Wenn schon, denn schon! – Der Professor, das Baltikum und die vier neuen NATO-Divisionen

Leo Ensel

Glaubt man dem Leiter des Kieler Sicherheitsinstituts, sind die baltischen Staaten durch Russland existenziell militärisch bedroht. Plausible Gründe liefert er nicht. Umso energischer fordert er die Stationierung von vier NATO-Divisionen vor der russischen Haustüre.

von Leo Ensel

Man sollte öfters mal Deutschlandfunk hören! Wer wissen will, wie hierzulande antirussische Stimmungsmache betrieben wird – und das heißt ab sofort auch wieder: Propaganda für ein neues, auch nukleares, Aufrüsten –, kommt hier zuverlässig auf seine Kosten. 

Am Dienstag früh, um 6:50 Uhr ereignete sich wieder mal eine wahre Sternstunde. Interviewt wurde der Politikwissenschaftler und Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel und Vorstandsmitglied des Aspen-Institute Deutschland, Professor Joachim Krause, und es ging um angebliche Pläne Russlands, nun nach dem Ausstieg aus dem INF-Vertrag andere Länder – genauer: die baltischen Staaten – zu überfallen sowie um die Konsequenzen dieser dramatischen, von der deutschen Politik bislang sträflichst übersehenen Sicherheitslücke für die NATO. (Was die von den USA initiierte Kündigung des INF-Vertrages mit den als Faktum unterstellten vorgeblichen russischen Okkupations- und Annexionsplänen zu tun haben sollte, wurde erst gar nicht hinterfragt!) 

Bereits die Eröffnungsfrage von Deutschlandfunk-Redakteur Mario Dobovisek gab die Richtung vor:

Wie sehr braucht das Baltikum gerade jetzt das Signal von den Verbündeten im Westen, nicht vergessen worden zu sein? 

Gerade jetzt. Warum eigentlich? Etwa weil Verteidigungsministerin von der Leyen zum selben Zeitpunkt, also „gerade jetzt“, im offenbar doch nicht so völlig vergessenen Litauen auf Truppenbesuch weilte? Der Kieler Sicherheitsexperte ließ sich jedenfalls nicht lange lumpen und sprach von einer „existenziellen militärischen Bedrohung“ der baltischen Staaten, „wieder in den russischen Herrschaftsbereich eingegliedert zu werden.“ Begründung: Die Zapad-Manöver, die Russland jährlich an seiner Westgrenze abhalte. Aus diesen Manövern könne, so Professor Krause, „sofort eine Invasion dieser Länder passieren.“ Natürlich nicht von heute auf morgen, aber immerhin innerhalb weniger Wochen oder „auf hybride Art wie in der Ostukraine“. Kurz: Eine reale Gefahr, der der Westen mit seiner geringen Militärpräsenz nichts entgegenzusetzen habe. 

Das „Vertragsregime“ 

Nun lag es wieder am Qualitätsjournalisten, dem Sicherheitsexperten dienstbeflissen die passenden Stichworte zu apportieren: „Der Westen hat ja bislang eher zurückhaltend reagiert, denn 1.000 NATO-Soldaten im Baltikum könnten wohl kaum eine russische Invasion aufhalten.“ Was Professor Krause nun Gelegenheit gab, sein Ziel allmählich anzuvisieren:

Es ist derzeit eine symbolische Präsenz, und die muss durch eine reale Präsenz erhöht werden. Dagegen wehrt sich bisher die Bundesregierung, weil sie sagt, die NATO-Russland-Akte würde dann verletzt werden. Man will diesen Teil des Vertragsregimes mit Russland nicht ganz aufgeben. 

Das „Vertragsregime“. Man höre gut in dieses Wort hinein! Ein Regime, unter dem Krause offensichtlich schwer leidet. Das Bedauern über diesen beklagenswerten Umstand war dem Sicherheitsexperten noch bis in den Sprechduktus hinein anzumerken. Gemeint war natürlich die NATO-Russland-Grundakte von 1997 – seinerzeit der Zuckerguss für Russland, um dem Land die bittere Pille der ersten NATO-Osterweiterung erträglicher zu machen –, die die permanente Stationierung von NATO-Truppen vor der russischen Haustüre untersagt. 

Die Fake News und das Sicherheitsinstitut 

Halten wir, bevor Joachim Krause die Katze aus dem Sack lässt, kurz inne und fühlen wir der Logik seiner bisherigen Argumentation etwas auf den Zahn: Weil Russland an seiner Westgrenze regelmäßig Manöver abhält – das gute Recht eines jeden Landes –, folgt daraus, dass es vorhat, das Baltikum zu überfallen und zu annektieren (die implizierte Analogie zur Krim und zur Ostukraine stimmt hinten und vorne nicht!) und dagegen muss schleunigst etwas unternommen werden! Denn bislang hat der Westen ja, man höre und staune!, „eher zurückhaltend reagiert.“ Re-agiert, wohlgemerkt. Ob den gefühlten Bedrohungsängsten im Baltikum auch eine reale Bedrohung entspricht, dieser Mühe der Differenzierung glaubt sich der Direktor des Kieler Instituts für Sicherheitspolitik nicht unterziehen zu müssen. Ebenso wenig wie der Frage, welches Interesse Russland an einer solchen Okkupation und Einverleibung eigentlich haben sollte. 

Dass der Experte, nebenbei bemerkt, auch noch sachliche Falschinformationen durchgehen ließ, wird niemanden mehr groß überraschen. Seit der äußerst kreativen Auslegung der erwähnten Grundakte durch die NATO vom Sommer 2016 sind im Baltikum nicht etwa insgesamt 1.000 permanent rotierende NATO-Soldaten anwesend, sondern 1.000 Soldaten pro Land, also, zählt man das benachbarte Polen hinzu, insgesamt 4.000 NATO-Soldaten! Hinzu kommen weitere 4.000 US-Soldaten in Polen, die Barack Obama als eine seiner letzten Amtshandlungen dort noch stationieren ließ. Insgesamt halten sich also unmittelbar vor Russlands westlicher Haustüre rund um die Uhr 8.000 westliche Soldaten auf. Wenn in diesem Kontext eines verwundert, dann die relative Gelassenheit, mit der Russland die an Vertragsbruch grenzende Auslegung der gemeinsamen Grundakte durch die NATO bislang hinnahm. 

„Ist der Ruf erst ruiniert …“ 

Aber das alles reicht dem Kieler Sicherheitsexperten selbstverständlich nicht. Auf die prompt folgende Gretchenfrage Doboviseks, in welchen Dimensionen sich denn nun die von Krause postulierte reale NATO-Präsenz bewegen sollte, kommt der Professor endlich zur Sache und fordert als Minimum eine Division für jeden baltischen Staat plus „wahrscheinlich auch noch Polen“. Macht in absoluten Zahlen:

Ungefähr 30-, 40.000 Soldaten aus anderen Ländern der NATO, sei es aus Deutschland, aus Frankreich, aus Großbritannien, USA, Holland oder was weiß ich nicht wo. 

Mit anderen Worten: Professor Krause plädiert – ohne dies freilich offen auszusprechen – nach dem Motto „Wenn schon, denn schon!“ für den schamlos-direkten endgültigen Bruch mit der NATO-Russland-Grundakte, um deren Einhaltung der Westen sich bislang wenigstens noch dem Schein nach bemüht hatte! Und nochmals: All das auf Basis einer unbewiesenen Unterstellung, für die umgehend knallharte reale Konsequenzen reklamiert werden. 

Und da wir gerade schon dabei sind, geht es nach dem bekannten Prinzip „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich‘s völlig ungeniert“ munter weiter: Russland hat nicht nur vor, sich  demnächst das Baltikum unter den Nagel zu reißen, es will auch – zumal nach dem Ausstieg aus dem INF-Vertrag – „diese territorialen Zugewinne durch eine regionale nukleare Bedrohung abzusichern. Man sieht eben auf russischer Seite in der Doktrin eine Tendenz, regionale Kriege dadurch zu beenden, dass man die Eskalationsdominanz herstellt, indem man Waffen zur Verfügung hat, die in diesen bestimmten Regionen eingesetzt werden können.“ Dumm nur, dass ausgerechnet die USA dieser angeblichen russischen Strategie durch Kündigung des INF-Vertrages auch noch Vorschub geleistet haben! 

Um den INF-Vertrag ist es nicht schade! 

Aber auf diesen aus der Zeit gefallenen Vertrag kommt es eh längst nicht mehr an. Die Tatsache, dass Russland, laut Krause, bereits Planungen anstellt, einzelne Länder militärisch zu überfallen, „ist eigentlich ein Politikum, welches in der deutschen Politik überhaupt nicht so thematisiert wird, sondern es wird immer davon gesprochen, dass der Vertrag so wichtig ist und dass wir Entspannung brauchen und, und, und, aber wenn ein Land sich so gegen Grundsätze europäischer Sicherheitspolitik und Sicherheitsordnung wendet, muss man das doch eigentlich mal thematisieren. Das tut leider kein deutscher Spitzenpolitiker.“ 

So gesehen, ist es um den INF-Vertrag nicht nur nicht schade, sondern, da Russland, wieder laut Krause, „die strategische Konfrontation sucht“, war es – so der Subtext – höchste Zeit, sich dieser Fessel endlich zu entledigen! Conclusio: „Wir haben eine Realität der strategischen Konfrontation, und wir müssen damit umgehen und können nicht immer nur den Verlust von Verträgen bedauern und bejammern, die eigentlich ihre militärische Sicherheitsfunktion schon längst verloren haben.“

Basta! 

Kritisches Nachfragen seitens des Deutschlandfunk-Redakteurs? Fehlanzeige! Statt dessen Beihilfe zum zynischen Abgesang auf einen Vertrag, der über 30 Jahre lang Europa vor einem nuklearen Inferno bewahrt hatte. So funktioniert Qualitätsjournalismus anno 2019. 

So ein Zufall! 

Noch eine kurze Nachbemerkung: Fünf Sekunden Recherche im Netz ergeben, dass ein Kollege Professor Krauses am Kieler Institut für Sicherheitspolitik Dr. Hannes Adomeit ist. 

Ja, Sie haben richtig gelesen: Eben dieser Adomeit, der den „German Cluster“ der vom britischen Geheimdienst initiierten klandestin operierenden „Integrity Initiative“, deren Zweck die antirussische Propaganda in Europa ist, aufgebaut hat. In einem internen, kürzlich geleakten „Interim Report“ Adomeits wird neben anderen möglichen Kooperationspartnern auch Professor Krause erwähnt – und zwar gleich fünfmal, unter anderem als „close friend“. Krause bestätigte inzwischen seine Mitarbeit in der "Integrity Initiative".  

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