Boris Johnsons steiniger Weg zum Brexit

Pierre Lévy

In weniger als zwei Wochen hat Boris Johnson gleich drei Wunder vollbracht. Seit er Ende Juli in die Downing Street 10 einzog, musste der britische Premierminister seitens der Anti-Brexit-Parlamentarier jedoch einiges einstecken: Abfuhr, Schmach, Manöver und Blockaden.

von Pierre Lévy, Paris

Sie hatten nur ein Ziel: zwar nicht den Gang der Geschichte umzukehren – denn nur wenige von ihnen glauben nunmehr ernsthaft daran, dass der Austritt des Landes verhindert werden kann –, sondern den Regierungschef daran zu hindern, sein symbolisches Versprechen einzuhalten. Er hatte geschworen, den Brexit am 31. Oktober, einem im vergangenen April mit den EU-27 vereinbarten Termin, in Kraft zu setzen. Die parlamentarische Blockade hat dazu geführt, dass diese Frist abgelaufen ist und eine allerletzte Verschiebung bis spätestens zum 31. Januar 2020 erzwungen wurde.

Dies ist eine gefährliche Strategie seitens der Pro-EU-Abgeordneten. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab ein beunruhigendes Ergebnis: Zwischen 60  und 70 Prozent der Bürger (je nach Region) sind der Ansicht, dass "Gewalt gegen Abgeordnete den Preis wert sein kann", um das Brexit-Problem endlich zu lösen – eine Meinung, die selbst die Mehrheit der Gegner des Austritts aus der EU teilt.

Jede Meinungsumfrage muss natürlich mit Vorsicht aufgenommen werden. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass die Verzögerungen der letzten drei Jahre eine sehr große Mehrheit der Bürger erbittert und verstimmt haben. Das Referendum vom 23. Juni 2016 beinhaltet, dass das Land die Union verlassen muss. Doch diese Entscheidung wird aufgrund der gemeinsamen Bemühungen des britischen Parlaments und der europäischen Staats- und Regierungschefs noch immer nicht umgesetzt. Letztere wollten zeigen, dass die Entscheidung, auszutreten, großen Schaden anrichtet, um andere Staaten davon abzuhalten, dem britischen Beispiel zu folgen.

Schließlich und endlich, auch wenn er die versprochene Frist nicht einhalten konnte, so errang Boris Johnson doch drei politische Siege, die noch vor wenigen Wochen völlig unerreichbar schienen.

Am 17. Oktober wurde mit Brüssel ein neues Austrittsabkommen abgeschlossen, und zwar obwohl die europäischen Staats- und Regierungschefs seit einem Jahr immer wieder wiederholten, dass die im November 2018 von Theresa May unterzeichnete Vereinbarung nicht neu verhandelt werden dürfte und könnte – ohne Wenn und Aber. Im neuen Text sind einige wesentliche Aspekte verändert, die bisher "rote Linien" für die 27 Staaten waren.

Am 19. Oktober verschoben zwar die Parlamentarier die Diskussion und damit die Ratifizierung des genannten Textes, am 21. Oktober aber stimmte eine Mehrheit von ihnen dem Grundsatz eines Gesetzes zur Umsetzung des betreffenden Vertrags in britisches Recht zu. Ein Schritt, den Theresa May nie machen konnte.

Am 29. Oktober schließlich, nach drei erfolglosen Versuchen des Regierungschefs, akzeptierten die Abgeordneten die Auflösung des Parlaments und die vorgezogenen Wahlen für den 12. Dezember. Für Boris Johnson stellt es schließlich die Aussicht auf ein Ende einer parlamentarischen Lähmung dar, die bis dahin endlos schien.

Der erste Sieg, der des neuen Abkommens mit der EU, ist beträchtlich. Der vorherige Text beinhaltete das Risiko, dass das Vereinigte Königreich auf unbestimmte Zeit in der Europäischen Zollunion bleibt. Jetzt wird dieses (nach einem Jahr Übergangszeit) ein eigenes Zollgebiet bilden und somit die Freiheit erhalten, Handelsabkommen mit Drittländern auszuhandeln.

Während der Regierungschef obendrein akzeptieren musste, dass die EU-Vorschriften und -Normen (zum Beispiel Verbraucherschutz) für Waren für Nordirland (Teil des Vereinigten Königreichs) gelten, werden Abmachungen eingeführt, um zu verhindern, dass eine physische Grenze zwischen der Republik Irland (EU-Mitglied) und Nordirland wiederhergestellt wird.

Diese Bestimmungen müssen vom Regionalparlament des Letztgenannten alle vier Jahre wieder gebilligt (oder nicht) werden. Das Sicherheitsnetz ("Backstop"), auf das Brüssel so viel Wert legte und das das Vereinigte Königreich für immer hätte gefangen halten können, wurde daher beseitigt.

Auch der zweite Sieg schien unwahrscheinlich: Das Prinzip der Vereinbarung wurde von den Parlamentariern gebilligt (329 zu 299 Stimmen). Frau May war es trotz dreier Versuche nicht gelungen, dieses Hindernis zu überwinden. Diesmal wurde der Text gebilligt, und zwar sowohl von "radikalen Brexitern" als auch von denen, die sich mit einem Brexit abgefunden haben, sofern er nicht zu "brutal" ("No Deal") ist.

Und auch der dritte Erfolg schien außer Reichweite zu sein, denn die Labour-Opposition – tief hin- und hergerissen zwischen einem Pro-EU-Apparat und den Wählern der Pro-Brexit-Arbeiterklasse – weigerte sich, Neuwahlen zu erlauben, die einem Debakel gleichkommen können. Beim vierten Versuch des Premierministers mussten die Labour-Führer jedoch ihr Veto zurückziehen, da diese Blockade politisch immer unvertretbarer erschien.

Jetzt beginnt also ein sechswöchiger Wahlkampf. Die bevorstehenden Wahlen werden bereits als die wichtigsten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. Alles deutet darauf hin, dass der Brexit im Zentrum des Wahlkampfs stehen wird, in einem Land, das mehr denn je polarisiert ist.

Die Labour-Partei riskiert ein katastrophales Ergebnis. Einige ihrer wohlhabenden und städtischen Wähler, von denen die meisten Pro-EU-Wähler sind, könnten versucht sein, sich den Liberaldemokraten zuzuwenden, die offen dafür plädieren, dass der Brexit vollständig aufgehoben wird. Und Wähler der Arbeiterklasse und der Arbeiterstädte, die traditionellen Hochburgen der Labour-Partei, könnten ihre Partei bestrafen: wegen deren Anschluss an die Pro-EU-Stimmung der Eliten und der unklaren Positionierung ihres Parteichefs Jeremy Corbyn. Einige von ihnen könnten die Entschlossenheit von Herrn Johnson belohnen, der sich nicht einen Zentimeter von der Forderung entfernt hat, die Entscheidung des Referendums um jeden Preis umzusetzen.

Meinungsumfragen geben seiner Partei bisher mehr als zehn Punkte Vorsprung vor der Labour-Partei. Natürlich ist das letzte Wort nicht gesprochen, bis die Wahlkabinen geschlossen sind. Doch nun sind alle Voraussetzungen geschaffen, damit der Brexit endlich Realität wird, auch wenn seine Gegner sicherlich versuchen werden, letzte Manöver durchzuführen.

Denn, wie Attorney General Geoffrey Cox (Rechtsberater der Regierung) in einem sehr britischen Stil betonte: "Die Zeit wird kommen, in der selbst Truthähne Weihnachten nicht mehr verhindern können."

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