von Pierre Lévy
Denn dieses Projekt würde eine grundlegende Umstrukturierung des Unternehmens Électricité de France (EDF) bedeuten. Die Gewerkschaften fürchten, dass es auf eine Demontage von EDF und die Privatisierung der profitabelsten Teile des Unternehmens hinauslaufen wird.
Herkules wurde Mitte 2019 von der Geschäftsführung des bisher staatlichen Konzerns ausgearbeitet und basierte damals auf der geplanten Aufteilung in zwei Einheiten, die jeweils "EDF bleu" (blau) und "EDF vert" (grün) heißen sollen. Die blaue Sparte soll die Kernkraftwerke (ca. 70 Prozent der gesamten Stromproduktion Frankreichs) und das Netz der Hochspannungsleitungen umfassen; die grüne Sparte bündelt den Vertrieb, die dezentrale Verteilung (durch die Netze der Mittel- und Niederspannungsleitungen), Dienstleistungen und die sogenannten erneuerbaren Energien (Wind, Solar etc.) umfassen. Nun ist neuerdings noch die Rede von einer dritten Einheit, "EDF azur", die für die Wasserkraft zuständig sein soll (also Staudämme, die ca. 11 Prozent der Energiebereitstellung leisten).
Einzig EDF bleu soll künftig ausschließlich im Besitz der öffentlichen Hand belassen werden. Aber die grüne EDF wäre offen für privates Kapital, während sie bis zu 70 Prozent eine Tochtergesellschaft der blauen EDF bliebe.
Um diesen Umbruch zu verstehen, muss man bis ins Jahr 1996 zurückgehen, zum Datum des ersten "Energiepakets", das für die ganze Europäische Union (EU) ausgeheckt wurde von der Europäischen Kommission und dann von den EU-Mitgliedsstaaten brav verabschiedet wurde. Und zwar versehen mit den Schlagworten: "Deregulierung" und "Einführung von Wettbewerb". Dies bedeutet jedoch zugleich, dass künftig den integrierten nationalen staatlichen Monopolen für die Bereitstellung, den Transport und die Verteilung von Energie ein Ende gesetzt werden musste.
Weitere "innovative Pakete" der EU haben dieses Ziel bestätigt und konsolidiert, so etwa 2003 und 2009. In Frankreich hatte die Regierung Jospin (aus Sozialisten, Kommunisten und Grünen) bereits 1999 gehorsam den Markt für die größten Kunden liberalisiert. Der "Wettbewerb" wurde danach schrittweise noch ausgeweitet und ist seit 2007 komplett auch für kleine Unternehmen geöffnet, und letztendlich sogar auch für die Privatkunden. Letztere können jedoch immer noch einen von EDF vorgeschlagenen "staatlich regulierten" Versorgungstarif wählen.
Den Oberen in Brüssel reichte das aber noch nicht: "Alternativen" Anbietern müssten sämtliche schönen Möglichkeiten offenstehen. So wurde 2010 das als "Neue Organisation des Strommarktes" (NOME, Nouvelle organisation du marché de l'électricité) bekannte Gesetz verabschiedet, das insbesondere eine besonders merkwürdige Festlegung enthält: Der "historische" Betreiber EDF wird gezwungen, ein Viertel seiner Atomstromproduktion an seine Konkurrenten zu verkaufen, damit diese von billigem Strom profitieren, den sie dann an ihre Kunden weiterverkaufen werden. Dieser Zwangsverkauf wird "Regulierter Zugang zum Atomstrom" genannt (Accès régulé à l'électricité nucléaire historique, ARENH).
Für die privaten Energieunternehmen ist es wie das sagenumwobene Füllhorn: Sie tragen nicht die Last schwerer Produktionsinvestitionen (Kraftwerke usw.), die jahrzehntelang von der Gesellschaft finanziert wurden; und es steht ihnen überdies frei, Preise anzubieten, die unter dem staatlich regulierten Tarif liegen, indem sie vor allem die Löhne und Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten drücken. Ein besonders aggressiver kommerzieller Ansatz tut sein Übriges und führt bei EDF zu einem Verlust von mehr als 100.000 Abonnenten pro Monat, obwohl das Unternehmen immer noch fast 25 Millionen treue Kunden hat.
Für die „alternativen“ Anbieter ist das System unglaublich vorteilhaft: der Tarif, zu dem sie Strom von der EDF kaufen, wurde 2012 auf 42 Euro pro Megawattstunde (MWh) festgelegt, ein Preis, der sehr niedrig angesetzt ist. Und kein Indexierungsmechanismus wurde vereinbart. Wenn die Marktpreise hoch sind (sie steigen derzeit stetig an), bleibt EDF dennoch gezwungen, zu den einmal festgelegten niedrigen Preisen zu verkaufen, was selbstverständlich zu großen Einnahmeverlusten führt.
Darüber hinaus kaufen private Anbieter, wenn sie mehr als das von EDF für sie reservierte Viertel erwerben wollen, ihre Lieferungen auf den Märkten ein, oft zu einem höheren Preis. Das macht es für sie eigentlich schwieriger, besonders "wettbewerbsfähig" zu sein. Doch in diesem Fall ist auch das kein Problem: Die Energieregulierungskommission (CRE, Commission de régulation de l'énergie), ein von Brüssel durchgesetztes nationales Gremium, hebt den regulierten Tarif für Privatkunden sogleich an, mit dem erklärten Ziel, Privatunternehmen wieder wettbewerbsfähig zu machen. Das ist so grotesk, dass sogar die Wettbewerbsdirektion in Wirtschaftsministerium gemault hat. Aber die CRE ist nun einmal – "unabhängig".
Die Einführung des Wettbewerbs, der angeblich den Verbrauchern zugutekommen sollte, hat also im Endeffekt doch zu höheren Preisen geführt. Die durchschnittliche Stromrechnung eines Haushalts ist damit von jährlich 319 Euro noch im Jahre 2006 auf mittlerweile jährlich 501 Euro im Jahr 2019 angestiegen (zugegebenermaßen sind darin auch noch die Umlagen der hohen Subventionen für erneuerbare Energien enthalten).
Pfänder für Brüssel
Das NOME-Gesetz soll 2025 auslaufen. In diesem Zusammenhang kommt nun das eingangs erwähnte, noch "gewichtigere" Herkules-Projekt ins Spiel. Niemand kann sich vorstellen, dass die Kommission ihren Druck zur Aufrechterhaltung oder gar Ausweitung der Liberalisierung lockern wird. Es scheint also, dass die EDF-Geschäftsführung Brüssel im Gegenzug für den Verzicht auf ARENH im Voraus Zusagen machen wollte.
Die skizzierte Aufteilung nach dem Herkules-Prinzip sollte der Europäischen Kommission durchaus gefallen: Auf der einen Seite eine Sparte – die Atomkraft –, die teure und langfristige Investitionen erfordert, also genau das, was privates Kapital nicht gern schultert; auf der anderen Seite eine Sparte, die viel attraktiver ist, weil sie gesicherte Einnahmen verspricht (die Kunden) sowie eine sehr attraktive Rentabilität in die "neuen Energien", die sowohl sehr modern als auch hoch subventioniert sind.
Die Aufspaltung der EDF würde also dazu führen – so hoffen die Bosse –, dass Brüssel seine Forderungen nach Liberalisierung mäßigt und auf ein starres System à la ARENH verzichtet, was eine erhebliche finanzielle Erleichterung bedeuten würde.
All dies steht derzeit im Mittelpunkt der aktuellen Verhandlungen zwischen Brüssel und dem französischen Wirtschaftsministerium, und zwar in einem Kontext, in dem Emmanuel Macron noch nie als großer Verteidiger dieses staatlichen Konzerns aufgetreten ist. Der Élysée-Meister ist sich aber wahrscheinlich des Aufschreis im ganzen Lande durchaus bewusst. Dieser Unmut würde aus einer totalen Unterwerfung unter die "Liberalisierung" durch die EU resultieren und zeichnet sich mittlerweile bereits unter den Parlamentariern aller Parteien (einschließlich innerhalb der regierenden Koalition) ab.
Die aktuellen Verhandlungen werfen eine Vielzahl von Fragen auf: Wie wird der rechtliche Status von EDF Bleu sein? Wird diese Einheit die gesamten Schulden tragen? Man kann darauf vertrauen, dass die Kommission alles ahnden wird, was einer Gruppe, die in öffentlicher Hand verblieben ist, noch irgendwelche Vorteile verschaffen könnte; Diese öffentliche Sparte würde es Frankreich nämlich erlauben, als Hauptlieferant des mit dem freien Wettbewerb unvereinbaren Atomstroms dazustehen – was in Brüssel ziemlich verpönt ist. Derzeit kann also niemand sicher sein, dass überhaupt ein Kompromiss gefunden wird.
Vorausgesetzt, dass doch noch ein Kompromiss zustande kommt, der Rückendeckung aus Brüssel findet, müsste der auch noch vom Parlament verabschiedet werden. Ein Gesetzentwurf müsste dann bis zum Ende dieses Frühjahrs vorgelegt werden, bevor nämlich der Präsidentschaftswahlkampf beginnt. Das Zeitfenster ist also eng, und die Schlacht hat gerade erst begonnen.
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