von Pierre Lévy
Wenn auch zu spät, es ist das einzig Richtige, was Brüssel jetzt machen konnte und endlich einräumte: keine Überwachung mehr, keine Drohungen, keine Sanktionen – kurzum: Klappe halten!
Aber der Schaden ist bereits seit langem eingetreten. Seit dreiundzwanzig Jahren war der sogenannte "Stabilitätspakt" eine Massenvernichtungswaffe gegen die öffentlichen Ausgaben der Mitgliedsstaaten, wobei der Öffentliche Dienst stets im Fokus des Visiers lag. Das bereitete der tragischen Katastrophe im Bereich der öffentlichen Gesundheit den Leidensweg der heute Betroffenen.
In Frankreich zum Beispiel wurde die Zahl der Krankenhausbetten pro Einwohner in drei Jahrzehnten halbiert. Weder Chaos und Panik wären entstanden noch Ausgangssperren nötig geworden, wenn das Land genug Masken, Test-Sets, Beatmungsgeräte und Personal vorgehalten hätte – anders gesagt, wenn diese Regierung und alle ihre Vorgänger, die der europäischen "Logik" verpflichtet waren, die Anforderungen des öffentlichen Krankenhaussystems berücksichtigt hätten, anstatt es platt zu walzen.
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass sich Italien heute im Herzen des Corona-Zyklons wiederfindet. Die Wochenzeitung Freitag erinnerte kürzlich daran, wie die EU-Kommission im Jahre 2011 von Rom verlangte, die Kapazitäten im Gesundheitswesen um 15 Prozent zu kürzen. Gerade als Brüssel den als zu weich geltenden Silvio Berlusconi durch den ehemaligen EU-Kommissar Mario Monti ersetzt hatte.
Die Siebenundzwanzig, die durch den doppelten Tsunami im Gesundheits- und Wirtschaftsbereich in Panik gerieten, setzten also ihre Sparmaßnahmen aus. Aber für wie lange? Ohne diesen "Stabilitätspakt" als Korsett kann der Euro nicht lange durchhalten.
Neben dem Euro ist die Freizügigkeit im Schengen-Raum die zweite Säule, die traditionell von den EU-Prominenten gefeiert wird. Bereits durch die Migrantenkrise erschüttert, wackelt der Schengen-Raum nun in seinen Grundfesten. Innerhalb weniger Tage haben nicht weniger als fünfzehn Länder – darunter auch die Bundesrepublik – die Kontrolle über ihre sogenannten "inneren" Grenzen wiedererlangt oder sogar abgeriegelt und damit eine der heiligsten EU-Regeln mit den Füßen getreten. Der französische Präsident gehörte zu denjenigen, die bis zum 12. März sagten, dass die Grenzen offen bleiben sollten. Einige Tage später beschloss er mit seinen Amtskollegen, die sogenannten Außengrenzen zu schließen. Ein merkwürdiges Virus muss das sein, das einen Unterschied zwischen den Mitgliedern des Europäischen Clubs und den übrigen zu machen scheint…
In der allgemeinen Aufregung verordneten Paris und Berlin dann auch, dass die plötzlich wertvollen Schutzmasken in erster Linie ihren eigenen, nationalen Gesundheitsdiensten gewidmet werden sollten – ein logischer Reflex, der zeigt, dass der Nationalstaat als der Schutzrahmen schlechthin verankert bleibt, ein Reflex, der aber Brüssel in Trance versetzte – während Prag kurzerhand die von China in Richtung Italien versandten Masken klaute.
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Italien wurde von der EU ein herzliches Beileid entgegengebracht, während Peking – aber auch Russland und Kuba – Ausrüstung, medizinisches Personal und militärische Logistik zur Verfügung stellten. In den sozialen Netzwerken Italiens schwirren Millionen von Nachrichten mit einer einzigen Hymne: Wir werden uns daran erinnern! Der Außenminister, Luigi di Maio, hat nichts anderes dazu gesagt.
Für die Anhänger der "europäischen Integration", die in den Wochen zuvor mit Schrecken zu begreifen begonnen hatten, dass der Brexit ein Erfolg werden könnte, ist kein schlimmeres Szenario denkbar. Die sehr proeuropäische Tageszeitung Le Monde räumte in einem Leitartikel (20.03.20) ein, dass "das 'jeder für sich selbst', das sich jetzt in der EU entfaltet, nichts hat, was die Briten bereuen lassen kann", den EU-Block verlassen zu haben.
Emmanuel Macron seinerseits sprach am 12. März von einer zukünftigen "Reflexion über einen Modellwechsel", bei dem es notwendig sei, "die Kontrolle wiederzuerlangen". Ironischerweise ist dieser Ausdruck genau eine wörtliche Übersetzung des zentralen Mottos der Brexit-Verfechter... Auch wenn sein Aufruf, "ein Frankreich, ein souveränes Europa aufzubauen" (was einen Widerspruch in sich darstellt: zwei im Grunde konkurrierende Souveräne können nicht zusammenleben), seine weitere Verbundenheit mit dem Dogma der EU bestätigt.
Aber die Angst wächst in der Chefetage der EU. Während jetzt das berühmte deutsch-französische Paar vom Bildschirm verschwunden ist, alarmierte Le Monde am 28. März neuerlich: "Die EU kämpft um ihr Überleben". Kurz zuvor sprach der Wirtschaftsminister Bruno Le Maire von einem "entscheidenden Test" für die EU. Zwei Tage später musste auch Jacques Delors – der uralte Held der EU-Anhänger – eingestehen, dass die EU "in Todesgefahr" sei. Diese Befürchtung wurde auch vom derzeitigen französischen Präsidenten wiederholt, der die Ansicht vertritt, dass "das Überleben des europäischen Projekts auf dem Spiel steht".
Eine Epidemie kann eine andere verdecken, eine viel erfreulichere nämlich.
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