von Leo Ensel
Jetzt ist es also soweit. Donald Trump konnte offenbar das offizielle Ende der zweimonatigen Anstandsfrist, die ihm seine europäischen NATO-Partner gerade noch hatten abringen können, nicht mehr erwarten und ließ es seinen Außenminister Pompeo bereits einen Tag früher verlautbaren: Die USA kündigen den INF-Vertrag. Allerspätestens jetzt hat der zweite Kalte Krieg auch offiziell begonnen!
Wenn die Kündigung nach einem halben Jahr in Kraft treten wird, werden die ehemaligen Vertragspartner USA und Russland, an keinerlei Beschränkungen mehr gebunden, im Bereich landgestützter atomarer Kurz- und Mittelstreckenraketen einer Reichweite bis zu 5.500 Kilometern machen können, was sie wollen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es nun in mehreren Weltregionen zugleich zu einem unkontrollierten Wettrüsten kommt, ist hoch. Sicherheit wird dadurch nirgendwo hergestellt werden. Angesichts extrem verkürzter Vorwarnzeiten werden alle nur Verlierer sein – allen voran Europa!
Russland hat stets re-agiert
Werfen wir, da die Diskussion um die „Schuldfrage“ längst begonnen hat, nochmal einen Blick zurück und vergegenwärtigen wir uns die wichtigsten Stationen der Entwicklung, die jetzt kulminiert. Im Dezember 2001 kündigten die USA einen der grundlegendsten Rüstungskontrollverträge, den ABM-Vertrag aus dem Jahre 1972, der beiden Vertragspartnern (USA und Sowjetunion, später Russland) lediglich ein Raketenabwehrsystem erlaubt hatte. Hiermit wurden die Weichen für das – sich angeblich lediglich gegen den Iran richtende – Raketenabwehrsystem der NATO gestellt, durch dessen Module in Rumänien und Polen sich Russland besonders bedroht fühlt.
Entsprechende Verhandlungen mit Polen wurden von den USA im Jahre 2002 aufgenommen; die russische Duma warnte bereits im April 2007 in einer einstimmigen Erklärung, die Stationierung von Abfangraketen in Polen könne zu einem „neuen Kalten Krieg“ führen. Wiederholte russische Vorschläge zur Errichtung eines gemeinsamen Raketenabwehrsystems wurden seitens der USA noch nicht mal ignoriert. Als dann Russland in Reaktion darauf – und auf die permanent rotierenden NATO-Truppen in Polen und im Baltikum – 2018 im Kaliningrader Oblast Iskander-Kurzstreckenraketen stationierte, war das Geschrei im Westen groß.
Der 1999 abgeschlossene KSE-A-Vertrag zur Abrüstung konventioneller Waffensysteme in Europa wurde zwar im Jahre 2004 von Russland (sowie der Ukraine, Belarus und Kasachstan) ratifiziert, nicht jedoch von den NATO-Staaten. Daraufhin setzte Russland 2007 den Vertrag aus und kündigte ihn schließlich im März 2015.
In der Zwischenzeit wurden die erste (1999: Polen, Tschechien, Ungarn) und die zweite NATO-Osterweiterung (2004: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien) vollzogen, denen 2009 die dritte (Kroatien und Albanien) und im Sommer 2017 die vierte (Montenegro) folgte. Dass die NATO auch völkerrechtswidrige Angriffskriege führen kann, hatte sie im Frühjahr mit ihrem Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien unter Beweis gestellt.
Kurz: Russland hat bei der neuen Aufrüstungsspirale stets re-agiert. (Wie sich dies bei den von den USA beanstandeten 9M729-Marschflugkörpern verhält, kann, nachdem die USA das russische Angebot von Inspektionen ausgeschlagen haben, nicht abschließend geklärt werden.)
„Rampen für Raketen sind Untergangsmagneten!“
Welche Konsequenzen USA und NATO im Hinblick auf die veränderte Situation ziehen werden, ist gegenwärtig noch gar nicht absehbar. Polen immerhin preschte sofort, die vermeintliche Gunst der Stunde nutzend, vor: Kaum hatte Pompeo den amerikanischen Ausstieg aus dem INF-Vertrag verkündet, forderte prompt der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz die Stationierung amerikanischer Atomraketen in Europa. „Es gebe keinen Grund zu glauben, dass Nuklearwaffen nicht auch in Zukunft den Frieden sichern würden“, argumentierte Czaputowicz abenteuerlich. Atomraketen der NATO im eigenen Lande schloss er nicht aus.
Dass sich Polen damit erst recht zur Zielscheibe russischer Atomraketen machen würde – und dies unter den Bedingungen von Vorwarnzeiten, die weit unter zehn Minuten liegen dürften, soweit scheint Czaputowicz im ersten Freudentaumel nicht gedacht zu haben. Nach wie vor gilt jedoch die Formel des Philosophen Günther Anders: „Rampen für Raketen sind Untergangsmagneten!“
In Deutschland dürfte das Bewusstsein dafür in Erinnerung an die Nachrüstungsdebatte der Achtziger Jahre deutlich größer sein – was die USA und NATO möglicherweise, um sich große Unannehmlichkeiten zu ersparen, dazu veranlassen könnte, Deutschland bei der Stationierung neuer Atomraketen in Europa dieses Mal auszusparen. Dies umso mehr, wenn sich die baltischen Staaten ebenso enthusiastisch wie Polen den Amerikanern in die Arme werfen sollten. (Dass dies im Falle auch nur eines sogenannten „nuklearen Schlagabtausches“ in Europa Deutschland nicht das geringste nutzen würde, versteht sich von selbst!)
Die invertierte Kubakrise
Wie auch immer eine erneute Stationierung von Atomraketen in Europa im Detail aussehen würde, fest steht schon jetzt, dass unser Kontinent sich damit in Gänze wieder zum „nuklearen Flugzeugträger“ – und damit zur Geisel – der USA machen würde. Auf Russland zielende atomare Mittelstreckenraketen in Europa würden, genau wie in den Achtzigern, eine ‚umgekehrte Kubakrise‘ bedeuten: Eine Supermacht (hier: die USA) würde ohne unmittelbare Selbstgefährdung vom Territorium verbündeter Staaten aus die andere Nuklearmacht (hier: Russland) direkt vor deren Haustür bedrohen.
Strategisch könnte Russland in dieser Logik nur reagieren, indem es dasselbe vor der Haustür der USA vornehmen würde. Neben Kuba würde sich möglicherweise noch ein zweites Land anbieten, von dem aus die USA nach Kündigung des INF-Vertrages durch russische Mittelstreckenraketen erreichbar wären. Es ist – Venezuela!
Ob vielleicht auch deshalb die Besorgnis des Westens um die innenpolitischen Zustände des Landes gegenwärtig so groß ist? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
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