von Pierre Lévy
Die Sorge um die Beschäftigten der im Jahre 1848 gegründeten Eisenbahnfabrik in Reichshoffen im Elsass hält an. Mit ihrem beispiellosen industriellen Know-how wurde sie 1995 in den Alstom-Konzern integriert. Heute werden dort Regionalzüge der neuen Generation namens Régiolis hergestellt. Bis zum Jahr 2024 beläuft sich die Zahl der Aufträge auf 400.
Doch weder die technologische Spitzenposition noch das Auftragsbuch noch das Schicksal seiner 800 Mitarbeiter ist die Hauptsorge des französischen Eisenbahngiganten. Für seinen CEO Henri Poupart-Lafarge ist vor allem der Erfolg der im vergangenen Februar angekündigten Fusion seiner Gruppe mit der kanadischen Bombardier Transport (der Bahnsparte des multinationalen Unternehmens Bombardier mit Sitz in Montreal) von Interesse.
Das Management von Alstom wird von der Aussicht angelockt, durch diese Fusion zum zweitgrößten Eisenbahnproduzenten der Welt zu werden – in einem Sektor, der zu einer Zeit zu boomen scheint, in der sowohl der Luftverkehr wie auch die Automobilindustrie durch die von Brüssel gewünschte "ökologische Wende" bedroht sind.
Bombardier Transport mit 40.000 Beschäftigten ist 7,4 Milliarden Euro Umsatz "schwer", Alstom mit 36.000 Beschäftigten etwa 8,1 Milliarden Euro hinsichtlich des Umsatzes. Der aus dem Zusammenschluss hervorgehende Konzern könnte somit auf dem Papier zwar immer noch hinter dem chinesischen Weltgiganten CRRC (26 Milliarden ) rangieren, aber endlich vor seinem historischen Rivalen Siemens, dessen Bahnaktivitäten sich auf fast 9 Milliarden Euro belaufen.
Im Jahr 2019 hatte Herr Poupart-Lafarge schon einen Versuch zur Megafusion unternommen, und zwar damals gerade mit Siemens. Die Operation war zum großen Missfallen des französischen Wirtschaftsministers gescheitert, weil die Europäische Kommission ihr Veto mit der Begründung eingelegt hatte, dass eine solche Fusion den freien Wettbewerb durch die Schaffung eines hyperdominanten Marktführers verzerren würde.
Damals nahmen neben Bruno Le Maire auch viele Politiker auf beiden Seiten des Rheins an der allzu strengen Anwendung der europäischen Regeln Anstoß. Sie behaupteten, dass diese nicht mehr im Einklang mit dem gegenwärtigen Globalisierungsprozess stünden, der es von nun an erforderlich mache, der Schaffung von "europäischen Champions" Priorität einzuräumen.
Aber abgesehen von der Tatsache, dass eine solche Geisteshaltung nicht von allen 27 EU-Mitgliedsländern geteilt wird, erinnerte die Europäische Kommission daran, dass sie dazu da ist, darauf zu achten, dass die Verträge und Regeln eingehalten werden. Diese Botschaft ist beim Alstom-Management angekommen. Für das Projekt mit Bombardier wurden diesmal Vorkehrungen getroffen. So wurde angekündigt, dass man einige Produktionsbereiche der gemeinsamen Zukunft opfern wird, um grünes Licht aus Brüssel zu erhalten. Das hört sich ein bisschen nach Antike an, als man den Göttern Opfer darbrachte, um sie günstig zu stimmen.
In Brüssel legte man daher auch die Sektoren fest, von denen sich die künftige Gruppe trennen müsse, um dem Wettbewerb Platz zu verschaffen: Hochgeschwindigkeitszüge, bordeigene Signalsysteme und Regionalzüge. Im Verbund mit diesen letzteren Sektoren, so argumentiert die Kommission, würden die Verkäufe der künftigen Gruppe in Europa mehr als die Hälfte des Marktes ausmachen, in Frankreich sogar nahezu 100 Prozent.
Am 9. Juli dieses Jahres gab die Unternehmensleitung von Alstom öffentlich ihre Entscheidung bekannt: Sie veräußert einen Teil des Standorts Hennigsdorf (in der Nähe von Berlin) und das Werk Reichshoffen im Elsass. Das ist ein schwerer Schlag für die Mitarbeiter. Auch weil der dortige gewerkschaftsübergreifende Sprecher Daniel Dreger anmerkt, die Unternehmensleitung habe bereits in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren andere Produktionssegmente vom Standort entfernt und nur noch die Endmontage von Regionalzügen vor Ort belassen.
Ende Juli gab Brüssel unter Berücksichtigung dieses Vorschlags offiziell grünes Licht. Aber wer wird der Käufer der abzustoßenden Segmente sein, und mit welchen Absichten?
Dass Reichshoffen eine Goldgrube ist, zeigt allein die hohe Anzahl der Interessenten. Im August boten sich als mögliche Erwerber der Schweizer Stadler, die russische Transmashholding (TMH) und (wieder!) die deutsche Siemens AG an. Ende Oktober waren zwar die spanischen CAF noch im Rennen, aber es war die Transport-Sparte der tschechischen Škoda AG, die den Zuschlag zu erhalten schien. Eine Möglichkeit, welche die Besorgnisse der Gewerkschafter noch verstärkt: Das Unternehmen hat nur einen Umsatz von 400 Millionen – im Vergleich zu 3 Milliarden bei den CAF. Das lässt vermuten, dass der Besitzer von Škoda, der reichste Mann der Tschechischen Republik, einen Erwerb nur im Hinblick auf einen schnellen Weiterverkauf mit Gewinn plant, zum Beispiel an den chinesischen Riesen CRRC. Auf jeden Fall hat aber Alstom ein strategisches Interesse am Verkauf an ein "kleines" Unternehmen, das dann nicht in Konkurrenz zu ihm treten wird, so befürchtet man in Reichshoffen.
Lokale und regionale Mandatsträger haben symbolisch gegen dieses von den Hütern der EU-Regeln auferlegte Opfer protestiert. Aber diese Regeln sind bindend, und die EU-Kommission hat nicht nachgelassen, diese auch durchzusetzen. Alstom plant, sie einzuhalten, wobei die endgültige Wahl des Käufers bis Anfang 2021 getroffen werden soll.
Die elsässischen Arbeitnehmer sind nicht die einzigen, welche unliebsame Folgen aus der Fusion mit Bombardier befürchten. Dies gilt auch für ihre Kollegen in zwei anderen Eisenbahnwerken im Departement Nord, eines bei Alstom (mit 1.500 Mitarbeitern) und das andere bei Bombardier (mit 2.000 Mitarbeitern). Obwohl sie zu zwei konkurrierenden Gruppen gehören, haben sie oft gemeinsam auf Angebotsofferten geantwortet, indem sie ein Konsortium vorschlugen.
Aber was wird passieren, wenn die beiden Werke zur selben Gruppe gehören, nämlich Alstom? Trotz der beruhigenden Worte des CEO befürchten alle, dass diese Art der Fusion zu Umstrukturierungen führen wird, um "Dopplungen" zu beseitigen, beispielsweise in Bezug auf Studien, Technik und Entwicklung.
Darüber hinaus ist Herr Poupart-Lafarge stolz darauf, in sieben Jahren den operativen Gewinn seiner Gruppe von 4 Prozent auf 8 Prozent gesteigert zu haben (sein Vorgänger hatte die Energiesparte bereits 2014 an die amerikanische General Electric abgegeben). Warum sollte er angesichts der Möglichkeit von "Anpassungen" und "Einsparungen" einen so guten Weg verlassen wollen? Es ist weniger die Entwicklung des Schienenfahrzeugbereichs als vielmehr die Maximierung der Profitrate, die das Management auch bei Alstom anstrebt. Selbst wenn das bedeutet, die von Brüssel geforderten Opfer bereitwillig in Kauf nehmen zu müssen.
Nach Ansicht des CEO wäre dieser riesige globale Komplex umso relevanter, als Alstom und Bombardier sich hinsichtlich der geografischen Marktaufteilung ergänzen würden. Derselbe Mann hatte jedoch ein Jahr zuvor noch mit damals ganz anderen Argumenten die Fusion mit Siemens angepriesen.
Das aktuelle Bündnis zwischen der französischen Gruppe und ihrem kanadischen Partner ist eine neuerliche Illustration für die Einhaltung einer der Grundregeln, auf denen die EU beruht: der sakrosankten Freizügigkeit des Kapitals. Als Sahnehäubchen bedeutet die Fusion eine Kapitalerhöhung bei Alstom, von der ein großer Teil – 2,6 Milliarden Euro – für die Caisse de dépôt et placement du Québec reserviert wird, die dann 18 Prozent des Kapitals besitzen wird und so zum Referenzaktionär der "französischen" Gruppe wird.
Zum Zeitpunkt des seinerzeit gescheiterten Versuchs, Alstom und Siemens zusammenzubringen, hatte Bruno Le Maire – im Einklang mit der Rhetorik Macrons für die "europäische Souveränität" – die Perspektive gelobt, einen "europäischen Champion" zu schaffen. Jetzt begrüßt derselbe Mann diese neue "ausgezeichnete Nachricht für Frankreich, Europa und Kanada".
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