von Pierre Lévy
"Die Wahrheit, ein Kriegsopfer" - so lautet der Titel einer vor knapp einer Woche erschienenen Kolumne in der großen französischen Tageszeitung Le Monde. Eigentlich hätte zum Text besser die Überschrift "Die Wahrheit, Opfer Russlands" gepasst. Denn die Redaktionsleiterin des Blattes legt ihren Lesern hier tatsächlich eine lange Anklagerede gegen Moskau vor. Ohne große Überraschungen und kunterbunt durcheinander gewürfelt wird alles aufgenommen: Chemiewaffeneinsatz im syrischen Ghuta, die Affäre Skripal, das Drama des Malaysia-Airlines-Fluges, die Ukraine, die Krim, hybride Kriegsführung...
Und jedes Mal wird Wladimir Putin dabei erwischt, wie er lügt, unaufrichtig ist, schändliche Propaganda betreibt. Für Sylvie Kauffmann ist eines der charakteristischen Merkmale, die der aktuellen internationalen Lage einen "neues Gesicht" geben, dass "Russland, Experte auf diesem Gebiet, in Friedenszeiten auf Unwahrheiten zurückgreift".
Gerassimow sprach über die Farbrevolutionen
Vor Emmanuel Macron zieht sie ihm Gegensatz dazu den Hut und erinnert daran, wie liebenswürdig dieser sich noch vor kurzem über seinen russischen Kollegen geäußert hat. Dem französischen Präsidenten zufolge hat Wladimir Putin
viele falsche Nachrichten verbreitet. Er betreibt eine sehr starke Propaganda und interveniert überall, in Europa und den Vereinigten Staaten, um unsere Demokratien zu schwächen.
Und dieses Mal hält die Journalistin den ultimativen Beweis für die russische Schuld in der Hand. Sie hat ein Quasi-Schuldeingeständnis aus der Feder des russischen Generalstabschefs gefunden. In einem Artikel, der 2013 in einem Verteidigungsmagazin erschienen ist, schildert Waleri Gerassimow "den Einsatz von Sondereinheiten und interner Opposition, um eine permanente operative Front im gesamten Gebiet des feindlichen Staates zu schaffen, sowie von Informationsmaßnahmen mit fortwährend perfektionierten Mitteln." Und unsere Kollegin zieht triumphierend den Schluss: "Die hybride Kriegsführung ist geboren." Der Leser versteht natürlich: in den Gehirnen und Absichten der Russen.
Doch leider hat die Redakteurin in ihrer Begeisterung vergessen, den Kontext des zitierten Artikels zu erwähnen. Weit davon entfernt, ein - im Übrigen merkwürdiges - Schuldbekenntnis darzustellen, behandelt dieser militärischen Konflikte, "die mit sogenannten Farbrevolutionen in Nordafrika und dem Nahen Osten verbunden sind". Anders ausgedrückt, er stellt seine Analyse der ... westlichen … Methoden dar.
Wenn es hier nicht um DIE französische Tageszeitung schlechthin ginge, die selbstverständlich über jeden Zweifel erhaben ist, hätten böse Geister also durchaus an Fake-News denken können.
"Gemeinsame Maßnahme der Cyber-Beeinflussung"
Doch die in Le Monde erschienene Kolumne hält noch eine andere Stilblüte bereit. Man hat nämlich gerade erfahren, dass die französische Beteiligung an den Bombenangriffen auf Syrien, die in der Nacht des 13. April stattgefunden haben, von "einer gemeinsamen Maßnahme der Cyber-Beeinflussung in den sozialen Netzwerken" ergänzt wurde. Wenn man diese Worte richtig versteht, können sie nur bedeuten, dass die französische Armee in dem Versuch, die Operation vor den Bürgern zu rechtfertigen, vorsätzlich Fake-News auf Facebook und Twitter verbreitet hat.
Nun steht, grausame Ironie des Schicksals, diese ganz offensichtlich aus guten Quellen stammende Sensationsmeldung - denn es ist eine - auf Seite 3 der Ausgabe von Le Monde zu lesen, in der am gleichen Tag auch die Kolumne der Redaktionsleiterin erschienen ist. Diese hatte den Artikel ihrer in der Redaktion der Tageszeitung auf militärische Fragen spezialisierten Kollegin vielleicht nicht gelesen...
Denn sonst wäre Sylvie Kauffmann nicht so unvorsichtig gewesen, zu schreiben, dass die Wahrheit zu verfälschen
nun zu den Kriegswaffen der nicht demokratischen Mächte gehört.
Oder muss man es so verstehen, dass ein Frankreich unter Macron von nun an zu dieser unheilvollen Kategorie gehört?
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