Mehr Souveränität wagen? – Das transatlantische Verhältnis nach den US-Präsidentschaftswahlen

Pierre Lévy

Der Sieg Joe Bidens bei den US-Präsidentschaftswahlen löste Begeisterung unter den europäischen Transatlantikern aus. Doch insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland wächst der Dissens: Soll Europa mehr Autonomie wagen oder sich weiter der Führung der USA unterordnen?

von Pierre Lévy 

Und was nun? Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs und die ihnen loyale Presse gejubelt haben, als der Sieg des demokratischen Kandidaten Joe Biden im Rennen um das Weiße Haus bestätigt wurde. Der Chef der EU-Diplomatie begrüßte es als "einen großen Tag für die USA und für Europa", sein NATO-Kollege ging noch weiter, während der Präsident des Europäischen Parlaments die "gemeinsamen Werte" der USA und der EU betonte.

Pablo Iglesias, spanischer Vizepremierminister und Anführer der "radikalen Linken" (!), freute sich seinerseits: "Trump hat die Wahl verloren, das ist eine sehr gute Nachricht für den Planeten, die globale extreme Rechte hat ihren wichtigsten politischen Sponsor verloren."

Aber nach der Euphorie des Augenblicks ist allen bewusst, dass, auch wenn der Ton in Washington freundlicher und herzlicher zu werden verspricht, die Liebe zu Europa für den künftigen Präsidenten keine Priorität haben wird. Handelsverhandlungen werden weiterhin ein Thema der Konfrontation bleiben. Und die Forderung, die europäischen Verbündeten sollten im NATO-Rahmen zwei Prozent für Militärausgaben aufwenden, wird nicht aufgegeben werden: Sie war nämlich bereits 2014 von Barack Obama aufgestellt worden, als Biden Vizepräsident war.

Ein großer Teil der künftigen transatlantischen Beziehungen wird in Deutschland, dem vorrangigen Angriffsziel Donald Trumps während seiner vierjährigen Präsidentschaft, entschieden werden. Die deutsche politische Klasse hat die transatlantische Loyalität in ihren Genen. So vertrat die Kanzlerin die Auffassung – und die Worte haben ihre Bedeutung –, dass "die transatlantische Freundschaft unersetzlich ist". Ihre ehemalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, heute Chefin der Europäischen Kommission, brachte ihrerseits eindringlich auf den Punkt, dass "die Vereinigten Staaten und die EU Verbündete und Freunde sind, unsere Bürgerinnen und Bürger sind zutiefst miteinander verbunden" ... 

Von Paris aus betrachtet, zeichnen sich in Berlin jedoch zwei Tendenzen ab. Die Vertreter der einen, allen voran die derzeitige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, plädieren dafür, vier Jahre vereitelter Unterwürfigkeit nachzuholen, und fordern daher "ein Ende der Illusionen einer europäischen strategischen Autonomie", was den französischen Präsidenten zutiefst verärgerte. Die Vertreter der anderen Tendenz neigen zu der Ansicht, dass der beste Dienst, der Washington zu erweisen ist, im Gegenteil darin besteht, die besagte europäische Autonomie zu entwickeln: Die europäischen Verbündeten, also die EU, sollten die Verantwortung übernehmen, für Ordnung in ihrer Nachbarschaft zu sorgen – auf dem Balkan, in Osteuropa, im Mittelmeerraum usw. –, was es Uncle Sam erlauben würde, sich auf seine strategische Priorität Asien zu konzentrieren.

Norbert Röttgen, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, ebenfalls ein bekannter Transatlantiker, zeigte sich so daher erfreut, dass Washington "endlich" seine Aufmerksamkeit vorrangig auf Asien richte und den Europäern die Aufgabe übertrug, "ihre Verantwortung" für die eigenen Nachbarn "wahrzunehmen". 

Wirtschaftsminister Peter Altmaier ging noch weiter und vertrat die Ansicht, dass "Europa seine eigenen Interessen gegenüber den Vereinigten Staaten zu verteidigen hat". Er dachte dabei zweifellos insbesondere an das Projekt der Gaspipeline Nord Stream 2, die Russland und Deutschland verbinden soll. Mehr als 90 Prozent der Pipeline sind bereits gebaut, aber Washington blockiert ihre Fertigstellung mit Druck und Drohungen. Die Unterschiede in der Herangehensweise sind nicht auf die CDU beschränkt. Der sozialdemokratische Außenminister Heiko Maas argumentierte ähnlich: Transatlantische Komplementarität erfordert "Teamarbeit" (also nicht Unterwerfung). 

Bruno Le Maire, Altmaiers französischer Amtskollege, ging in dieselbe Richtung und machte deutlich, dass "es an der Zeit ist, dass die Europäer ihrer Verantwortung gerecht werden". Eine Aussage, die mit der Élysée-Linie übereinstimmt: Macron hörte nie auf, dafür zu plädieren, das aufzubauen, was er "europäische Souveränität" nennt. Unter diesem Gesichtspunkt hat der französische Präsident paradoxerweise einen gewissen Grund, die Folgen von Trumps Abgangs zu befürchten: Wenn die Vogelscheuche weg ist, wird die Versuchung, wieder zu einem braven Vasallen zu werden, in bestimmten Hauptstädten nicht ausbleiben – und umso schlimmer für die Lyrik einer autonomen und volljährigen Europäischen Union Macron'scher Art. 

Diese beiden Denkrichtungen sind gleichermaßen schädlich. Je instabiler die Welt ist, umso mehr Völker der verschiedenen Länder haben ein Interesse daran, sowohl die Unterwerfung unter eine Oberherrschaft als auch die Integration in einen Block abzulehnen. 

Sie sollten vielmehr das einzig lohnende Gut für die Zukunft zurückgewinnen: die nationale Unabhängigkeit.

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