von Leo Ensel
Dass es mit den offiziellen deutsch-russischen Beziehungen seit fast fünf Jahren, vorsichtig gesprochen, nicht zum Besten steht, ist mittlerweile eine Binse. Dass es allerdings unterhalb der regierungsamtlichen Kontakte auch eine vielfältige quirlige zivilgesellschaftliche Szene gibt, dass auf beiden Seiten tausende von Menschen vor Ort in den unterschiedlichsten Zusammenhängen alles dafür tun, zu überwintern und in dieser spannungsgeladenen Zeit die direkten freundschaftlichen Kontakte zwischen Russen und Deutschen am Leben zu erhalten, ist leider viel zu wenig bekannt! Umso wichtiger, dass es immer mal wieder Veranstaltungen gibt, die dieses Potenzial sichtbar machen.
"Lasst uns als Freunde, nicht als Feinde auseinandergehen!"
Eine davon ist die jährliche Konferenz des Bundesverbandes russischsprachiger Institutionen mit dessen rühriger Vorsitzenden Larissa Jurtschenko. So auch dieses Jahr wieder, am 24. Oktober im Berliner Hotel Aquino. "Das deutsch-russische Verhältnis im europäischen Kontext: Wie geht es weiter?" lautete der Titel der hochkarätig besetzten Veranstaltung, bei der eine Reihe exzellenter Persönlichkeiten vertreten waren, die sich, zum Teil seit Jahrzehnten, um die deutsch-russische Verständigung bemühen.
"Lasst uns als Freunde, nicht als Feinde auseinandergehen!", beschwor Larissa Jurtschenko, die die Konferenz zusammen mit dem Deutsch-Russischen Forum organisiert hatte, in ihrer Eröffnungsrede die zahlreich versammelten Gäste. Deutschland sei heute ein multinationaler Staat, in dem nicht zuletzt Menschen russischer Abstammung längst einen festen Platz hätten. Aber in den letzten Jahren habe sich das gesellschaftliche Klima verändert.
Russland ist nun immer an allem schuld. Selbst Kinder von Russlanddeutschen und aus russisch-deutschen Familien werden gehänselt!
Die russische Diaspora, der von Seiten der Mehrheitsgesellschaft immer wieder Konservativismus unterstellt werde, fühle sich gekränkt, auch würden in einigen deutschen Medien gerade Aspekte der Geschichte des Zweiten Weltkrieges umgeschrieben. Sie selbst sei im Netz schon als "Gefahr für die Sicherheit der Ukraine" diffamiert worden – obwohl bereits ihr Name auf ukrainische Wurzeln verweise!
Der Botschafter der Russischen Föderation, Sergej Netschajew, betonte in seinem Grußwort die seit Jahrhunderten bestehende Verbindung beider Völker. Die Geschichte der russisch-deutschen Beziehungen reiche weit über die schrecklichen Kriege des vergangenen Jahrhunderts hinaus und sei in den meisten Zeiten durch eine für beide Seiten fruchtbare Kooperation gekennzeichnet gewesen. Eine Reihe von Jubiläen, die für das kommende Jahr anstünden, böten Gelegenheit, hier wieder anzuknüpfen: Im Jahr 2020 könnten sowohl 75 Jahre Sieg im Zweiten Weltkrieg und die Befreiung von der Hitler-Diktatur, 30 Jahre Wiedervereinigung und 65 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Ländern Anlass sein, wieder aufeinander zuzugehen und sich nicht zu entfremden.
Zum Glück gebe es trotz der Sanktionsregime nach wie vor eine vielfältige Zusammenarbeit. "Die Zivilgesellschaft spielt hier eine sehr große Rolle!" Auch wüchse in Deutschland die Zahl der Menschen, die sich gegen Sanktionen und für Verständigung aussprächen.
Auf das Verbindende verwies auch der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Dirk Wiese. Die russische Sprache sei mittlerweile in Deutschland, insbesondere in Berlin, sehr gegenwärtig. Nach dem erfolgreichen Jahr der kommunalen und regionalen Partnerschaften 2018 sei das gegenwärtige Jahr den deutsch-russischen Wissenschafts- und Hochschulkooperationen gewidmet. Wichtig sei es, vor allem für den Jugendaustausch, das Ziel der Visavereinfachung nicht aus dem Auge zu verlieren. Grundsätzlich müssten die deutsch-russischen Beziehungen heute stärker in den europäischen Kontext gerückt werden. Wiese begrüßte in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Verbleib Russlands im Europarat, dies sei ein "hervorragender Rahmen".
"Hören Sie auf, Russland zu dämonisieren!"
Larissa Jurtschenkos Appell, nicht als Feinde auseinanderzugehen, erwies sich zum Glück als in jeder Hinsicht unbegründet. Von Anfang bis Ende war die Konferenz durch eine wohltuend sachliche Atmosphäre, frei von jeglicher Polemik, gekennzeichnet. Grundsätzlich überwog auf allen Seiten das Bemühen, Gemeinsamkeiten und konstruktive Schritte aus der Eskalationsspirale heraus in den Vordergrund zu rücken. Bemerkenswerterweise galt dies auch für Referenten, die bekanntlich vielen Aspekten der offiziellen russischen Politik kritisch gegenüberstehen.
So erinnerte ausgerechnet Roderich Kiesewetter, Mitglied der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, im ersten Panel "Welchen Wert hat der deutsch-russische Dialog für die europäische Verständigung?" daran, dass bereits 1990 der deutsche NATO-Generalsekretär Manfred Wörner die Politik ermahnt habe, auch die Interessen der damaligen Sowjetunion mit zu berücksichtigen. Dies sei bei den NATO-Osterweiterungen zu wenig geschehen, auch würden gegenwärtig die Möglichkeiten des NATO-Russland-Rates nicht genutzt. Auch Kiesewetter sprach sich für Visaerleichterungen (im Rahmen des Jugendaustausches und für klein- und mittelständische Unternehmer) und die Förderung des zivilgesellschaftlichen Austauschs aus. Nicht zuletzt im Bereich der Erinnerungskultur, zum Beispiel bei der Pflege von Gräbern russischer Zwangsarbeiter, gäbe es noch eine Menge zu tun.
Die mangelnde Nutzung des NATO-Russland-Rates, der doch nicht zuletzt zur Krisenprophylaxe geschaffen worden sei, kritisierte auch das prominente Vorstandsmitglied der Regierungspartei "Einiges Russland", Veronika Krascheninnikowa, die im letzten Jahr durch ihre klare Absage einer Zusammenarbeit mit rechtspopulistischen Strömungen und ultrarechten Parteien in der Europäischen Union sowohl in Russland als auch im westeuropäischen Ausland große Aufmerksamkeit erregt hatte.
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Möglicherweise sei die OSZE gegenwärtig das geeignetere Forum. Die westliche Isolationspolitik Russlands sei nicht aufgegangen, dies zeigten nicht zuletzt der zwei Tage zuvor abgeschlossene Russland-Afrika-Gipfel in Sotschi, die Einigung Putins und Erdoğans für den Norden Syriens und die neuen Kontakte zwischen Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Russland sei in Bezug auf Syrien nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. In die Ukrainefrage sei mittlerweile durch die Wahl Selenskijs zum ukrainischen Präsidenten Bewegung gekommen. Auch Frankreich fange an, sich zu bewegen.
Leidenschaftlich appellierte Frau Krascheninnikowa:
Hören Sie auf, Russland zu dämonisieren! Wir brauchen ein starkes Europa – wir sind miteinander verbunden!
In Russland seien die Illusionen gegenüber rechten Kräften in Europa mittlerweile glücklicherweise geplatzt. Außer ihr habe auch der bekannte Politikwissenschaftler Fjodor Lukjanow vor rechtsextremen Kräften gewarnt. Die Epoche des verbrecherischen Hitler-Faschismus, der unermessliches Leid nicht zuletzt über die Völker der Sowjetunion gebracht habe, sei alles andere als ein "Fliegenschiss"!
Donbass und Krim – die "Elefanten im Raum"
Der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Wirtschaft der Russischen Akademie der Wissenschaften und Gorbatschow-Vertraute, Ruslan Grinberg, beklagte die Rückkehr der Geopolitik. Sie und nicht die Wirtschaft spiele gegenwärtig die Hauptrolle in der internationalen Politik. Die Hoffnungen nach dem Ende des Kalten Krieges, wie sie 1990 in der Charta von Paris, einem "Dokument der Humanität", festgehalten seien, hätten sich nicht erfüllt. Das Vertrauen zwischen Ost und West sei mittlerweile auf den Nullpunkt gesunken.
Das allerwichtigste Problem, das es nun zu lösen gelte, sei der Krieg im Donbass. Dieser "Zankapfel" sei erheblich bedeutender als der Streit um die Krim. Sowohl Deutschland als auch Russland würden gegenwärtig noch nicht äußerste Anstrengungen unternehmen, diesen Konflikt einer Lösung zuzuführen. "Aber nur ein Kompromiss für den Donbass kann uns wieder auf den Weg zurück zur Charta von Paris bringen!" Grinberg verwies in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Steinmeier-Formel, die von beiden Seiten noch nicht eingelöst sei und schlug für den Donbass eine "Südtirol-Lösung" vor: Der Donbass verbleibt in der Ukraine, allerdings mit weitreichender Selbstverwaltung. Europa und Russland müssten wieder zueinander finden, beide Seiten seien verurteilt, zusammenzuleben und respektierten obendrein das Völkerrecht mehr als die USA und China.
Einen etwas anderen Akzent setzte Peter Franke vom Bundesverband Deutscher West-Ost-Gesellschaften. Für ihn sei es ein besonderer Skandal, dass die Bürger der Krim auf Druck der Bundesregierung immer noch von den deutsch-russischen Begegnungen ausgeschlossen blieben. Dies behindere nicht zuletzt Städtepartnerschaften wie die zwischen Simferopol und Heidelberg oder Jalta und Baden-Baden. "Kann man", so Franke rhetorisch, "zweieinhalb Millionen Krim-Bürger von Europa ausschließen?" – Für eine Stärkung der Erinnerungskultur im Hinblick auf den kommenden 75. Jahrestag des Kriegsendes regte Franke an, den 8. Mai zum bundesweiten Gedenktag zu erklären.
Städtepartnerschaften: Bürgerinitiativen des Friedens
Das zweite Panel war der deutsch-russischen Zusammenarbeit "vor Ort" gewidmet und – durchaus zutreffend – als "Erfolgsgeschichte" überschrieben. Der ehemalige Oberbürgermeister von Köln, Jürgen Roters, der hier mit der Partnerschaft seiner Stadt mit dem russischen Wolgograd auf viel Erfahrung zurückgreifen kann, bezeichnete Städtepartnerschaften als "Bürgerinitiativen des Friedens" und verwies darauf, dass hinter allen kommunalen Partnerschaften in erster Linie bürgerschaftliches Engagement, oft in Gestalt von Vereinen stehe. "Das sind Menschen, die den Frieden und Andere verstehen wollen!" Sie stünden für die Kontinuität der Beziehungen zwischen beiden Völkern – unabhängig von den Schwankungen der offiziellen Politik. Probleme gebe es derzeit vor allem in der Frage der Finanzierung und wie junger Nachwuchs rekrutiert werden könne.
Ähnlich äußerte sich auch Prof. Martin Schneider vom Rhein-Ruhr-Russland e. V. Essen: "Was auch immer in der Duma und im Bundestag geschieht – die Städte machen einfach weiter!" So sei auch die Kooperation Essen-Nischni Nowgorod eine Erfolgsgeschichte. Bezeichnenderweise habe man hier allerdings den ersten Akzent nicht auf den Bereich der Philologie, sondern auf die Medizin gesetzt. Wie Roters beklagte auch Schneider die Überalterung in der Führungsstruktur. Hinzu käme ein dramatischer Rückgang des Deutschunterrichtes in Russland, der noch deutlicher ausfalle als der rückläufige Russischunterricht in Deutschland.
Um die Städtepartnerschaften wieder ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken, müssten auch wieder Großveranstaltungen organisiert werden wie beispielsweise die "Russische Kulturwoche" in Essen. "Sonst werden wir nicht wahrgenommen!" Schneider beklagte, dass es immer noch kein Deutsch-Russisches Jugendwerk – analog zum Deutsch-Französischen und Deutsch-Polnischen – gebe.
Jelena Hoffmann von der Stiftung West-Östliche Begegnungen forderte umgekehrt ein "russisches Goethe-Institut", ein "Dostojewski-Institut" ein. Da es nicht zuletzt um die Erinnerungskultur im vereinigten Deutschland nicht zum Besten bestellt sei, solle das Kapital der Russischsprechenden in Deutschland besser zur wechselseitigen Verständigung genutzt werden. Jelena Hoffmann:
Ihr wisst nicht, was für einen Schatz ihr hier habt! Was die große Politik nicht schafft, das schaffen wir!
Für die Gedenktage des kommenden Jahres regte sie eine Große Konferenz mit jungen Historikern an.
"Deutsche Politiker haben mehr Angst vor den Medien als vor dem Volk!"
Thema des letzten Panels waren "Die deutsch-russischen Beziehungen im Spiegel der öffentlichen Medien". Hier konstatierte Alexander Neu, Ostbeauftragter der Linkspartei im Bundestag, bezogen auf die Russlandberichterstattung eine deutliche Verengung des Meinungskorridors in allen Leitmedien. Allerdings befänden sich die Medien – auch angesichts des Auftauchens alternativer Medien im Internet – in einer Legitimationskrise. Neu:
Das Deutungsmonopol der Medien ist aufgebrochen, ihnen bleibt gegenwärtig nur noch die Deutungshoheit. Dies hat allerdings auf Seiten der etablierten Journalisten noch nicht zu einer Selbstkritik geführt.
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Deutsche Journalisten würden stark wertebasiert schreiben, während es in Russland um Interessen gehe. Die Polarisierung zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung spiegele sich aber auch im Bundestag: Während 90 Prozent der Bundestagsabgeordneten gegenüber Russland negativ eingestellt seien, sei es in der deutschen Gesellschaft genau umgekehrt.
Auf die Frage an den deutschen Russlandexperten Alexander Rahr, welche Position er im Spannungsfeld der deutschen und russischen Medien einnehme, meinte dieser, es sei gegenwärtig schwierig, eine balancierte Position einzunehmen, "weil wir uns in einem hybriden Krieg befinden." Bis 2014 hätten die russischen Medien über Westeuropa – vor allem aber über Deutschland – positiv berichtet, das habe sich seitdem sehr verändert. Russische Medien wollten die Stärkung des Staates nach außen tragen. Deutsche Journalisten dagegen würden das konservative Gesellschaftsbild Russlands nahezu einhellig ablehnen. Angriffe im öffentlichen Raum kämen in Deutschland nicht aus der Politik, sondern von den Medien. Diese legten auch keinen Wert darauf, in Gremien wie dem Waldai-Club vertreten zu sein, weil dieses Forum von Putin ins Leben gerufen worden sei.
Der Journalist Thomas Fasbender, der lange Zeit in Russland lebte, konstatierte einen handwerklichen Niedergang im deutschen Journalismus. Vor allem die Grenze zwischen Berichterstattung und Kommentar verschwimme immer mehr. Die Medien, einst "vierte Macht" innerhalb des Systems der Gewaltenteilung, seien längst zur ersten Macht mutiert, und die deutschen Politiker hätten mittlerweile mehr Angst vor den Medien als vor dem Volk!
Wo bleibt das deutsch-russische Arte?
Es blieb allerdings nicht bei einer Medienschelte. Am Ende der Konferenz kam es auch noch zu einem bemerkenswerten kollektiven Brainstorming zur Frage, mit welchen medialen Mitteln zu einer neuen Verständigung zwischen Deutschen und Russen beigetragen werden könne. So erinnerte Alexander Rahr an eine Fernsehbrücke, die nach dem Mauerfall zwischen den USA und der UdSSR stattgefunden hatte. Diese Idee könne man aufgreifen und aktualisieren: "Wir müssen wieder lernen, uns gegenseitig zuzuhören!"
Und erste Ideen wurden gleich spontan entwickelt: Warum gebe es nicht zum Beispiel eine Telebrücke, die einen Dialog der Kinder und Jugendlichen jenseits aller Politik für eine gemeinsame Zukunft ermögliche? Wo bleibe das deutsch-russische Arte – ein anspruchsvolles Kulturprogramm, das aus beiden Perspektiven auch über strittige Themen berichte? Eine deutsch-russische Zeitung, die dieses Konzept einlöst, gibt es immerhin bereits, berichtete der ehemalige Hörfunkdirektor beim MDR, Johann Michael Möller: Es ist die Zeitschrift Petersburger Dialog, die seit 2017 vierteljährlich erscheint. Möller berichtete in diesem Zusammenhang nicht nur über die schwierige Anzeigenakquise in Deutschland, sondern auch von ausgezeichneten journalistischen Beiträgen aus Russland.
Insgesamt zeigte die Konferenz beispielhaft, wie deutsche und russische zivilgesellschaftliche Initiativen auch in angespannten Zeiten jenseits jeglicher Polemik sachlich und lösungsorientiert zusammenarbeiten können, wenn der Wille zur Verständigung größer ist, als der Wunsch rechtzuhaben und auf der moralisch besseren Seite zu stehen.
Schade – aber eben auch bezeichnend –, dass von den Mainstreammedien niemand anwesend war!
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