US-Bomber im Erdorbit? Warum heute niemand Atombomben aus dem All fürchten sollte

Michail Chodarjonok

Könnten die unbemannten "Orbital Test Vehicle" wie die Boeing X-37 auch als Träger für US-Nuklearsprengköpfe herhalten? Obwohl theoretisch denkbar, würden solche Systeme auf dem derzeitigen Stand der Technik als Nuklearwaffenträger wohl mehr Probleme bereiten als Kosten sparen.

Kommentar von Michail Chodarjonok

Laut Jan Nowikow, Generaldirektor des russischen Waffenproduzenten Almas-Antei, verfügen die USA derzeit über orbitale Fluggeräte, die grundsätzlich zu Bombern umgerüstet Atomwaffen tragen könnten. Abwandlungen des im Jahr 2010 erstmals gestarteten und offiziell lediglich für wissenschaftliche Zwecke genutzten orbitalen Testflugkörpers Boeing X-37 könnten theoretisch bis zu sechs nukleare Sprengköpfe tragen, stellte Nowikow im Mai während eines virtuellen Bildungsforums in Russland fest.

Doch wie Kyle Mizokami in seinem Artikel für Popular Mechanics zu diesem Thema schrieb:

"Das ist nicht einmal als Idee besonders gut."

Zwar titelt Mizokami seinen Beitrag "Don't Believe Russia"  – "Vertraut ja nicht Russland" – und seine Hauptstoßrichtung ist somit überdeutlich: Herr Nowikow würde die angebliche nukleare Bedrohung durch US-Waffen zum Einläuten des Weltuntergangs aus der Erdumlaufbahn, also hoch in den Orbit verlegen – natürlich nur, um eigentlich den Verkauf von Flugabwehrraketen der Boden-Weltraum-Klasse aus konzerneigener Herstellung ankurbeln zu wollen. Dennoch führt auch er einige gute Argumente an, die zeigen, warum Gerüchte um einen aus dem Orbit herabfallenden nuklearen Tod unseres Planeten eher mehr als nur ein wenig übertrieben sind.

Erstens: Atomwaffen aus dem Orbit zu starten, wenn man sie etwa an einer X-37 angebracht hat, erfordert umfangreiche Umbauarbeiten an den Waffen selbst. Als Nebenergebnis dieser Arbeiten werden nur zwei oder bestenfalls drei an Bord der X-37 mitgeführt werden können [Anm.: Ohne Anpassungen an den Abwurf aus dem Orbit würden etwa fünf oder sechs für das US-Arsenal typischen Nuklearsprengköpfe hineinpassen, so Schätzungen einiger anderer Experten]. Bereits diese Zahl ist nicht annähernd genug für einen effektiven Überraschungsangriff. Mehr noch: Um einen Überraschungseffekt zu erzielen, müsste das Weltraumflugzeug Russland aus einer ganz bestimmten Richtung anfliegen, um die Radare der Frühwarnsysteme zu umgehen. Doch selbst dann wird sich die X-37 nicht vor der visuellen Erkennung verstecken können.

Abgesehen von der entfallenden Überraschung gibt es eine lange Liste von Problemen, die mit Weltraumflugzeugen verbunden sind, die als Nutzlast nukleare Waffen tragen sollen.

 

Nuklearwaffen im Weltraum: Schon als Grundidee fehlerhaft

"Die Idee, strategische Nuklearwaffen in einer niedrigen Erdumlaufbahn anzubringen, ist nicht neu. Sie entstand mit den ersten erfolgreichen Starts der künstlichen Erdsatelliten", sagt der Ex-Chef des Generalstabs der Luftverteidigungskräfte, Verdienter Militärflieger, Generaloberst der Luftfahrt Igor Malzew.

Technisch gesehen sei das Ziel, nukleare Waffen im Weltall anzubringen, ja durchaus erreichbar, so Malzew: Man kann schließlich alles Mögliche in den Weltraum bringen. Doch immer, wenn es darum ging, ein strategisches Waffensystem im Orbit aufzustellen, trat eine Reihe von neuen Herausforderungen ins Rampenlicht, die glücklicherweise bisher jeden bedeutenden Fortschritt in dieser Richtung verhinderten. Diesen Problemen ist es geschuldet, dass solche Raumfahrtprojekte nie über ein Konzept oder bestenfalls vorläufige Entwürfe hinauskamen.

Zu diesen Problemen gehören in erster Linie sowohl die Wirksamkeit einer solchen Waffe als auch die Effizienz ihrer Steuerung. Eine boden- oder seegestützte Interkontinentalrakete kann jederzeit gestartet werden und auf dem Luftweg jedes vorgewählte Ziel treffen. Man muss nur einen Startknopf drücken und die Rakete macht sich auf den Weg zum Ziel – entsprechend dem voreingestellten Flugbefehl. Ein Weltraum-Flugkörpersystem wäre dagegen sehr dynamisch, es flöge ja ständig im erdnahen Orbit – also immer in Bewegung.

Man kann es daher auch nicht lange im Voraus auf bestimmte Ziele richten, erklärt Igor Malzew. Da das System dynamisch ist, muss es sowohl hinsichtlich seines Aufenthalts im Orbit ständig angepasst werden, erst recht um ab einem Startkommando das richtige Ziel zu treffen, während es sich im Orbit bewegt. Ohne eine permanente Anpassung der Zielkoordinaten kann der Weltraumbomber zwar immer noch ein vorausgewähltes Ziel mit seinen Sprengköpfen treffen – aber nur von genau einem bestimmten Punkt im Weltraum aus, den er vermutlich nicht wieder so schnell erreichen wird. Dies ist laut dem russischen Generaloberst auch schon das größte Problem:

"Die Notwendigkeit eines solchen dynamischen Kontrollsystems ist das Haupthindernis für die Platzierung von Atomwaffen im Orbit."

Nehmen wir an, ein Bombensatellit wurde mit der Aufgabe entwickelt, Moskau zu treffen. Der Bediener drückt den Startknopf, aber das Raumfahrzeug ist noch sehr weit entfernt, weil es sich ständig mit einer Geschwindigkeit von 28.000 Stundenkilometer um die Erde bewegt.

Das zweite Problem ist die Zielgenauigkeit dieses nuklearen Sprengkopfes. Sie wird zweifellos geringer sein als die von bodengestützten Interkontinentalraketen und von U-Boot-gestützten ballistischen Raketen: Es gibt genügend Beispiele dafür, wie aus dem Weltraum zurückkehrende Raumfahrtbesatzungen in Sibirien landeten statt in Kasachstan, betont Generaloberst Malzew.

Kurzum: Grundsätzliche Probleme im Zusammenhang mit Kontrollsystemen für mögliche orbitale Kernwaffen behindern den Fortschritt – und verhindern die Militarisierung des Weltraums:

"Ich sehe nicht, wie diese Probleme in absehbarer Zeit gelöst werden können. Dynamische Systeme sind sehr anspruchsvoll und teuer. Sie werden um ein Vielfaches, hunderte oder sogar tausende Male teurer sein als ähnliche Waffen, die derzeit bei den strategischen Raketentruppen Russlands in Bereitschaft stehen."

Doch damit hören die Probleme noch gar nicht auf.

Eine weitere wichtige Überlegung ist die Nachhaltigkeit und selbst die Sicherheit der vom Weltraum aus einzusetzenden Atomwaffen. Während der Sprengkopf einer ballistischen Interkontinentalrakete in einem speziellen, gut geschützten Raketensilo gelagert wird, kann ein Raumfahrzeug leicht angeflogen und manipuliert werden. Es kann durch eine Reihe von Mitteln außer Betrieb gesetzt werden, einschließlich eines elektromagnetischen Impulses.

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Generalleutnant Waleri Saparenko, ehemals stellvertretende Leiter der Hauptoperativdirektion im Generalstab der russischen Streitkräfte, betont ebenfalls die hohe Treffsicherheit herkömmlicher Nuklearwaffen im Gegensatz zu hypothetischen weltraumgestützten:

"Was die manövrierfähigen Wiedereintrittskörper und Hyperschall-Gleitkörper betrifft, die von den russischen Streitkräften eingesetzt werden, so werden sie nur von bodengestützten Leitsystemen verwendet, deren Flugbefehle und Flugbahnen im Voraus festgelegt wurden, und ihr Flug verläuft streng gemäß dem Missionsziel. Das erklärt die hohe Zielgenauigkeit dieser Waffen im Vergleich zu hypothetischen weltraumgestützten Systemen."

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Für das von Mizokami im Popular Mechanics-Artikel dargelegte Argument des Wegfalls eines Überraschungseffekts im Falle der Stationierung von Nuklearwaffen im Weltraum liefert Saparenko konkrete Daten zur groben Orientierung:

"Was die Erkennung von und den Schutz vor Weltraumbombern durch Russlands Weltraumraketenabwehr angeht, kann ich sagen: Das PESA-Radar Don 2N ist in der Lage, ein kugelförmiges Objekt mit einem Durchmesser von 5 Zentimetern aus einer Entfernung von 1.000 Kilometern zu erkennen. Ein Objekt von der Größe eines Х-37В-Raumfahrzeugs wird von einem Frühwarnradar vom Typ Woronesch aus einer Entfernung von mehreren tausend Kilometern erkannt. Alle bisherigen Flugmissionen dieses Fahrzeugs wurden von der Ausrüstung der russischen Raumfahrtkräfte registriert. Es besteht also keine Chance, dass es diesem sogenannten Weltraumbomber gelingt, sich unbeobachtet einem verteidigten russischen Ziel zu nähern."

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Und Russland würde dann ohnehin solchen Angriff mit einem eigenen Atomschlag vergelten.

Ein solcher Vergeltungsschlag würde sowohl durch das Weltraumabwehrsystem als auch durch eine sogenannte "Tote Hand" eingeleitet werden. Das Perimeter-System (oder besser gesagt, seine moderne Version) wird einen nuklearen Vergeltungsschlag in vollem Umfang durchführen, selbst wenn die russische Regierung und das Militär bereits ausgeschaltet oder völlig paralysiert sind.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist Folgendes über die Funktionsweise von Russlands "Tote Hand"-System zu sagen: Daten darüber liegen der Öffentlichkeit wegen strengster Geheimhaltung nicht vor. Doch es gibt hinreichenden Grund zu der Annahme, dass es aus Kommandoposten, (ballistischen) Kommandoraketen, Empfängern und einem autonomen Befehls- und Überwachungssystem besteht. Alle diese Begriffe sind weitestgehend Notbehelfe zur Umschreibung.

Nachdem solch ein System den Einsatz strategischer Nuklearwaffen genehmigt hat (dieser Vorgang läuft vollautomatisch ab), feuert es eine oder mehrere Kommandoraketen mit einem speziellen Gefechtskopf ab. Diese übermitteln ihrerseits einen Abschussbefehl an alle nuklearen Trägersysteme mit entsprechenden Empfängern. Die landgestützten interkontinentalen und die U-Boot-gestützten ballistischen Raketen werden dann automatisch zu vorgegebenen Zielen gestartet.

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Das Perimeter-System trifft seine Entscheidung auf der Grundlage von Daten, die es von zahlreichen Sensoren im ganzen Land eingespeist bekommt. Diese überwachen seismische und radiologische Aktivitäten sowie den atmosphärischen Druck auf Anzeichen möglicher Nuklearexplosionen. Selbst in Friedenszeiten kann dieses System mit einer fast hundertprozentigen Genauigkeit bestimmen, wo auf der Welt eine Atombombe gezündet wurde.

Dennoch ist die obige Beschreibung sehr vage und kommt der komplexen Funktionsweise der "Toten Hand" in der Realität bestenfalls nahe.

Letztendlich ist es also egal, ob die USA nukleare Weltraumbomber haben werden oder nicht, denn auf ihren Einsatz hin würde auf jeden Fall ein verheerender nuklearer Vergeltungsschlag erfolgen.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzt aus dem Englischen

Michail Chodarjonok, Militärkommentator für RT.com, ist ein pensionierter Oberst. Er absolvierte im Jahr 1976 die Höhere Ingenieurschule für Raketengestützte Flugabwehr in Minsk und die Kommandoakademie der Luftverteidigungskräfte im Jahr 1986.

Laufbahn: Kommandierender Offizier eines S-75 Flugabwehrraketenbataillons (1980-1983). Stellvertretender Kommandeur eines Fla-Raketen-Regiments (1986-1988). Absolvent der Militärakademie des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation (1998). Leitender Offizier des Oberkommandos der Luftverteidigungskräfte (1988-1992). Offizier in der Haupteinsatzleitung des Generalstabs der Streitkräfte (1992-2000). Chodarjonok arbeitete als Analytiker bei der Nesawissimaja Gaseta (2000-2003) und als Chefredakteur von Wojenno-Promyschlenny Kurjer (2010-2015).