen Belgrad und Moskau sind also der wahre Grund für den neuen Elan, mit dem die EU die mit dem NATO-Überfall geschaffenen und seither ungelösten Probleme auf dem Westbalkan plötzlich wieder neu entdeckt hat. So reklamiert die EU-Kommission zum Beispiel in ihrem Strategie-Dokument vom Februar 2018 die Westbalkan Region als den ureigenen Hinterhof der EU, in dem externe Kräfte nichts zu suchen haben. Wörtlich heißt es in dem Dokument:

Die Zukunft der Region als integraler Bestandteil der EU liegt im ureigenen politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interesse der Union.  Sie stellt eine geostrategische Investition in ein stabiles, starkes und geeintes Europas auf der Grundlage gemeinsamer Werte dar."

Die Tatsache, dass gerade die Russen die stärkste Delegation mit hochkarätigen Vertretern aus Politik, Militär und den Wissenschaften zur Belgrader Konferenz über den NATO-Überfall von 1999 geschickt hatten, dürfte vor dem Hintergrund der oben beschriebenen EU-Pläne für den Westbalkan bei den Eurokraten in Brüssel nicht gerade freundlich aufgenommen worden sein. Erschwerend dürfte hinzugekommen sein, dass die russischen Delegierten mit ihren klaren Aussagen zur NATO und zum "Wertewesten" und mit ihrem Werben für einen engeren serbisch-russischen Schulterschluss von den anwesenden Serben immer wieder mit besonderem Applaus gefeiert wurden.

Vergebung gibt es nur für reuige Sünder und nicht für die NATO

Piotr Tolstoi, Vizepräsident der russischen Staatsduma, unterstrich das gemeinsame Los von Russland und Serbien. Zugleich verurteilte der auch physisch große Mann mit mächtiger Stimme den mit zweierlei Maß messenden Wertewesten. Die westliche Forderung nach "vergeben und vergessen" für die durch den Überfall Ermordeten wies er entschieden zurück, denn Vergebung könne es nur für Sünden geben, die bereut wurden. Aber die NATO hat nichts bereut sondern stattdessen an anderen Stellen genauso weitergemacht.

Sergeij Baburin, Vorsitzender der Internationalen Slawischen Akademie der Wissenschaften und ehemaliger Vizepräsident der Staatsduma, erinnerte die Serben daran, dass nach dem NATO-Überfall das russische Parlament eine Anklageschrift mit der Auflistung der NATO-Kriegsverbrechen in Serbien verfasst hatte und dass dieses Dokument immer noch seine Gültigkeit habe. Nur könnte der Kreml nicht serbischer sein als die Serben selbst, weshalb die serbische Regierung in dieser Sache auf dem diplomatischem Parkett die Initiative ergreifen müsse. Erst dann könne Russland vollumfängliche Hilfe leisten.

Dr. Wladimir Kozin, leitender Experte am Zentrum für Militärpolitische Studien und des Moskauer Staatliches Instituts für Internationale Beziehungen hieb in dieselbe Kerbe wie Baburin und bot den anwesenden serbischen Generälen eine weitreichende, serbisch-russische Zusammenarbeit auf militärisch-technischer Ebene an. Aber mehr als anbieten könne er das nicht, die Serben müssten selbst aktiv werden und ihr Interesse zeigen. Direkt an die serbischen Militärs gewandt sagte er: "Seid nicht so scheu".

Das neue Russland sei heute wieder stark, nicht nur militärisch sondern auch politisch und moralisch, und werde niemanden mehr im Stich lassen – das war die Botschaft der Russen an ihre serbischen Freunde. Selbst eine Allianz wurde angeboten. Alle russischen Redner machten klar, dass "das Russland von heute nicht mehr das von 1999" sei. Damit sprachen sie den Verrat führender Leute in der Jelzin-Regierung an, die damals Serbien in seiner schlimmsten Not in Stich gelassen hatten, um sich Washington anzudienen. Der Hauptschuldige war damals Wiktor Tschernomyrdin, der von 1992 bis 1998 russischer Ministerpräsident war und Anfang 1999 von Jelzin als Sondergesandter nach Jugoslawien geschickt wurde, wo er ein falsches Spiel im Sinne seiner neuen westlichen Freunde gespielt hatte.

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Trotz dieser russischen Freundschaftsangebote, die für die Serben sicherlich nicht neu waren, hat der serbische Präsident Aleksandar Vučić bisher nur sehr verhalten auf die russischen Ouvertüren reagiert. Zwar hat auch er einer Mitgliedschaft in der NATO eine deutliche Absage erteilt, denn dabei weiß er das ganze Volk hinter sich, aber bezüglich der EU ist das anders. Vor allem gut ausgebildete junge Leute, die in die EU wollen, demonstrieren jede Woche friedlich im Zentrum Belgrads gegen den Präsidenten und werfen ihm eine zu russlandfreundliche Politik vor.

Präsident Vučić steht somit zwischen zwei Lagern: einem pro-EU und für die neoliberale Westintegration und einem pro-russischen, das die alten serbischen Bande mit Moskau wieder enger knüpfen will. Und im Hintergrund wirkt – sozusagen als tiefer Staat – eine wenig sichtbare aber einflussreiche Kraft, die an die alte "blockfreie" Tradition Jugoslawiens anknüpfen will, und die auf gleiche Distanz sowohl zu Russland als auch zur EU und dem Westen setzt.

Von außen betrachtet sieht das aus, als betreibe Serbien unter Präsident Vučić die aus der Geschichte der Balkanstaaten bekannte Schaukelpolitik. Aber letztlich ließen die wirtschaftlichen Realitäten dem Präsidenten keine andere Wahl, erklärte ein ehemaliges hochrangiges Mitglied der Milosevic-Regierung dem Autor dieser Zeilen. Serbien exportiere viel Mal so viel in die EU als nach Russland. Wenn jetzt Belgrad dem Werben der EU den Rücken kehren und sich einseitig nach Russland orientieren würde, könnte Brüssel Sanktionen verhängen, welche die gerade boomende serbische Wirtschaft wieder in die Knie zwingen würde.

Zugleich leben und arbeiten vier Millionen Serben in EU-Ländern und auch denen könnte Brüssel das Leben erschweren. Daher sei die Politik von Vučić, nämlich Serbiens Entscheidung möglichst lange hinauszuzögern, im Moment das Beste für das Land. Womöglich spekuliere Vučić sogar darauf, dass angesichts des zunehmenden Zerfalls der politischen Zusammenhalts der Europäischen Union die Frage, in welche Richtung sich Serbien orientieren soll, sich in ein paar Jahren von alleine gelöst hat.

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