von Pierre Lévy, Paris
Auch wenn am 26. September ein spannender Wahlabend in Berlin bevorstehen könnte, gibt es aus französischer Sicht wenig oder gar keine Ungewissheit darüber, welche Politik die nächste Bundesregierung tatsächlich verfolgen wird. Denn inhaltlich sind die von den Parteien vertretenen Orientierungen nicht durch große Unterschiede gekennzeichnet. Natürlich fallen einige Nuancen im Marketing auf, um die Wähler zu motivieren, die grundlegenden Optionen der verschiedenen Seiten bleiben inhaltlich nah.
Außerdem besteht kein Zweifel daran, dass nach den Wahlen eine Koalition von Parteien einen Kompromiss über das nächste Regierungsprogramm erzielen muss. Man wird schon sehr genau hinsehen müssen, um die Politik, die morgen verfolgt wird, von der zu unterscheiden, die seit 2005 gemacht wird, seitdem die derzeitigen "Gegner" gemeinsam regieren – abgesehen von dem Bündnis zwischen der CDU/CSU und der FDP von 2009 bis bis 2013, das allerdings auch nicht von einem Bruch gekennzeichnet war...
Die grundsätzliche Nähe der großen politischen Kräfte, die vorgeben, miteinander in Konflikt zu stehen, ist keine deutsche Besonderheit. Trotz nationalen Besonderheiten ist es in Madrid, in Rom (wo fast alle Parteien der aktuellen Koalition gehören, von der PD bis zur Liga), in Den Haag, in Brüssel oder in Kopenhagen ähnlich... Und natürlich in Paris, wo der derzeitige Präsident, der sich voraussichtlich im nächsten Frühjahr zur Wiederwahl stellt, 2017 den Élysée-Palast betrat, indem er verkündete, er sei "sowohl links als auch rechts".
Einheitsbrei ist systembedingt
Eine solche Situation ist nicht überraschend. Die wichtigsten Orientierungen, insbesondere im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, sind auf EU-Ebene "harmonisiert". Die EU-Verträge lassen zwar Wahlen zu, legen aber im Voraus den Rahmen fest, innerhalb dessen die glücklichen Mandatsträger Entscheidungen treffen dürfen. So lässt die in den Gründungstexten verankerte vierfache Freizügigkeit – von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und natürlich Kapital – wenig Spielraum für nationale "ketzerische" Optionen.
Und die Funktionsmechanismen der EU – "Gruppendruck", Mehrheitsentscheidungen – zwingen jede Regierung, die (sogar nur geringfügig) von den Regeln abweichen möchte, dazu, schnell nachzugeben. Es hat nur sechs Monate gedauert, bis die EU Alexis Tsipras wieder in den Schoß der Austerität geholt hat, zumal der griechische Regierungschef immer den Vorrang der EU-Mitgliedschaft vor der Umsetzung seiner Wahlversprechen geltend gemacht hat.
Solange die politischen Parteien in ihrer Loyalität gegenüber der EU geeint sind, ist es für sie strukturell unmöglich, originelle Entscheidungen vorzuschlagen, die als einzige eine Trendwende zugunsten der Mehrheit der Menschen, angefangen bei den am meisten Benachteiligten, herbeiführen könnten.
Es gibt jedoch einen Bereich, in dem Brüssel zum Leidwesen der Eurokraten nicht wirklich die Oberhand über nationale Entscheidungen hat: die Außenpolitik. Und in diesem Gebiet wird es interessant sein, genau zuzuschauen, welche Optionen die künftige Bundesregierung bevorzugen wird.
Schrittweise Veränderungen in der Außenpolitik?
Zumal Deutschland, die dominierende Wirtschaftsmacht in Europa, nun an einem Scheideweg zu stehen scheint. Nach den "Trump-Jahren" (die in Wirklichkeit weiterlaufen); nach der von der Pandemie verursachten Wirtschaftskrise (die eine weitere finanzielle Integration der EU rechtfertigte, entgegen den bis dahin geltenden Dogmen der deutschen Eliten); nach dem westlichen Debakel in Afghanistan (wo "Uncle Sam" bekannt gab, dass die europäischen Verbündeten kein Mitspracherecht bei den Operationen hatten, obwohl sie an diesen beteiligt waren), erwartet man mit Interesse die zukünftigen Orientierungen Berlins.
Umwälzungen sind keine zu erwarten. Aber es könnte sein, dass sich die Beziehungen – diplomatisch, politisch, wirtschaftlich – zu Brüssel und Paris, zu Washington, zu Moskau und zu Peking in Zukunft schrittweise verändern werden.
Auf dem Tisch der herrschenden Eliten liegen mehrere grundlegende Elemente, die natürlich bestehen bleiben werden, deren relatives Gewicht sich aber ändern könnte. Da ist natürlich die angeborene Bindung an die atlantische Unterordnung (da sie mit der Geburt der Bundesrepublik einherging); da ist die Überzeugung, dass das Streben nach europäischer Integration unausweichlich ist, um den Interessen zu dienen, die die deutsche Oligarchie sieht, also dem globalen Gewicht Deutschlands; da ist die traditionelle Rhetorik des "notwendigen deutsch-französischen Motors"; da ist die wachsende Verärgerung vieler Industriekonzerne über die Verschlechterung des Handels mit Russland, dessen potenzielles Gewicht in keinem Verhältnis zu den (begrenzten) Aussichten in der Ukraine steht, ganz zu schweigen von dem Bedarf an Energie; und da ist die ambivalente Wahrnehmung Chinas, das sowohl ein Land der riesigen Exportchancen als auch eine Macht ist, die nicht zögert, deutsche Wirtschaftsperlen ins Visier zu nehmen.
Die zu treffenden Entscheidungen werden natürlich kohärent sein. Werden die Ultra-Atlantiker ein Comeback feiern? Werden die Befürworter der "europäischen Einigung" auf Kosten von Dogmen wie der Ablehnung einer "Transferunion" ihre Stellung ausbauen? Werden die Befürworter einer Rückkehr zu einer verlockenden Offenheit gegenüber Russland wieder Farbe bekennen? Werden sich die Architekten des totgeborenen Abkommens über die Liberalisierung von Investitionen zwischen Peking und der EU rächen?
In Wirklichkeit kennt heute niemand die genaue Antwort auf diese Fragen, da sie von den künftigen Auseinandersetzungen hinter den Kulissen in Berlin abhängen wird. Hinter den Kulissen, denn diese Fragen werden den Wählern nicht wirklich vorgelegt: Die Befürworter dieser oder jener Wahl sind nicht eindeutig in dieser oder jener Partei zu finden, sondern in jeder von ihnen verteilt, zumindest bei den beiden traditionellen "Volksparteien".
Nach der Wahlfeier werden hinter den Kulissen, in den diskreten Machtverhältnissen zwischen und innerhalb der Parteien, die künftigen Kraftlinien der deutschen Außenpolitik gezogen werden.
Das ist es, was die postmoderne Sprache "Demokratie" nennt.
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Pierre Lévy ist ein französischer Journalist. Er war ehemaliger Redakteur der Tageszeitung L'Humanité von 1996 bis 2001. Er ist Chefredakteur der Monatszeitschrift Bastille-République-Nations, die jetzt Ruptures heißt. Sein Themenschwerpunkt ist die Europäische Union.
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