von Leo Ensel
Dass der Prophet in seinem Vaterlande nichts gilt, das steht bereits in der Bibel. Michail Gorbatschow könnte ein Lied davon singen. Immer noch kreidet ihm die Mehrheit der Bevölkerung Russlands den Untergang des Sowjetreichs an, obwohl Gorbatschow bis zum Schluss für einen neuen Unionsvertrag gekämpft hatte und es Boris Jelzin war, der Anfang Dezember 1991 auf einer weißrussischen Datscha zusammen mit den Parteichefs der ukrainischen und der belarussischen Sowjetrepubliken der UdSSR den Garaus machte. Aber die Mehrheit der Russen rechnet anders.
Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und notwendigen Dingen des täglichen Bedarfs wurde unter Gorbatschow kontinuierlich schlechter, die Schlangen vor den spärlich ausgestatteten Geschäften immer länger – und Glasnost konnte man nicht essen! Das ist es, was bei den meisten fürs erste im Gedächtnis geblieben ist. Nicht freie Wahlen, Abschaffung der Zensur, Reisefreiheit oder die Beendigung des Kalten Krieges samt der permanenten Gefahr einer atomaren Apokalypse.
Aber auch im Westen, nicht zuletzt in Deutschland, ist es in den letzten Jahren um den früher hier allseits geliebten Gorbi merklich ruhiger geworden. Spätestens seitdem deutlich wurde, dass der erste und letzte Präsident der Sowjetunion im Neuen Ost-West-Konflikt Ansichten vertritt, die keineswegs mit dem hiesigen Medienmainstream kompatibel sind. So kritisierte Gorbatschow – in diesem Punkt in auffälliger Übereinstimmung mit Wladimir Putin – von Anfang an scharf die nassforsche Siegermentalität und den Unilateralismus der USA nach dem Ende des Kalten Krieges, die ihre Klimax in völkerrechtswidrigen Interventionen u. a. in Jugoslawien, im Irak und in Libyen sowie in der berüchtigten (und ausnahmslos gescheiterten) "Regime-Change-Politik" fanden.
Gorbatschow rechtfertigte die Sezession der Krim mit dem von ihm selbst stets respektierten Selbstbestimmungsrecht der Völker und warf jüngst den USA vor, die Vereinten Nationen und den Sicherheitsrat an den Rand zu drängen und mit der Entfesselung eines neuen – auch atomaren – Wettrüstens nach militärischer Überlegenheit zu streben, um der ganzen Welt ihren Willen aufzuzwingen.
Klare Worte eines geradlinigen Mannes, der bis dato in Deutschland 'Everybodys Darling' war – und der Liebesentzug durch die Leitmedien folgte auf dem Fuße! Hatte Gorbatschow doch mit diesen skandalösen Äußerungen das eingeschliffene Mainstream-Pattern "Good Guy (Gorbi) – Bad Guy (Putin)" gehörig durcheinandergewirbelt.
Die Prinzipien des Neuen Denkens im dritten Millennium
"Was jetzt auf dem Spiel steht – Mein Aufruf für Frieden und Freiheit" lautet der Titel des gerade erschienenen jüngsten Buches des mittlerweile 88-Jährigen, und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass es Züge eines politischen Testaments des Friedensnobelpreisträgers aufweist. Entsprechend ist es nicht, wie einige seiner Memoirenbände der letzten Jahre, retrospektiv, sondern "der Zukunft zugewandt" – geht es doch um nichts weniger als um das (Über)-Leben der Menschheit im 21. Jahrhundert.
Gorbatschow ist nicht nur, wenig überraschend, den Prinzipien seines Neuen Denkens treu geblieben – diese erweisen sich vielmehr in der globalisierten Welt des dritten Millenniums als aktueller denn je! Bereits in den Kapitelüberschriften sind sie leicht zu identifizieren: "Unsere gemeinsame Sicherheit", "Die globale Welt verstehen", "Die Erdcharta", "Sind Politik und Moral vereinbar?", "Europa: unser Kontinent, unser Zuhause" lauten einige von ihnen.
Die Grundprämisse des Neuen Denkens, das in seinen Wurzeln unter Anderen bis auf Albert Einstein zurückgeht, ist so einfach formuliert, wie sie schwer umzusetzen ist: "Wir sind EINE Menschheit! Wir leben alle auf EINEM Planeten!" Wie viele scheinbar simple Sätze entfalten auch diese ihre volle Bedeutung erst dann, wenn man nicht einfach über sie hinwegliest, sondern sich die Zeit nimmt, sie auf sich wirken zu lassen und ihnen nach-zudenken!
Und das lohnt sich. Immerhin kommen sie nicht von einem naiven esoterischen Gutmenschen, sondern von einem Intellektuellen, der die an Egon Bahr erinnernde Maxime formulierte "Sicherheit kann niemals einseitig zum Nachteil anderer erreicht werden" und als Chef einer Supermacht den Kalten Krieg beendete, dem widerstrebenden Westen die atomare Abrüstung bei den gefährlichsten Trägersystemen aufzwang, Europa für mehr als drei Jahrzehnte die Angst vor einem Atomkrieg nahm und die Verschrottung von nicht weniger als 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit durchsetzte – kurz: von einem Staatsmann, der das Neue Denken nicht bloß predigte, sondern es als Erster konsequent in Neues Handeln umsetzte und praktizierte.
"Wenn es so weitergeht, kann es zu einer Katastrophe kommen!"
Es wundert daher nicht, dass Gorbatschows Buch sofort mit dem bislang dramatischsten Rückfall in das "Alte Denken" einsetzt: der aktuellen Militarisierung der Weltpolitik. Das Ende des INF-Vertrages geht laut Gorbatschow eindeutig "auf das Konto der USA. Ebenso wie die Weigerung, den Vertrag über das Verbot von Nuklearversuchen zu ratifizieren, und der Rücktritt vom ABM-Vertrag über die Beschränkung von Raketenabwehrsystemen." Die USA hätten Russland im Bereich der Mittelstreckenraketen "angebliche Vertragsverstöße vorgeworfen, die selbst für Experten schwer nachvollziehen sind. Und all dies im Ton eines Ultimatums." Die Folgen sind alarmierend und Gorbatschow bringt sie unmissverständlich auf den Punkt:
Die heutigen militärischen Aktivitäten ähneln zunehmend den Vorbereitungen auf einen echten Krieg. Das Ziel der US-Außenpolitik besteht darin, neue Atomwaffen für einen flexibleren Einsatz zu entwickeln. Was nichts anderes bedeutet, als die Schwelle für den Atomwaffeneinsatz stetig zu senken. Die Welt steht vor einer akuten unkontrollierbaren militärischen und politischen Konfrontation der beiden führenden Weltmächte. Alle bisher geschaffenen Mechanismen zur Friedenssicherung sind entweder beschädigt, gelockert oder bedroht.
Nach dieser illusionslosen Analyse der aktuellen katastrophalen sicherheitspolitischen Lage wartet man umso gespannter, welche Wege aus der Sackgasse der Mann vorschlägt, der genau dies vor über drei Jahrzehnten in einer ähnlich hochbrisanten Situation schon einmal geschafft hat. Zunächst warnt Gorbatschow, jetzt nicht in Panik zu geraten und den Kopf hängen zu lassen, worauf er den Blick weitet und daran erinnert, dass es in der Geschichte der Verhandlungen über die Begrenzung und Reduzierung von Atomwaffen immer wieder auch zu Rückschlägen kam.
So habe man bei dem im Mai 1972 von Leonid Breschnew und Richard Nixon unterzeichneten Vertrag über die Begrenzung der Anzahl strategischer Atomwaffenträger (SALT I) die Bestückung dieser Raketen mit autonomen Mehrfachsprengköpfen (MIRV) schlicht ausgespart, wodurch sich die Anzahl der Gefechtsköpfe in der Folgezeit vervierfacht habe. (Das Problem wurde erst zwei Jahrzehnte später im Rahmen der START-Verträge einer Lösung zugeführt.) Umgekehrt habe es im Kalten Krieg auch Situationen gegeben, bei denen – wie beim Vertrag über die Einstellung von Atomtests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser – einige Atommächte vorangegangen seien, während andere später ihrem Beispiel folgten, manchmal sogar ohne den Vertrag zu unterzeichnen.
"Den Teufelskreis durchbrechen!"
Leidenschaftlich fordert Gorbatschow die USA und Russland auf, den gegenwärtigen Teufelskreis zu durchbrechen und wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Dies gelte nicht zuletzt für die Verpflichtung, die beide Supermächte im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen eingegangen seien, nämlich – im Gegenzug für den Verzicht der überwiegenden Mehrheit der Länder der Welt auf Atomwaffen – ihre eigenen Arsenale schrittweise zu reduzieren und letztendlich zu beseitigen:
Wenn Russland und die Vereinigten Staaten sich erneut an den Verhandlungstisch setzen, wird sich auch die Stimmung insgesamt verbessern. Und ebenso die Voraussetzungen für den Dialog mit anderen Ländern, die ebenfalls Atomwaffen besitzen. Die Erfahrung zeigt, dass nicht nur bei atomarer Aufrüstung Wettbewerb möglich ist, sondern auch beim Verzicht. Letztlich müssen alle Staaten, die Atomwaffen besitzen, an den Verhandlungstisch, um über ihre Abschaffung zu reden – auf Augenhöhe mit den nichtnuklearen Staaten.
Das Endziel Gorbatschows ist also nach wie vor die Verwirklichung der Vision, die er bereits am 15. Januar 1986 als Generalsekretär der KPdSU umrissen hatte:
Wir müssen unsere ganze Kraft daraufsetzen, das wichtigste Ziel zu erreichen: die endgültige Beseitigung aller Atomwaffen.
Bis hierhin folgt man der Argumentation Gorbatschows gerne als einer der aktuell immer seltener zu hörenden Stimmen der Vernunft. Nun hängt jedoch alles, wie schon Mitte der 1980er Jahre, am politischen Willen der führenden Staatsmänner beider Supermächte. Die Frage drängt sich daher auf: Was tun, wenn dieser Wille, wie es zumindest bei den USA gegenwärtig den Anschein hat, fehlt? Was muss geschehen, um beide Seiten tatsächlich – und mit ernsthaften Absichten – wieder an den Verhandlungstisch zu bringen? Diese Frage stellt Gorbatschow hier nicht explizit, allerdings hat er in seinem vorletzten Buch "Kommt endlich zur Vernunft! – Nie wieder Krieg" eine Antwort angedeutet:
Bei der Beendigung des Kalten Krieges hat die Öffentlichkeit eine enorme Rolle gespielt. Ich erinnere mich gut an die lautstarke Stimme der Friedensbewegung gegen Krieg und Atomwaffen in den 1980er Jahren. Diese Stimme wurde gehört!
Kurz: Druck von unten ist auch heute wieder notwendig!
Gorbatschow geht aufs Ganze
Die Grundthese des gesamten Buches, deren Konsequenzen Gorbatschow nicht nur im Bereich der Sicherheitspolitik auslotet, lautet:
Wir leben in einer globalisierten Welt, haben sie aber noch nicht völlig verstanden. Kein zentrales Problem unserer modernen Welt ist zu verstehen, wenn wir es nicht im Kontext globaler Prozesse betrachten.
Die Themenfelder, bei denen Gorbatschow dieser These nachgeht, sind u. a. die Frage "Wem nutzt die Globalisierung?" – unübersehbar schimmert hier der Sozialdemokrat durch, wenn er anhand zahlreicher Beispiele die weltweit immer stärker auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich anprangert –, "Die Welle des Populismus und der Niedergang der Demokratie" – auch hier belässt es der Autor nicht bei der populären Populismusschelte, sondern zeigt Verständnis für die Globalisierungsverlierer –, "Die ökologische Herausforderung" und "Die multipolare Welt ist Realität". Gorbatschow scheut sich aber auch nicht, eine so diffizile Frage wie "Sind Politik und Moral vereinbar?" positiv zu beantworten.
Die jeweiligen Themen und Problemstellungen skizziert er zupackend mit wenigen, aber präzisen Pinselstrichen und kommt dabei sofort auf den Punkt. Sein Blick geht stets aufs Ganze. Immer wieder wird man beim Lesen den Eindruck nicht los, als spreche hier nicht ein Elder Statesman, sondern der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Und wie alle wirklichen Intellektuellen ist Gorbatschow in der Lage, sich klar und verständlich auszudrücken. Dass er nicht zur Lösung aller Probleme eine ausgefeilte Roadmap vorlegt, vieles eher andeutet, sich bisweilen auch aufs Appellative beschränkt, wird man ihm nachsehen. Erkennbar kommt es ihm auf die Richtung an, in die sich die Menschheit in der globalisierten Welt bewegen muss, wenn sie überleben will. Und das ist zuallererst eine Welt, die nicht nur die Massenvernichtungsmittel, sondern nichts weniger als den Krieg selbst als Mittel der ‘Konfliktlösung‘ abgeschafft hat!
Der Schluss des Buches ist versöhnlich:
Ich glaube nicht, dass der Vertrauensverlust der letzten Jahre unumkehrbar ist. Ich halte ihn für einen Ausrutscher, einen Fehler. Um diesen Fehler zu korrigieren, braucht es Zeit und Geduld, gesunden Menschenverstand und Verhandlungsgeschick. Aber vor allem müssen wir verstehen, dass wir auf einem gemeinsamen Planeten leben. Denn wir sind verantwortlich für sein zukünftiges Schicksal.
Dem ist nichts weiter hinzuzufügen!
PS:
In einem Kapitel, das er ausschließlich den ihm nach wie vor besonders am Herzen liegenden deutsch-russischen Beziehungen widmet, kritisiert Gorbatschow scharf die antirussische Stimmungsmache im deutschen Mainstream:
Wenn Sie einen Beitrag über Russland zur Hand nehmen, werden Sie oft feststellen, dass er von einem Journalisten geschrieben wurde, der wie ein Ankläger auftritt. Sie greifen nicht nur Russland und die Russen an, sondern auch jene Deutschen – ob Journalisten oder Politiker –, die für den Versuch plädieren, Russland zunächst einmal zu verstehen, bevor man ein endgültiges Urteil fällt über das Land. Wer es wagt, öffentlich solche Positionen zu vertreten, dem droht ein Scherbengericht.
Übersetzer dieser Passage – wie auch des gesamten Buches – ist übrigens ein gewisser Boris Reitschuster. Hoffen wir, dass er sich diese Sätze zu Herzen nimmt!
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Michail Gorbatschow: "Was jetzt auf dem Spiel steht – Mein Aufruf für Frieden und Freiheit", München (Siedler-Verlag) 2019, 18,- €