von Rainer Rupp
„Merkels Abschied“ (ohne Fragezeichen) lautete die Überschrift eines Mitleid heischenden Kommentars, der letztes Wochenende auf der Internetseite des einstigen Flaggschiffes des deutschen Bildungsbürgertums Die Zeit erschienen war. Darin versucht der Autor Ludwig Greven seinen Lesern, vor allem den SPD-Wählern unter ihnen, nochmals ins Gewissen zu reden. Mit einer geradezu verzweifelt anmutenden Schönfärberei würdigt er die unübertroffenen Verdienste der mächtigsten Frau der Welt, der Architektin dieses, unseres Deutschlands, "in dem wir gut und gerne leben". Erwartungsgemäß ignoriert er die implizite Frage, wer mit dem Merkelschen "wir" gemeint ist. Folglich kann es für eine erneute GroKo, und zwar mit Kanzlerin Merkel, keine Alternative geben, weder für die SPD noch für Deutschland und uns alle.
Aber ach je, da gibt es ein Problem: "Merkel weiß: Ihr Schicksal hängt jetzt ganz von den Groko-skeptischen SPD-Funktionären auf", so der Merkel-Bewunderer Greven, der wahrscheinlich genau in der Einkommensschicht beheimatet ist, in der man gut und wahrscheinlich noch besser lebt. Auf Letzteres deutet auch die Benutzung des Begriffs hin, unter dem er all jene SPD-Wähler und Politiker zusammenfasst, die aus guten Gründen eine erneute GroKo ablehnen. Das sind nämlich alles "Funktionäre". Damit will er alle GroKo-Gegner in die Nähe des Miefs von einstigen SPD-Parteiversammlungen in Hinterstuben des Arbeiterviertel und deren "rückwärts" gerichteten Vorstellungen von mehr sozialer Gerechtigkeit rücken. Diese altmodischen Werte aber haben in der neo-liberal organisierten, post-industriellen Gesellschaft keinen Platz mehr. Sie sind im Merkelschen Sinne nicht "marktkonform" und würden daher die Individualisierung der Menschen und deren Befreiung von gesamtgesellschaftlicher Verantwortung behindern, die für die Profitmaximierung des Kapitals zwingend notwendig ist.
Am Wochenende soll der SPD-Parteitag entscheiden, ob es entlang der in den Vorgesprächen mit CDU/CSU getroffenen Absprachen zu richtigen Koalitionsverhandlungen mit Merkel an der Spitze kommt. Nicht nur die Zukunft der deutschen Sozialdemokratie hängt vom Votum der teils widerwilligen SPD-Parteimitglieder ab, sondern auch die von Kanzlerin Merkel. Deshalb macht sich Zeit-Autor Greven Sorgen. Ein SPD-Nein würde nämlich Merkels Abgang von der bundespolitischen Starbühne bedeuten, was sich insgeheim sehr viele CDU- und CSU-Mitglieder wünschen und etliche das sogar in aller Öffentlichkeit fordern. Das sei – so der Zeit-Autor weiter, zwar "ein selbst verschuldetes, unrühmliches Ende, aber eines, das sie nicht verdient hätte". Für letztere Aussage bekam der Autor in Hunderten von Leserkommentaren heftige Schelte.
"Doch. Doch, das hat sie (verdient), und wie. Angela Merkel BRAUCHT dieses unrühmliche Ende", um einen dieser Kommentare zu zitieren. "Sie soll als abschreckendes Beispiel in die Geschichte eingehen", heißt es in einem anderen. Tatsächlich hat Kanzlerin Merkel während ihrer gesamten Amtszeit erschreckend wenig Konsistenz und Berechenbarkeit in ihrer Entscheidungsfindung aufgewiesen. Lange Zeit hat sie nichts getan, nur um am Ende in blinden und kontraproduktiven Aktionismus zu verfallen und dadurch ihr Land, von dem sie Schaden abzuhalten geschworen hat, in eine schwere, anhaltende Krise zu stürzen.
Kanzlerin Merkel ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Wahlbeteiligung in Deutschland auf einen historischen Tiefststand gefallen ist. Mit ihrem Beharren auf dem zerstörerischen, aber für sie "alternativlosen" Neoliberalismus hat sie alle Wünsche der Finanzindustrie erfüllt. Über den Transmissionsriemen EU hat sie mit ihrem Diktate aber im Namen Deutschlands zig Millionen Menschen von Lissabon bis Athen in Arbeitslosigkeit, Armut, Obdachlosigkeit und Verzweiflung gestürzt. Wir haben es auch Kanzlerin Merkel zu verdanken, dass "deutsch" in den meisten Ländern Südeuropas zu einem Schimpfwort geworden ist.
Dennoch wurde Merkel von den Mainstream-Medien als "unersetzlich" gefeiert. Erst die empfindliche Wahlniederlage der CDU im Herbst hat sie verletzlich gegen Angriffe gemacht. Und die haben sich vor allem im eigenen, konservativen Lager gemehrt. Tatsächlich merken seither immer mehr Menschen, dass die bis dato als "mächtigste Frau der Welt" gehuldigte Merkel eine Kanzlerin der "Beliebigkeit" war. Ihre viel gepriesene "Flexibilität" lag in ihrer Fähigkeit, ihre "Überzeugungen" so leicht und oft wie ihre Blusen zu wechseln. "Oben" bleiben war die Devise, egal wie. Mit Regieren hatte das ebenso wenig zu tun wie ihre angebliche "Meisterung der schweren, internationalen Krisen", deren Klippen Kanzlerin Merkel auf der Kapitainsbrücke des Staatsschiffes "Deutschland" angeblich so mutig und gekonnt umschifft hat.
Außenpolitik geht anders. Die Entdeckung, dass die US-Spionagedienste systematisch den Telefon- und E-Mail-Verkehr deutscher Bundestagsabgeordneter, Regierungsmitglieder und Firmenchefs und sogar ihr eigenes Privathandy abgehört haben, hatte nur ihren lahmen Kommentar "Sowas-tut-man-nicht-unter- Freunden" zur Folge. Aber als ihr amerikanischer Freund Bombamer, vielfacher Drohnen-Killer und Hauptverantwortlicher für zahllose Massaker an unschuldigen Zivilisten, ihr in Washington einen hohen US-Orden verlieh, hopste und freute sie sich wie ein Kind.
Völlig unverständlich ist auch ihre kritiklose Unterstützung der US-amerikanischen Brandstifter in der Ukraine. Auch im Mittleren Osten steht sie in der Regel an der Seite der US-Kriegstreiber und leistet bei der Verfolgung deren verbrecherischen, geostrategischen Ziele deutsche Beihilfe.
Unter der Regie von Frau Merkel wurde die Verarmung großer Teile der deutschen Gesellschaft weiter vorangetrieben, und zwar zu Gunsten der selbst ernannten "Eliten" und "Leistungsträger" auf dem Rücken der wirklichen Leistungsträger, der Arbeiter und Angestellten. Es war Frau Merkels "Wir schaffen das"-Politik der offenen Tür für Migranten, die die ohnehin bereits vorhandenen sozialen Spannungen zu einer tiefen gesellschaftlichen Spaltung verschärft hat. Zugleich wurde in ihrer Amtszeit die bürgerliche Demokratie in unserem Land in bisher nie erlebtem Maße in Richtung Marktkonformität und Überwachungsstaat abgebaut.
Mit einer solchen Negativ-Bilanz hat Kanzlerin Merkel in der Tat ein unrühmliches Ende verdient.
Und die SPD-Linken könnten das an diesem Sonntag in Bonn erreichen. Aber dafür dürfen sie sich nicht von ihren Parteioberen Sand in die Augen streuen und aufspalten lassen. Aber die Aussicht auf weitere vier Jahre an den privilegierten Plätzen, an den mit Steuergeldern reich gefüllten Futtertrögen für Minister, Staatssekretäre u. a. sind für das alte, abgewirtschaftete Partei-Establishment der SPD zu verlockend. Deshalb verspricht das mehr oder weniger identische SPD-Spitzenteam, das in der letzten GroKo bereits den SPD-Karren in den Morast gefahren hat, ihren Parteischäfchen einen "Neuanfang". Was für ein Witz!
Trotz vereinzelt angekündigtem Widerstand werden sich die SPD-Schäfchen, wie seit Jahrzehnten gewohnt, auch diesmal wieder von ihren Parteioberen scheren lassen. Als Anhängsel der CDU/CSU wird die SPD weiter Erfüllungsgehilfe sein; d. h. außenpolitisch mit Beteiligungen an neuen Militärinterventionen gemeinsam mit EU, NATO oder USA imperialistisch "Verantwortung" übernehmen und innenpolitisch unsere Demokratie, unsere Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Kulturpolitik noch stärker als bisher den Erfordernissen der "Märkte", d. h. der Konzerne, anpassen.
Kommt es zur GroKo, dann wird sich die SPD in die Irrelevanz katapultieren und am Ende der Legislaturperiode dafür die verdiente Quittung bekommen. Freuen kann man sich darüber allerdings nicht, denn viele Menschen, die der SPD nochmal vertraut haben, werden sich dann enttäuscht und verwirrt nach rechts wenden.
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