von Pierre Lévy
In summa gibt es auf der einen Seite die am stärksten von der Pandemie betroffenen Länder. Das sind diejenigen, denen regelmäßig vorgeworfen wird, ihre öffentlichen Finanzen nicht ausreichend "kontrollieren" zu wollen. Und auf der anderen Seite gibt es die Länder, die sich weiterhin an strenge Haushaltsregeln halten wollen und entschlossen sind, das Risiko einer übermäßigen Verschuldung zugunsten der ersteren nicht einzugehen.
Insbesondere kristallisierte sich die Schlacht um die mögliche Aufnahme von gemeinsamen (und daher gemeinsam rückzahlbaren) Schulden heraus, die der italienische Regierungschef als "Corona-Bonds" bezeichnete. Rom wird dabei von Madrid und Paris aktiv unterstützt.
Die Gruppe der Länder, die beschuldigt werden, sich dieser Perspektive zu widersetzen, wird hingegen von den Niederlanden angeführt und umfasst, mit unterschiedlichen Nuancen, Deutschland, Österreich, Finnland und (außerhalb der Eurozone) Schweden. Am Rande sei angemerkt, dass die europäische "Großzügigkeit", über die die 27 Länder streiten, darin besteht, den am stärksten betroffenen Ländern die Möglichkeit zu geben, Kredite (zu günstigen Zinssätzen) auf den Märkten aufzunehmen.
Die Macron-Propaganda zögert nicht, die Niederlande, Deutschland und ihre Gleichgesinnten als den Klub der "Geizkragen" oder "Pfennigfuchser" zu bezeichnen. Dies umso mehr, da es sich um dieselben Länder handelt, die sich seit zwei Jahren für einen möglichst bescheidenen, mehrjährigen gemeinsamen Finanzrahmen (MFR 2021-2027) einsetzen.
Der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire stand in den vergangenen Wochen an vorderster Front, um diejenigen "Egoisten" anzuprangern, die die Werte der EU "mit Füßen treten" und diese damit in Todesgefahr brächten (obwohl noch vor einem Jahr derselbe Mann Meister in der Rückführung der Staatsverschuldung sein wollte ...).
Als Reaktion auf die Stellungnahme der EU-Abgeordneten von "La France insoumise" (LFI, die mit ihren deutschen Kollegen von "der Linken" in Straßburg vereint ist) kann man entweder weinen – oder lachen. In einer Pressemitteilung haben sie sich Wort für Wort dem "Narrativ" des von Brüssel dominierten Denkens über dieses Thema angeschlossen.
Die zwischen den Finanzministern auf der Tagung vom 10. April erzielte Einigung ist ein Kompromiss, der zum jetzigen Zeitpunkt vorläufige Zugeständnisse beider Seiten beinhaltet, aber auch zu einem neuen zähen Ringen auf der für den 23. April anberaumten Europäischen Ratssitzung führen könnte. Jedoch noch mehr als der Inhalt der erzielten Vereinbarung sind es die Worte der LFI-Abgeordneten, die einem den Atem stocken lassen: Es ist die Rede von einem "Triumph des Klubs der Egoisten, angeführt von Deutschland und den Niederlanden". Paris wird zwar vorgeworfen, "kapituliert" zu haben. Doch wenn die Worte noch etwas bedeuten, so meinen sie, dass Emmanuel Macron einen richtigen Kampf geführt habe, für den ihm nur vorgeworfen wird, ihn letztendlich aufgegeben zu haben ...
Vor allem die Verwendung des Wortes "egoistisch", das direkt aus dem EU-Sprachgebrauch übernommen wurde, sollte beachtet werden. Als wären (positive) Gefühle in den Beziehungen zwischen Staaten von Interesse – wo doch vielmehr Interessen, Konfrontation oder Kooperation im Vordergrund stehen.
Jedes Land hat seine eigene Realität (und Geschichte), nicht nur in Bezug auf die Gesundheitspolitik, sondern auch in wirtschaftlicher, sozialer, demografischer und kultureller Hinsicht. Dies ist genau der Kontext, in dem die europäische Integration funktioniert: Ihr Prinzip besteht darin, diese unterschiedlichen Realitäten künstlich zu vereinheitlichen.
Einer der perversesten Mechanismen dieser Integration ist im Brüsseler Jargon als "Gruppenzwang" bekannt. Als Beispiel sei der niederländische liberale Premierminister genannt, der in Paris als Führer der "Herzlosen" bezeichnet wird. Mark Rutte ist einerseits an die vor seinem nationalen Parlament eingegangenen Verpflichtungen gebunden (in diesem Fall spiegeln diese Verpflichtungen den Geisteszustand eines Volkes wider, das der Europäischen Union gegenüber zunehmend skeptischer geworden ist – dasselbe Volk, das 2005 wenige Tage nach den Franzosen den Entwurf des Verfassungsvertrags massiv abgelehnt hat).
Auf der anderen Seite wurde der holländische Regierungschef durch die eindringlichen Forderungen vieler seiner Kollegen unter Druck gesetzt: "Mark, Du darfst nicht die schöne europäische Solidarität blockieren und damit die EU gefährden" (eine "europäische Solidarität", die drei Jahrzehnte lang zu immer drastischeren Einschnitten bei den öffentlichen Dienstleistungen, insbesondere im Gesundheitswesen, führte). Letztendlich hat Den Haag vorerst ein starkes Zugeständnis gemacht, indem es, wie von Paris gewünscht, den Rückgriff auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus akzeptiert hat.
Es geht hier nicht darum, die Politik von Herrn Rutte zu loben oder zu beurteilen, sondern sich im Klaren darüber zu sein, was wichtiger sein sollte: die Souveränität seines Volkes oder das "höhere europäische Interesse". Für die EU-Befürworter liegt die Antwort auf der Hand. Diese Antwort wird nun auch von La France insoumise – also "dem unbeugsamen Frankreich" – übernommen. Noch nie zuvor hatte diese Partei ihren Namen so wenig verdient.
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