von Pierre Lévy
Diese europäischen Führer sind definitiv köstlich. Vor allem, wenn sie in Panik geraten. Die EU-Wahlen könnten einen neuen Tiefpunkt, nämlich im stetigen Sinken der Wahlbeteiligung oder Ansteigen der Zahl von Enthaltungen markieren. Ein Trend, der seit 1979 stetig wächst. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Gesamtbeteiligung 62 Prozent, 2014 waren es nur noch 43 Prozent. In diesem Jahr könnte ein neuer Rekord aufgestellt werden.
Es gibt viele Gründe für diesen Absturz. Der wichtigste Grund wird nie in offiziellen Reden und den Berichterstattungen dominanter Medien erwähnt: Die Straßburger Versammlung beansprucht für sich zu Unrecht, usurpiert geradezu den Titel "Parlament". Denn das Wesen eines Parlaments besteht darin, ein Volk zu vertreten. Und es gibt kein "europäisches Volk".
Große Medien in Kampfordnung - "Zivilgesellschaft" soll mobilisiert werden
Mehr oder weniger deutlich haben immer mehr Bürger eine Intuition davon: Sie werden aufgefordert, durch ihre Abstimmung einer Institution den Anschein von Legitimität zu vermitteln; und einer Europäischen Union damit einen demokratischen Anstrich zu geben, deren Daseinsberechtigung gerade darin besteht, jedem Volk sukzessive die Freiheit seiner politischen Entscheidungen zu entziehen (zum Beispiel das Recht, Entscheidungen zu treffen, die sich radikal von denen in ihren Nachbarländern unterscheiden könnten).
Um an den Wahlurnen das Gespenst eines massiven Boykotts abzuwehren, bringen sich die großen Medien in eine Kampfordnung. Arte schlägt Rekorde und wird zu einem echten Propagandakanal. Auch die "Zivilgesellschaft" soll mobilisiert werden: Es vergeht fast kein einziger Tag, ohne dass ein erbärmlicher Appell zum Thema veröffentlicht wird: "Egal für wen Sie stimmen wollen, aber stimmen Sie ab!"
In Deutschland gaben im März mehrere Manager großer Konzerne den Ton an, darunter von E.ON, RWE und Thyssen-Krupp, die direkt ihre Untergebenen ansprachen. Mehr als hundert französische Firmenchefs und Führungskräfte waren im April ihrem Beispiel gefolgt. Es kam noch besser: Am 29. April veröffentlichte die Tageszeitung Le Monde einen gemeinsamen Aufruf, der in Frankreich von den Präsidenten der Arbeitgeberverbände (einschließlich MEDEF) und den Leitern bestimmter Gewerkschaftsorganisationen (einschließlich CFDT) unterzeichnet wurde, der die Bürger auffordert, sich für "das Europa, das wir wollen" zu "mobilisieren".
Am 1. Mai waren die katholischen Erzbischöfe aus Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg an der Reihe, ihre Herde aufzufordern, gegen die "Bedrohungen durch Brexit, Populismus und Nationalismus" zu stimmen. Die Liste ähnlicher Texte ist schier endlos, darunter auch ein Artikel der kleinen französischen Gruppe Sauvons l'Europe, in dem argumentiert wird, die Abstimmung für die EU sei "eine Verpflichtung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus". Wer hätte das gedacht?
EU-Treffen in Rumänien: Anschein von geschlossener Einstimmigkeit erwecken
Natürlich dürfen die Staatslenker ihrer Nationen selbst nicht übertroffen werden. In einem offenen Brief waren 21 EU-Staatschefs empört und alarmiert: "Erstmals seit Beginn der europäischen Integration wird diskutiert, Integrationsschritte wie die Freizügigkeit rückgängig zu machen oder gemeinsame Institutionen abzuschaffen". Aber sie kamen zu dem Schluss, im Tonfall eines diensthabenden Adjutanten: "Doch ein Zurück (…) darf es nicht geben". (In den restlichen sieben Ländern sind die Staatsoberhäupter gekrönte Häupter, die nicht berechtigt waren, dieser Tirade beizutreten).
Aber es waren in der Tat die politischen Führer – die Staats- und Regierungschefs – der EU-27, die sich am 9. Mai in der rumänischen Stadt Sibiu (auf Deutsch oft noch Hermannstadt genannt) trafen. Termin und Zweck dieses informellen Gipfels wurden seinerzeit in der Panik nach dem britischen Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016 beschlossen. Für die europäischen Staats- und Regierungschefs hatte oberste Priorität zu verhindern, dass die EU wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Das Treffen sollte ursprünglich am Tag nach dem offiziellen Austritt des Vereinigten Königreichs stattfinden. Da dieses historische Ereignis kurzerhand verschoben wurde (vorerst bis spätestens 31. Oktober), hat man schließlich das Datum des "Europatages" gewählt.
Die Übung bestand nun darin, den Anschein von geschlossener Einstimmigkeit zu erwecken – während die Unterschiede und Spannungen zwischen den Mitgliedsländern noch nie so stark waren wie heute – und sich auf einen Appell an die Bürger zu einigen, um sie zu bitten, doch zahlreich in die Wahllokale zu gehen. Und damit erlangt die offizielle Prosa das Erhabene, besonders durch die "Bescheidenheit" der Wortwahl:
"Ein in Frieden und Demokratie wiedervereinigtes Europa ist nur eine von vielen Errungenschaften", verkünden die Eminenzen demütig. Diese schreiben ungeniert weiter: "Seit ihrer Gründung hat die Europäische Union mit ihren Werten und Freiheiten als Triebkraft – innerhalb ihrer Grenzen und darüber hinaus – europaweit für Stabilität und Wohlstand gesorgt". Kurz gesagt: Dank Brüssel haben die Menschen innerhalb der EU, aber auch im übrigen Europa, jahrzehntelang ein so intensives wie friedliches Glück erlebt.
Von ihrem Stolz überwältigt, legen die Gäste von Sibiu "einstimmig" "zehn Verpflichtungen" fest. Darunter ist das Versprechen, "vereint durch dick und dünn (zu) gehen". "Wir werden dort für Ergebnisse sorgen, wo es am wichtigsten ist", führen sie diese moderne Version der Zehn Gebote fort. Und die Autoren hämmern unverdrossen: "Wir werden auch weiterhin die Sorgen und Hoffnungen aller Europäerinnen und Europäer anhören, die Union ihren Bürgerinnen und Bürgern näher bringen und wir werden dementsprechend ehrgeizig und entschlossen handeln". Uff, da sind wir jetzt aber beruhigt.
Beginn des großen Kuhhandels über die Posten
Und das Beste: "Wir werden immer den Schwächsten in Europa helfen, wobei wir die Menschen über die Politik stellen". Eine solche mutige Abwertung der Politik ist sicherlich der Weg, um die Lust zum Gang an die Wahlurnen wiederherzustellen....
Schließlich schwören die EU-27: "Wir werden unsere Bürgerinnen und Bürger schützen und ihre Sicherheit wahren, indem wir in unsere Soft-Power und Hard-Power investieren". Das herrschaftliche "Wir" (über "unsere Bürger") ist bemerkenswert, das sich seltsamerweise auch in einer anderen Verpflichtung wiederfindet: "Wir werden unseren Lebensstil weiterhin schützen". "Wir … unseren …", den der Staatschefs?
Der Gipfel billigte auch die Grundzüge eines "strategischen Programms", das auf der Tagung des Europäischen Rates am 20. und 21. Juni förmlich angenommen werden soll. Zu den wichtigsten Leitlinien gehören das Bestreben, "die Bürger und Freiheiten zu schützen", das "europäische Wirtschaftsmodell für die Zukunft" (einschließlich des freien Wettbewerbs und des Euro) zu entwickeln, "eine grünere, gerechtere und integrativere Zukunft aufzubauen" (einschließlich der Unterstützung von "Gemeinschaften zur Bewältigung des ökologischen Übergangs") und "die Interessen und Werte der EU in der Welt zu fördern" (einschließlich oder vermittels dieser: "Intensivierung der EU-Verteidigungsinvestitionen und Stärkung der Zusammenarbeit, auch mit der NATO").
Schließlich sollen die EU-27 am 28. Mai gleich noch zu einem weiteren Sondergipfel zusammenkommen. Auf der Tagesordnung steht (nicht wortwörtlich!): Der Beginn des großen Kuhhandels über die Posten der zukünftigen Präsidenten der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates, der Europäischen Zentralbank und des EU-Außenbeauftragten. Schon jetzt werden die Messer gewetzt.
Zum Schluss ihrer Erklärung versprechen die europäischen Staats- und Regierungschefs voller Demut:
Die Entscheidungen, die wir treffen, werden sich von Geist und Buchstaben dieser zehn [am 9. Mai 2019 verkündeten] Verpflichtungen leiten lassen", denn "dies ist unsere Verpflichtung gegenüber den künftigen Generationen.
Natürlich gilt dies alles sowieso unabhängig vom Ausgang der Wahlen am 26. Mai (und der bevorstehenden nationalen Wahlen). Eine bessere Definition der "Demokratie" im europäischen Stil hätte es nicht geben können.
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