von Leo Ensel
Vertrauen, das weiß jeder Unternehmer, ist mühsam erworben und schnell verspielt. Das gilt nicht zuletzt auch für die Politik. So beklagte sich der russische Präsident Wladimr Putin bereits in seiner – damals noch mit Standing Ovations umjubelten – Rede vor dem Deutschen Bundestag vom 29. September 2001:
Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit aber haben wir immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen. Trotz der vielen süßen Reden leisten wir weiterhin heimlich Widerstand. Mal verlangen wir Loyalität zur NATO, mal streiten wir uns über die Zweckmäßigkeit ihrer Ausbreitung. Wir können uns immer noch nicht über die Probleme im Zusammenhang mit dem Raketenabwehrsystem einigen usw. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen. – Wir sollten uns fragen, ob das normal ist, ob das eine echte Partnerschaft ist.
Dass sich die Situation seitdem verbessert hat, wird wohl niemand ernsthaft behaupten. Umso wichtiger, dass wenigstens noch ein paar Formate, wie die „Potsdamer Begegnungen“ oder die „Moskauer Gespräche“ existieren, wo Deutsche und Russen sich jenseits der offiziellen Polemik kontinuierlich ernsthaft um Verständigung und eine Verbesserung des Kontaktes bemühen.
„Vertrauen, die wichtigste Währung in der internationalen Zusammenarbeit“ war der Titel einer Podiumsdiskussion, die im Moskauer Deutsch-Russischen Haus letzten Dienstag im Rahmen der „Moskauer Gespräche“ stattfand. Die besonders prominenten Vertreter auf deutscher und russischer Seite waren der langjährige Moskau-Korrespondent der ARD und publizistische Wegbegleiter der Entspannungspolitik, Fritz Pleitgen, der gerade zusammen mit dem bekannten russischen Schriftsteller Michail Schischkin ein Buch über die neuen Spannungen zwischen dem Westen und Russland veröffentlicht hat sowie der Leiter des Moskauer Europa-Instituts und korrespondierendes Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften, Prof. Alexej Gromyko, Enkel des jahrzehntelangen sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko.
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Vertreter des gegenwärtigen publizistischen Mainstreams in Deutschland war der Russlandkorrespondent der FAZ, Friedrich Schmidt, und moderiert wurde der Abend vom ehemaligen Leiter des ARD-Hörfunkstudios und jetzigen Leiter des Moskauer Büros des Volksbunds Kriegsgräberfürsorge, Hermann Krause.
Es wurde ein leidenschaftlicher, aber sachbezogener Disput, den die circa 200 Besucher an diesem ersten Frühlingsabend erlebten. Gleich zu Beginn der Veranstaltung nahm Fritz Pleitgen, der sich nicht mehr als aktueller Russlandkenner verstanden wissen wollte, kein Blatt vor den Mund: „So verheerend schlecht, wie es gegenwärtig aussieht, war es selten!“ Die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland seien „katastrophal und auf die Dauer nicht hinnehmbar.“ Angesichts der bereits mehrfach vorgekommenen „Dangerous Brinkmanships“ zwischen NATO und Russland seit Frühjahr 2014 – meist über der Baltischen See – mache er sich ernsthafte Gedanken darüber, was passiere, wenn mal eine Katastrophe eintrete.
Angesichts dieser angespannten Lage sei eine neue „europäische Ostpolitik“ dringend geboten. Die deutschen Medien seien fast alle nicht gut auf Russland zu sprechen. Er selbst finde keine Plattform mehr für seine Thesen. Pleitgen empfahl dem Westen, die eigene Position grundsätzlich kritisch zu reflektieren:
Haben wir hier und da richtig gehandelt und könnte es anders aussehen, wenn wir damals anders gehandelt hätten?
Einen interessanten Vergleich zwischen der gegenwärtigen Situation und dem, von ihm so bezeichneten, „klassischen Kalten Krieg“ lieferte Alexej Gromyko: Während damals in den Siebziger Jahren das Vertrauen der sowjetischen Diplomatie gegenüber dem Westen so hoch gewesen sei, wie seit 1945 nicht mehr – eine Situation, die zu einer Serie internationaler Abkommen und schließlich 1975 zur KSZE-Schlussakte von Helsinki geführt und seinen Großvater Andrej zur Hoffnung auf eine grundsätzliche Überwindung des Kalten Krieges veranlasst habe – sei das Vertrauen der Völker untereinander schlecht gewesen.
Heute sei es umgekehrt. Das Verhältnis zwischen den Bevölkerungen sei jetzt – ungeachtet der Propaganda in den Medien und Spannungen zwischen den Politikern – viel größer als in der offiziellen Politik. Dies habe nicht zuletzt auch etwas damit zu tun, dass die Menschen beider Seiten immer weniger die klassischen Medien zur Kenntnis nähmen. Für die Bevölkerungen sei es daher heute leichter, aus der Konfrontation wieder herauszukommen.
Letzteres wollte Friedrich Schmidt so nicht stehenlassen. Zwar gäbe es auf privater Ebene gut funktionierende Kontakte, auch hätten Großveranstaltungen wie die letzte Fußballweltmeisterschaft das Russlandbild differenziert, allerdings würde die grenzüberschreitende zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit aufgrund der russischen Gesetze, die viele NGOs bedrohten, als „ausländische Agenten“ etikettiert zu werden, erheblich erschwert. Deutschland, so Schmidt, solle klarer zu seinen Werten stehen. – Was Pleitgen wiederum zur Replik veranlasste, wo denn die westlichen Werte, „für die ich brenne“, blieben, wenn Flüchtlingen im Mittelmeer nicht mehr geholfen werde!
Wie nicht anders zu erwarten, war es auch hier wieder das Thema „Krim“, an dem sich die unterschiedlichen Perspektiven artikulierten. Während Gromyko argumentierte, der Begriff „Annexion“ setze eine gewaltsame Landnahme voraus, sei also für die Abspaltung der Krim unzutreffend, weil es dort zu keinen Gewaltakten gekommen sei, bestand Schmidt aufgrund der Anwesenheit russischer Spezialkräfte außerhalb der staatlich vereinbarten Pachtgebiete nach wie vor auf dem Begriff „Annexion“. Zudem seien im Laufe der Ereignisse sehr wohl ein oder zwei Menschen ums Leben gekommen.
Hier gab es partielle, aber differenzierte Zustimmung von Fritz Pleitgen. Die Ereignisse um die Krim seien ein „klarer Fall von Völkerrechtsbruch“ gewesen, aber, so zitierte er Willy Brandt, „alles hat seine Vorgeschichte!“ und erinnerte an das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine, in dem diese vor die für das Land unhaltbare Entweder-Oder-Alternative gestellt worden sei.
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Pleitgen plädierte leidenschaftlich für einen Neustart der Beziehungen zu Russland. Vertrauen müsse geschaffen werden, um Machtpolitik zu verändern. „Irgendwann muss man ja mal anfangen! Auch das Gute ist nicht unmöglich!“ Und verwies auf die Lösung des seinerzeit für unlösbar gehaltenen Berlin-Problems. Ein Skandal sei es, dass im Vorfeld der kommenden Europawahlen das Verhältnis zur Atommacht Russland überhaupt kein Thema sei. Er beklagte das schlechte Kurzzeitgedächtnis im öffentlichen Raum:
Wir waren im Verhältnis zu Russland schon viel, viel weiter. Ich hätte mir am 16. Juli 1990, als Gorbatschow den Weg zur deutschen Einheit freigab, niemals vorstellen können, dass etwas mehr als ein Vierteljahrhundert später wieder deutsche Soldaten in Litauen an der russischen Grenze stehen würden!
Er müsse allerdings auch Russland kritisieren: „Warum wird in Fällen wie Salisbury, MH17 und Doping immer alles zuerst abgeleugnet? So wird Vertrauen nicht hergestellt!“ Kurz: Alle Seiten hätten sich keine Bestnoten verdient.
Auf die Frage des Moderators Hermann Krause, wie man denn aus der gegenwärtigen Konfrontation herauskommen könnte, zitierte Alexej Gromyko das russische Sprichwort: „Du kannst so häufig ‚Halva‘ sagen, wie Du willst – davon wird es in Deinem Mund nicht süßer!“ Die gegenwärtigen Spannungen hätten ihre Wurzeln in den Neunziger Jahren. Russland habe sich bereits unter Jelzin gegen die NATO-Osterweiterung, von der es sich bedroht fühle, ausgesprochen. Russische Initiativen für einen gemeinsamen Sicherheits- und Wirtschaftraum seien vom Westen nicht gewürdigt worden – genauso wie seinerzeit der russische Beitrag zur deutschen Einheit.
Er beklagte zudem die westliche Doppelmoral, die Journalistenmorde nur in Russland, nicht aber in der Ukraine anprangere. Auch habe es seinerzeit im Westen eine große Kampagne gegeben, als die ukrainische Soldatin Nadeschda Savtchenko im russischen Gefängnis einsaß. Nun sei sie seit über einem Jahr in der Ukraine inhaftiert und der Westen nehme das noch nicht einmal zur Kenntnis. Gleiches gelte für die von der Ukraine nicht umgesetzten Teile des Minsk II-Abkommens.
In seinem abschließenden Statement wies Fritz Pleitgen den Weg zur Entspannung und einer neuen Friedensordnung durch einen Rückgriff auf die Vereinbarungen der „Charta von Paris“ vom November 1990: „Gleiche Sicherheit für alle – und nicht nur für die NATO – Wahrung der Menschrechte und Demokratie!“
Insgesamt bewies der Abend, dass es sehr wohl möglich ist, dass Deutsche – untereinander selbst unterschiedlicher Meinung – und Russen in sachlicher Atmosphäre Schritte aufeinander zugehen können. Ein angenehmer Nebeneffekt war auch, dass durch zahlreiche Zitate Alexej Gromykos aus den Schriften seines Großvaters das Bild des im Westen nur als mürrischer „Mr. Njet“ im Gedächtnis gebliebenen sowjetischen Außenministers erfreulich differenziert wurde.
Eine entscheidende Einschränkung muss allerdings vorgenommen werden. Erst im allerletzten Moment eröffnete Diskussionsleiter Hermann Krause den Blick auf den internationalen sicherheitspolitischen Kontext, in dem der deutsch-russische Verständigungsversuch stattfand: Einer Zeit rasanter neuer Aufrüstung zwischen den Supermächten, in der nahezu alle Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge – wie der A-KSE-Vertrag, der ABM-Vertrag, der INF-Vertrag und vermutlich bald auch der New-Start-Vertrag – geschleift werden. So gesehen, wurde man den Eindruck nicht los, dass alle Teilnehmer auf dem Podium mit ihrem ernsthaften Bemühen um eine Rekonstruktion des Vertrauens ‚mit ihren Beinen fest in der Luft standen‘!
Es ist daher dringend eine Folgeveranstaltung zu wünschen, die den alarmierenden sicherheitspolitischen Kontext in die aufrichtigen Bemühungen um Vertrauensbildung integriert!
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