von Rainer Rupp
Für die eingefleischten Atlantiker ist der lange Albtraum von Frieden und trägem Wohlstand der Massen endlich vorbei. Das war die frohe Botschaft, die vom Frühjahrstreffen der NATO-Außenministerkonferenz am Dienstag und Mittwoch vergangener Woche in Brüssel ausging. Zu diesem positiven Ergebnis hatte vor allem der neue US-Minister Antony Blinken entscheidend beigetragen. Denn Blinken ist nicht nur Joe Bidens langjähriger Vertrauter und Berater, sondern er hat sich auch in seinen 25 Jahren im Auswärtigen Dienst der USA als herausragender US-Diplomat qualifiziert, der sich mit großem persönlichem Engagement stets für den humanistischen US-Werte-Kanon eingesetzt hat.
In NATO-Kreisen schätzt man Blinken vor allem, weil er als stellvertretender Außenminister unter Präsident Obamas unter großen Anstrengungen erfolgreich mehrere US-Kriege im Nahen Osten angezettelt hat. Gemeinsam mit Joe Biden, Obamas Vize-Präsident, und mit seiner Chefin Hillary Clinton als Außenministerin, damals etwa der Geniestreich gelungen, unter dem Vorwand, den von der CIA unterstützten Islamischen Staat (IS) angeblich bekämpfen zu wollen, eine erneute militärische Intervention im Irak durchzuziehen und das Land wieder unter die Kontrolle der USA zu bringen.
Als nächstes konnte Blinken den gemeinsamen Überfall von USA und NATO auf Libyen und auch den anschließenden Krieg gegen Syrien sowie die US-Unterstützung für den saudi-arabischen Krieg gegen die Zivilbevölkerung im Jemen auf seinem persönlichen Erfolgskonto verbuchen.
Aber nur "Schurken oder Verschwörungstheoretiker in alternativen Medien können in Blinkens Erfolgen etwas Böses sehen", so ein hochrangiger NATO-Mitarbeiter. Denn Fakt sei, "dass das amerikanische Militär gemeinsam mit den anderen NATO-Streitkräften stets auf der Seite der Engel weltweit für das Gute und Schöne, für Demokratie und Märkte und für Freiheit und Menschenrechte kämpft. Das weiß schließlich jedes Kind! Das muss man nicht erst beweisen!" Darauf beruhe auch der Grundkonsens der NATO. Und beim Kampf für das Gute seien die US- und NATO-Soldaten auch schon mal "gezwungen, bösen Menschen mit Bomben, Raketen und Drohnen auf den rechten Weg zu verhelfen." Wo die NATO für die Menschenrechte hobelt, da fallen schließlich auch die sprichwörtlichen "Späne".
Antony Blinken wird im NATO-Hauptquartier hoch angerechnet, dass er mutig ist und sich auch öffentlich zu jedweden Kollateralschäden der humanitären US-Interventionen bekennt. Noch vor wenigen Tagen, am 28. März, erklärte er beispielsweise, dass Präsident Clintons ehemalige Außenministerin Madeleine Albright für ihn schon immer ein Vorbild gewesen wäre. Frau Albright ist eine hoch verehrte NATO-Ikone in allen EU-Hauptstädten, besonders aber in Berlin. So pflegte auch der damalige deutsche Außenminister Joseph Martin "Joschka" Fischer bei der Vorbereitung und Durchführung des NATO-Angriffskrieges gegen die Bevölkerung Jugoslawiens eine besonders enge Beziehung zu Frau Albright, die auch heute noch im Andenken an die gemeinsamen Kriegserfolge auf dem Balkan bei den Bündnis 90-Grünen in Deutschland sehr beliebt ist.
In Brüsseler NATO-Kreisen allerdings bedauert man ein wenig Blinkens beherztes Bekenntnis zu seinem Idol Albright. Denn dadurch habe er den von Moskau ferngesteuerten NATO-Hassern und Verschwörungstheoretikern, die im Westen Fake News verbreiten, eine Steilvorlage für eine gehässige und bösartige Propagandakampagne geliefert. Am besten, verehrte Leserinnen und Leser, urteilen Sie selbst über diesen Vorgang. Am vergangenen Freitag, dem 26. März, hatte Blinken folgende Twitter-Nachricht geschickt:
"Eine meiner Frauen mit Mut ist Madeleine Albright. Denn während ihrer diplomatischen Karriere als US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen und als erste Außenministerin hat sie mit ihrer Hartnäckigkeit und Durchsetzungsfähigkeit bewirkt, dass die USA weltweit wieder stärker respektiert wurden. Sie ist ein Vorbild für mich und für so viele unserer Diplomaten."
"Wie die Hyänen" – so ein anderer NATO-Mitarbeiter – hätte sich Moskaus Fünfte Kolonne der NATO-Feinde auf Blinkens wohlmeinende Unterstützung für eine mutige Frau gestürzt und sie mit Dreck besudelt. Vor allem hätte die Kampagne Frau Albrights unglückliche Formulierung während eines CBS-60-Minutes-Interviews im Jahre 1996 wieder hervorgekramt. In dem Interview hatte Albright – damals war sie noch US-Botschafterin bei der UNO – den Massenmord an 500.000 irakischen Kindern rechtfertigt. So viele irakische Kinder waren laut einer offiziellen Schätzung der UNO seinerzeit Opfer der US-Wirtschaftssanktionen geworden. Diese Sanktionen blockierten nämlich auch Ersatzteillieferungen für die von US-Jets zerbombten Wasseraufbereitungsanlagen und für lebenswichtige Medikamente für die Kinder, die an den von unsauberem Wasser übertragenen Krankheiten – z.B. Cholera – wie die Fliegen dahingerafft wurden.
Trotz vieler Appelle internationaler Organisationen und der UNO, die Sanktionen wenigstens dahingehend zu lockern, das Kindersterben beenden zu können, blieben Frau Albright und – auf ihr Anraten hin – Präsident Clinton hart. Schließlich war man fest entschlossen, die Regierung in Bagdad in die Knie zu zwingen, um das irakische Volk endlich mit Demokratie und westlichen Werte beglücken zu können und um zugleich das irakische Öl für die US-Konzerne zu befreien.
Aus Sicht der USA und der NATO war das eine klare Win-Win-Strategie für alle. Nun aber würde von den Leugnern der NATO-Friedensmission im Irak mit gefühlsduseligen Argumenten versucht, Frau Albright – und damit auch Blinken – wieder mit Dreck zu bewerfen. Der hier verlinkte Ausschnitt aus dem Video zeigt, wie – laut NATO-Kreisen – die CBS Moderatorin Lesley Stahl heimtückisch die US-Botschafterin Albright in die Falle lockte, indem sie fragte, ob der Zweck – nämlich dem Irak Demokratie zu bringen – den Tod von einer halben Million Kinder wert sei. Hier der Originalwortlaut:
Lesley Stahl:
"Wir haben gehört, dass eine halbe Million Kinder gestorben sind. Das sind mehr Kinder als in Hiroshima gestorben sind. Und, wissen Sie, ist der Preis das wert?"Madeleine Albright:
"Ich sagte bereits, das war eine sehr schwierige Wahl, aber wir denken, der Preis ist es wert."
Die NATO-Mitarbeiter in Brüssel sind empört, dass diese auf die Tränendrüse drückende alte Video-Kamelle jetzt wieder hochgespielt wird, um dem NATO-Hoffnungsträger Tony Blinken und damit auch den transatlantischen Beziehungen zu schaden. So seien die alternativen Hetz-Medien derzeit voll mit unerträglich hämischen Kommentaren über Blinken, wie etwa diesen: "Er ist so stolz, eine Frau als Vorbild zu haben, die den Massenmord an Kindern rechtfertigt!"
Gegenüber dem Autor verwiesen einige NATO-Mitarbeiter übereinstimmend darauf, dass Tony Blinken gemeinsam mit ihnen Tag und Nacht an vorderster Front stehe, um uns alle gegen die zunehmend gefährliche, militärische Bedrohung durch Russen und Chinesen zu beschützen und zugleich deren andere böswillige Machenschaften wie die Einmischung in unsere Wahlen und ihre Hackerangriffe zu unterbinden. Dafür hätten sie alle von der Bevölkerung mehr Respekt und Anerkennung verdient!
Generell aber sehen die NATO-Mitarbeiter der Zukunft dennoch optimistisch entgegen. Das Treffen stand schließlich unter der hoffnungsfrohen Losung von Joe Biden: "America is back" (Amerika ist zurück). Im Unterschied zu den Dissonanzen der niederdrückenden Jahre unter dem tyrannischen Donald Trump, der partout keinen neuen Krieg anzetteln wollte und sogar mit dem "Killer" Putin ein gutes Auskommen gesucht hatte, herrschte beim NATO-Ministertreffen der letzten Woche wieder traute Harmonie und Einigkeit über die progressiven Grundwerte der Nordatlantik-Allianz. Laut Blinken und dem NATO-Generalsekretär müssen diese Werte jedoch nicht nur nach Russland exportiert werden, sondern nun auch in den Fernen Osten, ins Südchinesische Meer und direkt bis nach China hinein. Die Globale NATO ist Wirklichkeit geworden.
Tatsächlich war neben Russland nun auch die Volksrepublik China die neue Zielscheibe der NATO-Außenminister. Blinken als Vertreter der Führungsmacht gab den Ton vor und drängte auf eine "kollektive" Reaktion gegen die Bedrohung durch China, natürlich unter US-Führung.
Großzügig – wie Washington ist – ließ Blinken seinen europäischen Vasallen ein wenig Bewegungsfreiheit in Bezug auf China, jedenfalls "dort, wo es möglich ist". Das "wo es möglich ist" bestimmt man natürlich in Washington, und Blinken hat beim NATO-Treffen in Brüssel den verbliebenen Raum zum Manövrieren für zukünftige Kooperation mit China bereits definiert, nämlich "Klimawandel und Gesundheitsschutz". Denn in diesen Bereichen will man selbst in Washington, D.C. noch weiter mit Peking zusammenarbeiten.
Insgesamt aber unterstrich Blinken, "dass China zweifelsfrei durch sein erpresserisches Verhalten unsere kollektive Sicherheit und unseren Wohlstand bedroht". Daher forderte er die NATO auf, sich "auf die Herausforderungen zu konzentrieren, die China für unsere regelbasierte internationale Ordnung darstellt."
Zuvor hatte der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor Reportern bereits vorausschauend in die gleiche Kerbe geschlagen und unterstrichen, dass sich die Atlantische Militärallianz jetzt im Pazifik der "wachsenden Bedrohung durch China" zuwenden müsse. Er warnte, dass Chinas Aufstieg "verheerende Folgen" für die Sicherheit der NATO-Mitglieder habe. "China ist ein Land, das unsere Werte nicht teilt", betonte er. Stoltenberg fügte hinzu:
"Sie [die Chinesen] versuchen tatsächlich, die internationale regelbasierte Ordnung zu untergraben."
Und wo Stoltenberg Recht sieht, da hat er auch Recht, denn China hat seit vielen Jahrzehnten keinen einzigen Krieg vom Zaun gebrochen, im Unterschied zur "Regelbasierten westlichen Wertegemeinschaft". Ganz klar: Staaten wie China oder Iran, die seit Generationen keinen Krieg mehr angefangen haben, stellen mit ihrer Haltung eine Bedrohung für die Unwertegemeinschaft des Westens dar. Ganz klar, dass die USA und ihre NATO-Vasallen mit denen nicht in Frieden leben können.
Abschließend ist anzumerken, dass das Stimmungsbild im NATO-Hauptquartier trotz der erwähnten kleinen Ärgernisse von freudiger Zuversicht geprägt ist. Nach vier Jahren unter Donald Trump, nach vier Jahren Albtraum ohne neue Kriege gibt es wieder Licht am Ende des Tunnels. Der Rüstungs- und sicherheitsindustrielle Komplex jubiliert. Die Generäle freuen sich wieder auf richtige Kriege und neue Auszeichnungen. Zugleich besteht die Hoffnung, dass eine schärfere Gangart gegen Russland und China die träge gewordene Bevölkerung in den NATO-Ländern aus ihrer Wohlstandslethargie weckt, sie revitalisiert und hinter ihren Führern und der NATO gegen die Feinde unserer Werte vereint.
Brüssel, den 1. April 2021
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Mehr zum Thema – Antony Blinken und der transatlantische Reset – Teil 1
Redaktioneller Hinweis: Dieser Artikel wurde uns von unserem 1. April-Spezialkorrespondenten Rainer Rupp zugeschickt. Der Autor war während des Kalten Krieges viele Jahre als Kundschafter des Friedens im politisch-militärischen Zentrum des NATO-Hauptquartiers in Brüssel tätig. Die RT DE-Redaktion wartet bereits gespannt auf die nächste Folge am 1. April 2022.