von Leo Ensel
Noch einmal, auch wenn es penetrant oberlehrerhaft klingen mag: Das korrekte – und schöne – Substantiv für das Verb „verstehen“ lautet immer noch: „Verständnis“! Und nicht anders.
Das Wort „Versteher“, soviel ‚Germanistik für Dummies‘ muss sein, gibt es erst seit circa 20 Jahren und war von Anfang an abwertend konstruiert. Es begann mit dem berühmten „Frauenversteher“, womit jener bemitleidenswerte Jammerlappen gemeint war, der Nähe zu Frauen (in welcher Form auch immer) nur herstellen kann, indem er sich – gefragt oder ungefragt – in die Damen noch besser einfühlt, als die das selber vermögen. Kurz: ein Mann mit dem Sexappeal eines „Warmduschers“ – auch so eine Abqualifizierungsvokabel aus jenen Tagen.
Einmal in die Welt gesetzt, war es dann, namentlich in Krisenzeiten, zum „Russland-“ oder gar „Putinversteher“ nicht mehr weit. Ein Wort, ohne das im Mainstream heute niemand mehr auskommt, wenn es darum geht, Menschen prompt der Lächerlichkeit preiszugeben, die sich um ein besseres Verhältnis zu Russland bemühen oder den russischen Präsidenten nicht sofort zum Leibhaftigen erklären. Ohne Auseinandersetzung mit deren Argumenten, versteht sich.
Putin ungefiltert
Unter dem Titel „Wladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“ hat der Unternehmensberater und Publizist Thomas Röper vor einiger Zeit eine Edition von Texten des russischen Präsidenten vorgelegt, die geeignet ist, aufgeschlossenen Lesern beziehungsweise solchen, die beim Namen „Putin“ nicht umgehend mit Pawlow‘schen Reflexen reagieren, Einblick in das politische Denken des im Westen oft maßlos dämonisierten russischen Präsidenten zu geben. Mit anderen Worten: Verständnis – im Sinne von Nachvollziehen der immanenten Logik – für das Denken und Handeln Wladimir Putins zu vermitteln. Die Motivation zu diesem Buch war denkbar einfach. Röper, der seit 1998 fast ununterbrochen in Russland lebt:
Mir ist aufgefallen, dass in Deutschland zwar viel über Putin gesprochen wird, aber er selbst kommt fast nie zu Wort. Und wer kein Russisch versteht, hat kaum eine Möglichkeit, sich darüber zu informieren, was Putin eigentlich selbst über die wichtigen aktuellen Themen sagt. Hinzu kommt, dass Interviews mit Putin im Westen so verkürzt werden, dass der westliche Zuschauer zwar glaubt, er habe die Aussagen Putins gehört, in Wirklichkeit werden sie aber so aus dem Zusammenhang gerissen oder so zusammengeschnitten, dass sich nicht selten der Sinn des Gesagten verändert. Daher hatte ich die Idee, einfach ein Buch mit Zitaten von Putin zu schreiben, einfach ihn selbst ungefiltert zu Wort kommen lassen.
Zunächst: Röper hat selbst kein Interview mit Putin geführt. Sein Buch ist eine nach Themenblöcken geordnete Sammlung von Auszügen aus Reden, die Putin im Laufe seiner mittlerweile zwanzigjährigen Karriere als Ministerpräsident und Staatspräsident Russlands gehalten hat, und Interviews, die mit ihm geführt wurden. Alle sind sie öffentlich zugänglich.
Röper hat aber nicht einfach faul-fleißig abgeschrieben, was Putin bei dieser oder jener Gelegenheit gesagt oder geschrieben hat, er nimmt vielmehr den Leser an der Hand: Immer wieder unterbricht er die Zitate aus dem Original – wobei er auch optisch klar erkennbar Putins Äußerungen von den eigenen Kommentaren trennt – und erklärt dem (noch) nicht so gut informierten, aber aufrichtig interessierten Leser die Hintergründe, wozu stets auch die genauere Rekonstruktion des historischen Kontextes gehört, in dem die jeweiligen Äußerungen fielen.
Röper, der im Netz auch das wichtige Mainstreamkorrektiv Anti-Spiegel betreibt, wo er den Leitmedien in Russlandangelegenheiten kompetent Paroli bietet, erläutert diskret im Hintergrund und tritt nie dominierend oder gar missionierend auf. Sein Ton ist sachlich, er vermeidet alle wertenden oder sofort parteiergreifenden Schlagworte. So nennt er die Ereignisse in Kiew vom Februar 2014 zunächst einmal neutral „Machtwechsel“, bevor er dann – anhand der ukrainischen Verfassung – Schritt für Schritt den Beweis antritt, dass es tatsächlich, wie von Putin auch so bezeichnet, ein Putsch war, der hier verübt wurde.
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Er spricht neutral von den „ostukrainischen Rebellen“, statt, wie der Westen, von „prorussischen Separatisten“, oder wie Russland von „Volkswehr“. Sichtbar geht es ihm darum, durch Auslassung bestimmter als Parteiabzeichen verwendeter Vokabeln nicht vorschnell die Narrative der einen oder anderen Seite zu bedienen. Dass Röper also nicht in umgekehrter Mainstreammanier seine Leser ‚erziehen‘ und zu Putin-Fans bekehren will, sondern das Urteil stets dem Leser überlässt, darin liegt eine der großen Stärken dieses Buches.
Entwicklungen und Konstanten im Denken Putins
Da der Band, bis auf die einleitenden großen Reden Putins nach 9/11 im Bundestag, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und im Herbst 2015 vor der UNO, nach Themengruppen angeordnet ist, kann man themenbezogen in historischen Längsschnitten plausibel mitverfolgen, wo sich Putins Positionen mit der Zeit – das heißt nicht zuletzt in Interaktion mit seinen, von ihm immer noch so genannten „westlichen Partnern“ – verändert, gar zugespitzt hat, wo es aber auch Konstanten in seinem Denken gibt. Dies demonstriert Röper unter anderem in Kapiteln zu den Themen Georgien-Krieg, Ukraine, Sanktionen, Syrien, Migration, Terrorismus, Wahlbeeinflussung und Iran, wobei auffällt, dass es nahezu ausschließlich außenpolitische Themenfelder sind, die die Auswahl bestimmen.
In der historischen Rückschau zeigt sich, wie zum Beispiel Putins Auseinandersetzung mit dem Unilateralismus der USA im Laufe der Jahre zunehmend pointierter wird. Vor allem nachdem klar wurde, dass die Vereinigten Staaten Russland international bestenfalls die Rolle eines dienstfertigen Juniorpartners zugedacht hatten und die negativen Folgen westlicher Regimechange-Politik, vor der Russland von Anfang an gewarnt hatte, immer offensichtlicher zutage traten. Putin will erkennbar Russland wieder als einen internationalen Player etablieren – wohlgemerkt, als einen Player in einer zunehmend multilateraler werdenden Welt!
In der Sicherheitspolitik sehen wir einen Politiker, der anfangs stark die Zusammenarbeit mit dem Westen anstrebte, allerdings durch eine expansive Geopolitik von USA und NATO wider Willen in eine neue Ost-West-Konfrontation inklusive einer erneuten Aufrüstungsspirale gedrängt wurde.
Das Bemühen um Stabilität im eigenen Lande, der Kampf gegen einen Unilateralismus und das Werben um eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit dem Westen scheinen, jedenfalls auf dem Hintergrund von Röpers Kompilation, feste Koordinaten des Putin‘schen Denken und Handelns zu sein – unabhängig davon, wie die jeweils aktuelle geopolitische Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade aussah. Putin – und das wird vielleicht viele, die sich nicht so intensiv mit der Materie beschäftigten, überraschen – scheint also trotz allem nach wie vor ein, allerdings zunehmend frustrierter werdender, ‚Westler‘ zu sein. Es ist für die Politiker im Westen allerhöchste Zeit, dies zu erkennen und ihre Politik entsprechend zu korrigieren, bevor sie nicht Russland endgültig in die Arme Chinas getrieben haben!
Keine „Putin-Bibel“
Leider, und das ist ein echtes Manko von Röpers Buch, geht der Herausgeber mit den Quellenangaben oft nicht transparent genug um: Die jeweiligen Quellen eines Kapitels gibt er stets nur summarisch – und ich bin nicht sicher, ob immer vollständig – am Ende des Buches an. Zitate sind so oft nicht exakt zu identifizieren. Das mag der angestrebten Lesbarkeit des Textes geschuldet sein, hätte aber auch anders organisiert werden können und ist nicht nur philologisch unkorrekt, sondern auch ausgesprochen unpraktisch, wenn man einiges noch genauer nachlesen beziehungsweise überprüfen möchte, aber nicht weiß, wo suchen!
Zu kurz geraten ist ausgerechnet das Kapitel „Verhältnis zum Westen“. Auch hätte dem Band gerade in einer Zeit erneuten Wettrüstens ein explizites Kapitel zum Thema „Rüstung“ gutgetan, und im Zusammenhang mit der (absehbaren) Kündigung des INF-Vertrages hätte es sich angeboten, Putins Äußerung zu landgestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen in seiner berühmten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, die ihm von Seiten des Westens immer wieder als angebliche Abkehr vom INF-Vertrag vorgeworfen wird, explizit und mit Erläuterungen versehen zu zitieren.
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Aber das sind unterm Strich Marginalien. Röpers Edition ist, zum Glück!, keine „Putin-Bibel“ – mit analogen knallroten Bändchen voller aus dem Zusammenhang gerissener Zitate ihres Großen Vorsitzenden fuchtelten Ende der Sechziger bis Anfang der Siebziger Jahre westdeutsche Maoisten furchteinflößend hinter den obligatorischen Bücherständen in den Fußgängerzonen der alten Bundesrepublik herum –, sondern eine zurückhaltend wie kompetent kommentierte, wohltuend sachliche Zusammenstellung der Positionen des russischen Präsidenten zu wichtigen aktuellen und zeitgeschichtlichen Themen und Problemen.
Thomas Röper erweist sich mit diesem Buch als – nehmen wir das Unwort jetzt doch mal in den Mund! – „Putin-Versteher“ im besten Sinne des Wortes, ohne jedoch zum „Putin-Apologeten“ zu mutieren. Sein Anliegen, das Denken des russischen Präsidenten und dessen immanente Logik einem größeren Kreis von Interessierten näherzubringen, löst er mit Hilfe von Brechts ‚sanfter Gewalt der Vernunft‘ überzeugend ein. Und da ja seit Jahren mindestens 80 Prozent der deutschen Bevölkerung sich allen aktuellen Ereignissen und den Umerziehungsversuchen des Mainstream zum Trotz für ein besseres Verhältnis zu Russland aussprechen, dürfte der potentielle Absatzmarkt gar nicht so gering sein.
Vorausgesetzt, die Existenz des Bandes ist überhaupt bekannt! Und dazu – Sie sehen, verehrter Leser, hier wird mit offenen Karten gespielt – liefert diese Rezension gerne einen Beitrag.
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