von Rainer Rupp
Mit der Wahl des US-freundlichen früheren Geheimdienstchefs im Irak zum neuen Ministerpräsidenten in Bagdad scheint sich nun der Wunsch der Regierung in Washington, D.C. zu erfüllen, ohne Gesichtsverlust die US-Truppen auch im Irak belassen zu dürfen.
Die letzten sechs Monate waren im Irak von zunehmenden und zuletzt gar explosiven innen- und außenpolitischen Instabilitäten sowie von enormen wirtschaftlichen Herausforderungen geprägt: innenpolitisch durch die nicht enden wollenden, blutig niedergeschlagenen Massendemonstrationen gegen die von einem größeren Teil der Bevölkerung als korrupt wahrgenommene Regierung und Beamtenschaft.
Außenpolitisch durch eine zunehmende Konfrontation zum amerikanischen Militär, das zwar 2014 von der damaligen irakischen Regierung als Hilfe gegen die übermächtige Terrorbewegung "Islamischer Staat" IS zurück ins Land geholt wurde, das sich aber seither wieder immer stärker mit Besatzer-Allüren als Herr im Land aufspielt und etliche tödliche Luftangriffe gegen schiitische Militäreinheiten der irakischen Armee geflogen und sogar gezielt Mitglieder aus deren Führung ermordet hat.
Und wirtschaftlich sieht es im Irak nicht viel besser aus, zumal auch dieses Land gegen das Coronavirus zu kämpfen hat. Da der irakische Staatshaushalt hauptsächlich von Öleinnahmen gespeist wird, die Ölpreise jedoch schon letztes Jahr gesunken sind und seit dem durch Corona verursachten globalen Wirtschaftskollaps nun gänzlich in den Keller gerutscht sind, steht die Regierung in Bagdad vor schwierigen Ausgabenkürzungen für Löhne, für Gesundheit und Soziales, für Infrastruktur und Bildung.
Der irakische Staatshaushalt benötigt etwa 80 Milliarden Dollar pro Jahr, kann aber in diesem Jahr nur mit Einnahmen von weniger als 30 Milliarden rechnen. Da Bagdad bereits hohe Auslandsschulden hat, ist auch der Ausweg über neue Schulden weitgehend verschlossen. Zugleich ist das Land ethnisch und religiös in arabische Sunniten, arabische Schiiten und kurdische Sunniten dreigespalten, die sich untereinander, oft sogar innerhalb ihrer eigenen Gruppen spinnefeind sind. Auch unter der jetzt vom irakischen Parlament gewählten neuen Regierung ist nicht zu erwarten, dass sich die sozialen und politischen Probleme in Wohlgefallen auflösen, zumal aktuell noch mehr Schwierigkeiten dazu gekommen sind.
Das ist – kurz umrissen – die Ausgangssituation, in welcher der US-freundliche irakische Geheimdienstchef Mustafa Al-Kadhimi jüngst zum neuen Ministerpräsidenten des Irak gewählt worden ist.
Neben den katastrophalen, wirtschaftlichen Problemen, der Corona-Pandemie und den neuen Überfällen durch den IS muss der neue Regierungschef Al-Kadhimi auch eine Lösung dafür finden, wie seine Regierung mit dem Beschluss des irakischen Parlaments vom Anfang Januar 2020 umgehen soll, nach welchem alle ausländischen Truppen im Land (gemeint sind vor allem die US-Truppen) so schnell wie möglich den Irak zu verlassen haben. Dieser Beschluss war die unmittelbare Reaktion der Mehrheit des irakischen Parlaments auf die Ermordung des legendären iranischen Generals Qassem Soleimani und seines irakischen Gastgebers Abu Mahdi al-Muhandis am 2. Januar (Ortszeit) am Flughafen in Bagdad durch eine Rakete, die von einer amerikanischen Drohne abgefeuert worden war.
Al-Muhandis war Kommandeur der mächtigsten iranfreundlichen Schiitenmiliz Kata'ib Hisbollah, die vor einigen Jahren vollständig ins irakische Militär integriert worden war, also nunmehr ein Teil der offiziellen irakischen Armee ist. In den jahrelangen, erfolgreichen, aber aufopferungsvollen Kämpfen gegen die IS-Terroristen hat die Kata'ib Hisbollah-Miliz auch über die religiösen und ethnischen Grenzen hinweg im Irak Anerkennung in der Bevölkerung gefunden.
Daher hat die Tatsache, dass Einheiten der Kata'ib Hisbollah in den letzten Monaten wiederholt Opfer gezielter US-Luftangriffe mit vielen Dutzenden von Toten geworden waren, in großen Teilen der irakischen Bevölkerung für Empörung gesorgt. Vor diesem Hintergrund hatte dann die Ermordung von al-Muhandis und General Soleimani durch die USA die Wut der Iraker auf die US-Besatzer auf die Spitze getrieben. Erst dadurch wurde der Parlamentsbeschluss zum Rausschmiss der US-Amerikaner möglich.
Im US-Pentagon rechtfertigte man die Angriffe auf Kata'ib Hisbollah als Vergeltungsschläge für wiederholte Granaten- und Raketenbeschüsse des großräumigen Geländes der US-Botschaft in Bagdad, die aber bis auf einen US-Söldner keine Opfer gefordert hatten. Keine der vielen Gruppen im Irak, die einen nachvollziehbaren Hass auf die US-Besatzer haben, reklamierte jene Angriffe auf das US-Botschaftsgelände in Bagdad und auf eine US-Basis außerhalb Bagdads für sich.
Dennoch bezichtigten die US-Amerikaner ohne Bedenkzeit oder irgendeine Untersuchung die Kata'ib Hisbollah (KH-Miliz) als Urheber dieser Angriffe. Es schien so, als hätte man nur nach einem passenden Vorwand gesucht, um gegen die iranfreundliche KH-Miliz vorzugehen. Auch die nachfolgenden Militärschläge der Amerikaner gegen die KH-Miliz deuten darauf hin, dass damit andere Zwecke als lediglich "Vergeltung" verfolgt wurden.
Anstatt Ziele der KH-Miliz in oder in der Nähe von Bagdad zu bombardieren, wo man die Täter zu vermuten hätte, wenn sie denn Mitglieder der KH-Miliz gewesen wären, schlugen die amerikanischen Bomber in der irakischen Provinz al-Anbar zu, also Hunderte von Kilometern von Bagdad entfernt unmittelbar an der Grenze zu Syrien. Dort vernichteten sie gezielt KH-Einheiten mitsamt ihrer Infrastruktur, die auf irakischer Seite die strategisch wichtigen Grenzübergänge zu Syrien kontrollierten, z.B. bei al-Qa'im und al-Walid.
Auf der anderen Seite dieser Grenzübergänge befinden sich nämlich die syrischen Gebiete, die nach wie vor von US-Soldaten völkerrechtswidrig besetzt sind. Beide Grenzübergänge sind für die Amerikaner wichtig, denn über al-Qa'im geht es zu den syrischen Ölfeldern, welche die US-Armee vor den rechtmäßigen Eigentümern "beschützt", nämlich vor dem syrischen Volk und seiner Regierung. Und über den Grenzübergang al-Walid geht es zur nur 30 Kilometer entfernten US-Militärbasis at-Tanf in Süd-Syrien.
Dass über beide Grenzübergänge für die in den Weiten der Wüste beiden einzigen befahrbaren Straßen auf irakischer Seite ausgerechnet die iranfreundliche KH-Miliz die Kontrolle hatte, war den US-Truppen schon lange ein Dorn im Auge. Aber anscheinend hatten die US-Bombenangriffe mit vielen Dutzenden Toten und noch mehr Verletzten auf Seiten der KH-Miliz noch einen weitaus dunkleren Grund, auf den später noch eingegangen wird.
Zurück in Bagdad drängte derweil der scheidende irakische Ministerpräsident Adil Abd al-Mahdi auf Grund der kriminellen Missachtung der irakischen Souveränität durch das eingeladene US-Militär die Regierung in Washington, dem Wunsch der Mehrheit der Iraker nachzukommen und die US-Soldaten wieder abzuziehen. Mit geradezu imperialem Hochmut ignorierte man im Pentagon die Entscheidung des irakischen Parlaments und erklärte sie als irrelevant.
Stattdessen behauptete man in Washington, die Mehrheit der irakischen Kurden und Sunniten wollten, dass die US-Truppen im Land bleiben und deshalb würden sie auch dort bleiben. Und tatsächlich gibt es auch einflussreiche kurdische und sunnitisch-arabische Minderheiten, die die USA im Irak halten wollen. Und deren Mann, der Ex-Geheimdienstchef Mustafa Al-Kadhimi, ist nun vom irakischen Parlament zum neuen Ministerpräsidenten gewählt worden.
Mit der bekannten Arroganz eines Imperators konnte es auch US-Präsident Trump nicht lassen, den Irakern zu zeigen, wer in ihrem Haus der Herr ist. In einer seiner berüchtigten Twitter-Nachrichten ließ er sie wissen, dass niemand in Washington auch nur im Traum daran denken würde, den Irak zu verlassen, solange der Irak nicht die Milliarden Dollar bezahlt hat, die das Washingtoner Besatzerregime durch den Bau seiner Luftwaffenbasen im Irak ausgegeben hatte.
Um auf die "Ami-Go-Home"-Fraktion, nämlich auf die schiitische Mehrheit im irakischen Parlament, verstärkt Druck auszuüben, kündigte das Pentagon zeitgleich an, dass die US-Militäroperationen gegen den "Islamischen Staat" ausgesetzt würden. Spätestens nach dieser Erklärung hätten bei den Irakern sämtliche Alarmglocken läuten müssen, zumal sie seit Jahrzehnten nur schlimmste Erfahrungen mit ihren heutigen amerikanischen "Freunden und Helfern" gemacht haben.
Sie hätten sich sofort fragen müssen: "Warum kündigt das Pentagon groß an, seine Operationen gegen den IS auszusetzen, wenn das US-Militär diese Operationen ohnehin bereits weitgehend eingestellt hat?" Mit einem Blick zurück in die jüngste Geschichte, die – trotz aller öffentlich zur Schau gestellter Feindschaft – de facto von einer Zusammenarbeit zwischen der CIA und dem IS zeugt, hätte man in Bagdad die gefährliche Drohung erkennen müssen, die sich hinter dieser US-Erklärung über die Beendigung der US-Militäroperationen gegen den "Islamischen Staat" verbarg.
Noch zur Jahreswende war der Islamische Staat sowohl im Irak als auch in Syrien vernichtend geschlagen. Wer von den Terroristen nicht getötet worden war oder sich mit Hilfe der Türkei nach Libyen abgesetzt hatte, war entweder in dem großen Gefangenenlager von al-Hasaka, das von syrischen Kurden im Auftrag der mit ihnen verbündeten USA bewacht wurde, oder befand sich in einzelnen, versprengten Grüppchen auf der Flucht und versuchte noch, sich in den Irak abzusetzen. Der IS stellte also Ende letzten Jahres keine Gefahr mehr dar. Seither hat sich das – zumindest im Irak – wieder radikal geändert.
In den drei Monaten seit jener US-Ankündigung, nichts mehr gegen den IS zu unternehmen, hat man in Washington, D.C. auf altbewährte Methoden zurückgegriffen, also Terroristen – in diesem Fall wieder den IS – als "nützliche Feinde" zu benutzen, um die eigenen verbrecherischen Ziele durchzusetzen und dauerhaft im Irak zu bleiben. Was wir derzeit im Irak erleben, ist also ein Déjà-vu, denn auch im Jahr 2014 – also drei Jahre nach dem "offiziellen" US-Abzug aus dem Irak – kam das US-Militär schon einmal mit Hilfe des IS in den Irak zurück, damals nicht als Angriffskrieger, sondern angeblich als "Helfer" gegen den (zugleich US-betreuten) IS-Terrorismus.
Im zweiten Teil dieser Folge wird ein kurzer Rückblick gegeben werden, wie es die Regierung in Washington mit Hilfe des "nützlichen Feindes" IS schaffte, nur drei Jahre nach jenem – von der US-Kriegstreiberfraktion heftig kritisierten – US-Abzug aus dem Irak im Jahre 2011 unter Präsident Obama, im Jahre 2014 in Bagdad wieder das Sagen zu haben.
Der dritte und letzte Teil wird zeigen, wie seit Beginn dieses Jahres – vermutlich mit aktiver, aber ganz sicher mit passiver Hilfe der Amerikaner – die IS-Terrorgruppe die politischen Wirren im Irak für ihr Comeback und für neue Angriffe in einer Reihe von irakischen Provinzen ausgenutzt hat. In einigen irakischen Provinzen sind die Regierungstruppen von IS-Jägern sogar wieder zu Gejagten geworden. Derweil verlangen folglich einige sunnitische und kurdische Bevölkerungsgruppen zunehmend lauter den dauerhaften Verbleib der US-Amerikaner in ihrem Land.
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