von Pierre Lévy
Auch wenn man eine Überraschung nie ausschließen kann, so ist die erste Hypothese die wahrscheinlichste: London und Brüssel sollten schließlich am Ende doch noch einen Kompromiss über ihre zukünftigen Beziehungen finden – in dem Wissen, dass die "Übergangsperiode" am 31. Dezember unwiderruflich endet. An diesem Tag wird das Land, was auch immer geschehen mag, seine volle Souveränität wiedererlangt haben.
Die großen europäischen Medien, die die Entscheidung des britischen Volkes nie wirklich geschluckt haben, verspotten die Dauer der Gespräche, die mindestens drei aufeinanderfolgende Fristen immer wieder haben verstreichen lassen. Welch unendliche Folter, klagen sie. In Wirklichkeit muss man jedoch bei Verhandlungen zwischen Taktik und Inhalt unterscheiden. Unter ersterer kann die Lage des einen und des anderen Verhandlungspartners verstanden werden. London hat zum Beispiel angekündigt, die Royal Navy zu mobilisieren: man will damit garantieren, dass keine europäischen Fischer in britische Gewässer einlaufen – für den Fall, dass kein Abkommen unterzeichnet wird. Und es wurde auch damit gedroht, einseitige Ausnahmen vom Austrittsvertrag (des Jahres 2019) zu dekretieren. Brüssel erklärt seinerseits, einem "No Deal" (also ohne Einigung) entspannt entgegenzusehen. Taktisch hat niemand ein Interesse daran zu zeigen, dass er sehr ungeduldig auf einen Kompromiss wartet.
Man sollte aber eher auf den Inhalt schauen. Zunächst einmal soll daran erinnert werden, dass etwa 90 Prozent eines möglichen Abkommens bereits geregelt sind – insbesondere in den Bereichen Verkehr, Energie, Sicherheit und anderen. Es gibt aber noch drei Stolpersteine: Erstens will London das Recht zurückgewinnen, darüber bestimmen zu können, wer in seinen Gewässern fischen darf. Wer würde zu behaupten wagen, eine solche Forderung sei unrechtmäßig? Dieses Prinzip wird sich durchsetzen. Aber der britische Premierminister könnte einer schrittweisen Umsetzung zustimmen, mit Zeitlimits und Quoten.
Der zweite Punkt betrifft "gleiche Wettbewerbsbedingungen". Von Anfang an haben die 27 EU-Staaten einen "quoten- und zollfreien" Zugang zum EU-Binnenmarkt angeboten – aber unter der Bedingung, dass die Briten alle EU-Vorschriften einhalten, sowohl die aktuellen als auch die zukünftigen. In zehn Monaten hat sich Brüssel nicht ein Jota von diesem absurden Ukas entfernt. Es weigert sich zu verstehen, dass die Briten sich nicht entschieden haben, die Union zu verlassen, um weiterhin deren Zwänge zu akzeptieren. Aber Brüssel betonte eindringlich: Wir müssen uns vor jeglichem Steuer-, Sozial- und Umweltdumping schützen. Das Argument ist spaßig – als ob es bis heute kein Steuerdumping innerhalb der Union gäbe (Irland, Luxemburg...), als ob der Wettlauf um die schlechtesten Arbeits- und Lohnbedingungen nicht schon traurige Realität wäre (slowakische oder baltische LKW-Fahrer), als ob Großbritannien sein Klimaprogramm (ob uns das gefällt oder nicht) nicht schon drastischer aufgestellt hätte als jenes der EU... In der Schlussphase scheint der europäische Chefunterhändler jedoch endlich aufgegeben zu haben, eine automatische Anpassung an künftige europäische Regeln zu fordern, ebenso wie den automatischen Sanktionsmechanismus, den er bisher verteidigte.
Letzter Punkt: Jedes Freihandelsabkommen sieht eine Streitschlichtungsstelle vor. London will ein unparteiisches Gericht und weigert sich deshalb, den EU-Gerichtshof als Ankerpunkt für künftige Schiedsverfahren zuzulassen. Auch hier ist die Akzeptanz einer Position des gesunden Menschenverstands durch die Siebenundzwanzig der Schlüssel zu einem Kompromiss.
In Wirklichkeit ist man in Brüssel zwischen zwei widersprüchlichen Imperativen gefangen. Auf der einen Seite muss gezeigt werden, dass der Austritt aus der "europäischen Sekte" nur um den Preis furchtbaren Leids möglich ist – es sei denn, man akzeptiert einen Pseudo-Ausstieg, der die Zwangsjacke intakt lässt. Kurzum, zukünftige Kandidaten müssen abgeschreckt werden. Andererseits hätte die Wiedereinführung von Steuern und Bedingungen für den Handel schädliche Folgen für die Siebenundzwanzig selbst, insbesondere für Deutschland, den zweitgrößten Exporteur der Welt. Das erklärt, warum Angela Merkel hinter den Kulissen auf einen Kompromiss drängt, und zwar dort, wo der französische Präsident sich als Großmaul betätigt hat.
Viele europäische Kommentatoren verspotten diese Briten, "die immer noch an die Souveränität glauben", diesen Mythos, der durch die Globalisierung obsolet gemacht wurde – ihrer Meinung nach. Sie wären gut beraten, auf das Geraune der Völker aufzupassen, das überall auf der Welt zu hören ist. Heute auch in Europa. Und morgen erst recht.
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