von Pierre Lévy
Noch für vier Monate behält der Pole Donald Tusk den Vorsitz im Europäischen Rat. Am Ende des großen Kuhhandels, der zur Kandidatenkür der zukünftigen Spitzenpolitiker der EU am 3. Juli führte, war er scheinbar erfreut, dass zwei Frauen für das Casting-Finale auserkoren wurden: "Ich hoffe, dass diese Wahl viele Frauen und Mädchen in ihrem Kampf um ihre Leidenschaften inspirieren wird". So können wir uns diesen Dialog leicht vorstellen, der sich in den Kindergärten vervielfacht haben muss: "Und Du, was willst Du später machen? … Äh, ich möchte auch gern mal Präsidentin der Europäischen Kommission werden". Rührend!
Vor allem aber zeigt sich im Moment, dass viele Prominente einen angenehmen Übergang von den nationalen politischen Niederungen hoch in die Blase der EU oder gar der globalen Institutionen vollziehen. Ein Stühlerücken, das allseits mit Eleganz vollführt wird; und das für die Geschäftswelt auf höchstem Niveau ebenso ein beliebter Sport ist.
Die jüngsten Nominierungen sind Beispiele unter vielen. So bereitet sich Herr Tusk auf seine Rückkehr nach Warschau vor, wo er sein Amt als Premierminister, das er 2014 verlassen hatte, gerne wieder antritt. Und es wäre sehr überraschend, wenn Federica Mogherini, die bis zum Herbst von Brüssel aus die "Diplomatie" der EU vertrat, nicht Lust hätte, wieder eine wichtige Rolle in ihrer italienischen Demokratischen Partei zu spielen.
Die Beispiele der Neueinsteigerinnen in Brüssel sind besonders aufschlussreich. Ursula von der Leyen, die praktisch bereits zur künftigen Präsidentin der Europäischen Kommission ernannt wurde (vorbehaltlich der wahrscheinlich reibungslosen Bestätigung durch das Europarlament) studierte vier Jahre lang an der London School of Economics und anschließend an der renommierten amerikanischen Stanford University. Zuvor begann sie als Tochter von Ernst Albrecht, der Ministerpräsident in Niedersachsen war, bereits ihre Schulzeit an einer Europaschule in Brüssel – auch das hilft – und startete dann ihre politische Karriere in Deutschland.
Nach verschiedenen Portefeuilles wurde sie Ende 2013 mit dem höchsten Posten im Bundesministerium der Verteidigung betraut. So hat sie nie eine Sitzung der Münchner Sicherheitskonferenz verpasst. Auf dieser Art "Davos-Treffen" von Militärs und Diplomaten hat sie sich regelmäßig vehement sowohl für die Stärkung der NATO als auch für die "Vereinigten Staaten von Europa" eingesetzt.
Die Welt der Rüstung ist auch der Französin Christine Lagarde nicht fremd, die gerade ihrem Wechsel als bisherige Chefin beim Internationalen Währungsfonds (des IWF, den sie seit 2011 von Washington, D.C. aus leitet) zum Chefsessel der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main zugestimmt hat. Von 1995 bis 2002 war Frau Lagarde Mitglied des renommierten Center for Strategic and International Studies in Begleitung des amerikanischen Geostrategen Zbigniew Brzeziński, mit dem sie gemeinsam die Arbeitsgruppe USA-Polen-Verteidigungsindustrie leitete. Sie hatte einen guten Start ins Berufsleben vollbracht, indem sie ihr Studium in den Vereinigten Staaten begann, mit der Promotion abschloss und dann als parlamentarische Assistentin im US-amerikanischen Repräsentantenhaus arbeitete.
Nach ihrem Intermezzo für einige Jahre in Frankreich kehrte sie in die USA zurück, um einer der größten amerikanischen Makler-Agenturen beizutreten, stieg aus der Masse auf und übernahm 1999 schließlich die Leitung. Im Jahr 2005 wurde sie Mitglied im Aufsichtsrat der niederländischen Bankengruppe ING. Im selben Jahr wurde sie französische Ministerin für Außenhandel in der von Dominique de Villepin geführten Regierung. Kaum im Amt, sprach sie sich für eine Reform des Arbeitsgesetzbuches aus, eine Äußerung, deren Beziehung zu ihrem Ministeramt keineswegs offensichtlich war, die aber dennoch den Eliten – insbesondere denen in Brüssel – offensichtlich gut gefiel.
Im Juni 2007 bekam sie dann sogleich das Ministerium für Wirtschaft, Finanzen und Beschäftigung in Paris. Im August – kurz vor der sogenannten "Sub-Prime-Krise", die dann eine große globale Finanz- und Wirtschaftskrise auslöste – wusste sie noch zu verkünden, dass "der Großteil der Krise hinter uns liegt". Die Zeitungen haben auch über ihre Rolle bei der Schlichtung im Fall Tapie berichtet (insbesondere wegen Mittäterschaft bei der Veruntreuung öffentlicher Gelder), wofür sie 2014 vom Gerichtshof der Republik Frankreich für schuldig befunden wurde. Allerdings wurde sie von der Strafe befreit, was ein eher seltener Genuss für diejenigen ist, die nicht zu den Großen dieser Welt gehören. All diese Erfolge qualifizierten sie schließlich, im Jahre 2011 die Leitung des IWF, des weltweit größten Finanzinstituts zu übernehmen.
Im Vergleich zu solchen Leistungen kann der zukünftige Präsident des Europäischen Rates nur recht fade erscheinen. Der Belgier Charles Michel wird diesen Posten ab Dezember übernehmen. Zumindest wird die EU bei seiner Person an Umzugskosten sparen, da der heutige belgische Premierminister (dessen Partei ebenso wie alle Parteien seiner Koalition bei den Parlamentswahlen vom 26. Mai stark verloren hatte) von Brüssel nur nach Brüssel umziehen muß. Bevor er – wer weiß – irgendwann Generalsekretär der Atlantischen Allianz wird? Auch die hat bekanntlich ihren Sitz in der belgischen Hauptstadt. Die Hypothese ist gar nicht so absurd: NATO und EU, als Schwesterorganisationen, tauschen manchmal ebenfalls ihr hochrangiges Personal, wie am Beispiel von Javier Solana zu sehen war, der 1999 "auf kurzem Wege" wechselte.
Herr Michel ist jedoch kein Neuling in dieser kleinen Welt. Sein Vater, Louis Michel, war stellvertretender Premierminister Belgiens und später EU-Kommissar.
Und da das Bild der politischen und wirtschaftlichen Eliten ohne ihre mediale Komponente nicht vollständig wäre, ist der neue Präsident des Europarlaments der Italiener David Sassoli, ein wichtiger Führer der Demokratischen Partei (der Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Matteo Renzi). Als Journalist arbeitete er lange Zeit beim RAI, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, wo er Star-Moderator war. Andererseits: Als MdEP betreute er bereits insbesondere die Liberalisierung des europäischen Schienenverkehrs.
Natürlich teilen alle diese Würdenträger den gleichen grundlegenden unerschütterlichen Glauben an den globalisierten Liberalismus, den Freihandel, die europäische Integration und die euro-atlantische Achse.
Diese Art "beruflicher Mobilität" könnte leicht als Inzucht betrachtet werden. Abgesehen vom bereits erwähnten Fall von Javier Solana ist Dominique Strauss-Kahn zuvor den gleichen Weg gegangen wie Frau Lagarde als seine Nachfolgerin, von Bercy bis Washington. Pierre Moscovici, ebenfalls französischer Finanzminister, wurde als Wirtschaftskommissar nach Brüssel versetzt. Michel Barnier reiste zwischen Paris (unter anderem als Außenminister) und Brüssel (als EU-Kommissar für Regionalpolitik) hin und her, bevor er für die Akte Brexit zuständig wurde.
Pascal Lamy ist vielleicht eines der aufschlussreichsten Beispiele. Er wurde in der europäischen Arena als Stabschef von Jacques Delors ausgebildet und hielt danach fünf Jahre lang das wichtigste Portfolio, nämlich für Außenhandel bei der Kommission, bevor er 2005 als Leiter der Welthandelsorganisation (WTO) auf die andere Seite der Barriere stieg. Im Interview mit der Tageszeitung Le Parisien (07.04.2019) machte er die folgende altväterliche Bemerkung über Christine Lagarde: "Ich habe sie schon in den internationalen Handel eingeführt, als sie jung war. Sie war Außenministerin für internationalen Handel, als ich noch EU-Kommissar war". Wir erfahren also, dass ein Mitglied der Brüsseler Exekutive sich legitimiert fühlt, einen französischen Minister großzuziehen.
Die eine und andere der Persönlichkeiten begegnen sich ständig wieder in formellen internationalen Organisationen, aber auch in informelleren, ja sogar ziemlich diskreten Kreisen, wie etwa zu Bilderberg-Konferenzen, in der Trilateralen Kommission, beim Aspen-Institut oder in der Bertelsmann-Stiftung, um nur die bekanntesten Unbekannten zu nennen.
Allen Ernstes begann doch der Sender Arte seine Fernsehnachrichten am 3. Juli mit der Behauptung: "Alle Europäer haben die Augen auf Brüssel und Straßburg gerichtet", wo die Verhandlungen über die höchsten EU-Posten geführt wurden.
Die Aussage ist besonders komisch, da dieser Kuhhandel bei völliger Gleichgültigkeit der Völker ausgekungelt wurde. Das ist allerdings und zweifellos schade: Denn die Bürger aller Länder konnten im grellen Licht sehr wohl erkennen, dass die Persönlichkeiten, die auf diesem riesigen Ball globalisierter Eliten tanzen werden, alle eines gemeinsam haben: Jede Vorstellung von nationalem Interesse oder Volkswillen ist ihnen im Grunde völlig fremd.
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