von Leo Ensel
Haben Sie zuhause einen Globus? Wenn ja, dann tun Sie sich bitte mal den Gefallen und schauen Sie nach, welche Staaten und Regionen auf diesem Planeten von der Kündigung des INF-Vertrages betroffen wären und welche nicht. Zur Erinnerung: In dem von Reagan und Gorbatschow vor ziemlich genau 31 Jahren unterzeichneten Vertrag einigten sich die USA und die damalige Sowjetunion auf ein Totalverbot landgestützter nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern.
Haben Sie nachgesehen? Ist Ihnen etwas aufgefallen? Ausgerechnet das Land, das vor einem Monat den INF-Vertrag gekündigt hat, wäre von der veränderten Situation so gut wie gar nicht affiziert! Russische Kurz- und Mittelstreckenrakten könnten – vorausgesetzt, sie wären in Russlands fernstem Osten stationiert – in den USA allenfalls Teile des dünn besiedelten Alaska erreichen. Umgekehrt wären die USA jedoch in der Lage, nicht nur von Westeuropa, sondern auch von vielen ihrer fast 800 weltweiten Militärbasen aus, russisches Territorium zu attackieren.
Ungehemmtes atomares Wettrüsten in den Regionen
Das hat die Mainstreammedien nicht davon abgehalten, nach Trumps Kündigung des INF-Vertrages umgehend zu verkünden, der eigentliche Nutznießer dieser Maßnahme sei Putin. Versetzen wir uns daher für einen Moment in die Situation Russlands. Sollte Trump Ernst machen und es infolge dessen zu einer ungehemmten Aufrüstungs- und Stationierungswelle von Nuklearwaffen im Kurz- und Mittelstreckenbereich kommen, wäre Russland früher oder später allein durch Waffensysteme dieser Kategorie nahezu umzingelt: Von Westeuropa aus, aber auch von Süden her. Und nicht nur durch die Akteure USA und NATO. Südlich von Russland befinden sich ja noch die Atomwaffenstaaten Indien und Pakistan sowie unmittelbar an Russlands fernen und fernsten Osten angrenzend China und Nordkorea.
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Auch wenn Russland im Rahmen der Abschreckungslogik reagieren und nun seinerseits auf die ausländischen Stationierungsorte nuklearbestückte Kurz- oder Mittelstreckenraketen richten würde – das Ergebnis wäre eine für sämtliche Akteure dramatisch instabile Situation. Und dies aus gleich mehreren Gründen: Während es im ersten Kalten Krieg für Russland nur den Antipoden im Westen gab, hätte das Land es nun mit mindestens fünf beziehungsweise, rechnet man Frankreich und Großbritannien noch dazu, sieben nuklearwaffenfähigen Akteuren zu tun. Und dies bei extrem verkürzten Vorwarnzeiten! Ein brandgefährlicher Selbstzündungsmechanismus, namentlich in Krisensituationen.
Das Ende der Abschreckung
Die klassische Abschreckungsstrategie, die 40 Jahre lang – mit reichlich Glück!! – leidlich funktionierte, hatte rational kalkulierende Akteure vorausgesetzt, die wussten, dass sie als zweite sterben würden, wenn sie als erste auf den Kopf gedrückt hätten. Dieses natürliche Überlebensinteresse, das bis vor Kurzem jedem Akteur selbstverständlich unterstellt werden konnte, hatte die wechselseitige (wackelige) ‚Sicherheit‘ garantiert. – Was aber, wenn Akteure auf den Plan treten, die im Rahmen einer „Taliban-Logik“ denken und handeln? Bei denen die Sehnsucht nach den 70 Jungfrauen im Paradies größer wäre als jegliches eigenes Überlebensinteresse?
Dann hätte die Abschreckungstheorie ihren Schrecken verloren, sie wäre obsolet geworden! Kurz: Das Ende des Schreckens wäre ein Schrecken ohne Ende!
Aktualisierung, nicht Kündigung des INF-Vertrags!
Die genauere Analyse legt demnach nahe, dass nicht nur Europa, sondern auch Russland kein Interesse an der Kündigung des INF-Vertrages haben kann. Ja, bei näherer Betrachtung müsste dies selbst für scheinbar außenstehende Staaten wie Indien, Pakistan, China und Nordkorea gelten, deren Sicherheit sich ebenfalls nicht gerade erhöhen würde, wenn sie zur Zielscheibe russischer Kurz- und Mittelstreckenraketen mutierten. Und selbst für die USA, die auf den ersten Blick als Gewinner der Vertragskündigung erscheinen, wäre dies mittelfristig ein Pyrrhussieg, denn das nächste Opfer wäre unweigerlich der START-Vertrag. Die Folge wäre also das Übergreifen des ungehemmten atomaren Wettrüstens auf den Bereich der Interkontinentalraketen und anderer strategischer Waffensysteme. Verlierer wären, mit einem Wort, – alle!
Die einzig realistische sicherheitsfördernde Alternative zur Kündigung des INF-Vertrages kann folglich nur dessen Aktualisierung, sprich: die Anpassung an die veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts sein. Nicht den Buchstaben, den Geist des INF-Vertrages gilt es dabei zu retten, denn niemandem wäre genützt, wenn landgestützte Waffensysteme im Kurz- und Mittelstreckenbereich zwar nach wie vor verboten blieben, see- oder luftgestützte Systeme jedoch nicht!
Die notwendige Rettung des INF-Vertrages durch dessen Modifizierung ist nicht zuletzt deshalb eine höchst anspruchsvolle Aufgabe, weil im Interesse des Überlebens aller nun Akteure eingebunden werden müssen, die diesen Vertrag damals gar nicht abgeschlossen haben. Gefordert ist heute nichts weniger als eine große internationale Sicherheitskonferenz unter Beteiligung sämtlicher Atomwaffenstaaten zur Aktualisierung des INF-Vertrages sowie zur allseitigen schrittweisen nuklearen Abrüstung! Und damit diese Option Realität werden kann, muss es starken Druck geben: Durch die Regierungen wie durch außerparlamentarische Initiativen aller direkt und mittelbar betroffenen Länder, deren Sicherheit sich andernfalls dramatisch verschlechtern würde.
Das mag schwer umsetzbar, wenn nicht utopisch klingen. Was aber wäre die Alternative, wenn es nicht früher oder später zu einem großen Knall kommen soll?
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