von Leo Ensel
Einer der unausrottbaren Narrative des deutschen, wenn nicht des westeuropäischen Mainstreams, der auch durch Wiederholung nicht richtiger wird, lautet, Präsident Putin wolle die Europäische Union zerstören. Erst kürzlich wurde diese Erzählung wieder mal in Spiegel Online in einer euphorischen Rezension des Bandes „Der Weg in die Unfreiheit“ des US-Historikers Timothy Snyder genüsslich zelebriert. Einer Fahrt durch die Geisterbahn gleich, wurde dort der, aus anderen Kontexten eh bereits als Superman bekannte, russische Präsident zu nichts weniger als „dem weltweiten Führer der extremen Rechten“ hochstilisiert. Damit nicht genug: Sollten die liberalen Demokratien des Westens demnächst allesamt kollabieren, so wird dies laut Snyder das Werk eines einzigen Menschen gewesen sein: eben des – Sie ahnen es dunkel – Waldimir Putin! In der elaborierten Diktion des Qualitätsmediums: „Er steckt hinter allem.“
Putin: „Wir müssen die Kooperation mit der EU ausbauen!“
Über die Absurdität dieser geschichtsblinden Diagnose des bekannten amerikanischen Historikers und seiner Mainstream-Claqueure ist hier an anderer Stelle bereits das Notwendige gesagt worden. Wie aber äußert sich Putin selbst zu diesem Vorwurf und wie argumentiert er? In seinem Interview mit dem Österreichischen Rundfunk (ORF), Anfang Juni hat er dazu ausführlich Stellung genommen:
Wir verfolgen nicht das Ziel, etwas oder jemanden in der EU zu spalten. Wir sind vielmehr daran interessiert, dass die EU geeint ist und floriert, weil die EU unser wichtigster Handels- und Wirtschaftspartner ist. Und je mehr Probleme es innerhalb der EU gibt, desto größer sind die Risiken und Unsicherheiten für uns. Es sagt viel aus, dass das Handelsvolumen mit den EU-Staaten jetzt knapp 250 Milliarden beträgt. Es ist auf die Hälfte geschrumpft. Früher stand es bei mehr als 400 Milliarden. Wir müssen, im Gegenteil, die Kooperation mit der EU ausbauen! Wir halten 40% unserer Fremdwährungsreserven in Euro. Warum sollten wir die europäische Währung ins Wanken bringen, um dann weitere Verluste zu erleiden, anstatt Vorteile aus der Zusammenarbeit zu ziehen?
Man wird zugeben, der russische Präsident sagt hier nichts, was nicht auch schon der gesunde Menschenverstand nahelegen würde.
Russland und die rechtspopulistischen Parteien im Westen
Aber wie steht es um den Vorwurf, Russland würde rechtsnationale oder gar ultrarechte Parteien in Westeuropa unterstützen? Hierzu ist zweierlei anzumerken. Zum einen hat Putin sich in dem betreffenden Interview auch zu dieser Frage – hier am Beispiel Österreich – geäußert. Nachdem er zunächst festgestellt hatte, die russische Regierung würde gut mit ihren österreichischen Kollegen zusammenarbeiten, „ohne dabei irgendwelchen politischen Vorlieben nachzugehen“, bemerkte er, dass es innerhalb der politischen Parteien Russlands gewisse Vorlieben geben könne:
Wenn ‚Einiges Russland‘ Beziehungen zur FPÖ aufgenommen hat, dann sind das rein parteipolitische Kontakte. Ich bin überzeugt, dass ‚Einiges Russland‘ gerne auch mit anderen politischen Kräften Kontakte aufbaut.
Der Grund dafür, dass genau dies bislang ausgeblieben ist, ist denkbar einfach: Allerspätestens seit Beginn der neuen Spannungen zwischen dem Westen und Russland will von den regierungstragenden Parteien der gesellschaftlichen Mitte in Westeuropa niemand mit „Einiges Russland“ und anderen staatstragenden Parteien zusammenarbeiten. Stattdessen hält man sich lieber an die Opposition. Ist es daher ein Wunder, wenn russische Parteien mit umgekehrten Vorzeichen dasselbe tun? Dazu nochmals der russische Präsident:
Wir entscheiden pragmatisch: Wir versuchen mit jenen zu kooperieren, die selbst öffentlich den Wunsch äußern, mit uns zusammenzuarbeiten. Nur darin sollten Sie die Gründe für politische Kontakte zwischen unseren Parteien und Bewegungen und jenen in Europa suchen. Und nicht im Wunsch etwas in der EU zu destabilisieren oder zu behindern.
Ein Vorstandsmitglied von „Einiges Russland“ redet Klartext
Bemerkenswert ist nun, dass ausgerechnet innerhalb der Regierungspartei „Einiges Russland“ mittlerweile eine Diskussion über die Gefahr einer Zusammenarbeit mit rechten Parteien und Strömungen in Westeuropa entbrannt ist. In einem ausführlichen Essay, der am 9. Juli 2018 in der angesehenen russischen Fachzeitschrift Expert publiziert wurde, warnt Vorstandsmitglied Veronika Kraschenninikowa unter dem Titel „Russland im Netz der Ultrarechten“ eindringlich vor einer Kooperation mit rechtsnationalen Parteien in der EU wie der FPÖ, AFD, dem Front National und der Lega Nord. Und es ist sicher kein Zufall, dass in den deutschen Mainstreammedien nirgends darüber berichtet wurde. Sind die sehr kritischen Thesen Krascheninnikowas doch geeignet, liebgewordene Feindbilder nachhaltig zu erschüttern.
Veronika Krascheninnikowa ist nicht irgendjemand. Das Vorstandsmitglied von „Einiges Russland“ ist auch Mitglied der „Gesellschaftskammer der Russischen Föderation“ – einem beratenden Gremium, dessen Mitglieder vom russischen Präsidenten vorgeschlagen werden – und stellvertretende Vorsitzende der „Kommission für Entwicklung der gesellschaftlichen Diplomatie“. Frau Krascheninnikowa ist kein ‚Weichei‘, keine softe Deutschland- oder EU-Versteherin. Seinerzeit war sie eine der Initiatorinnen des Gesetzes über ausländische Agenten in Russland. Umso bemerkenswerter ihre nachdrücklichen Warnungen vor einer Zusammenarbeit mit den Ultrarechten.
Krascheninnikowa konstatiert zunächst eine große Unkenntnis vieler Mitglieder ihrer Partei über die Innenpolitik westeuropäischer Staaten im Allgemeinen und rechtsnationaler Parteien und Bewegungen im Besonderen: „Das Problem ist, dass in Russland wenige Menschen, nicht einmal Experten vollständige Informationen über die wirklichen Hauptziele dieser Parteien besitzen“, bemerkt sie in einem Interview mit dem Videokanal von Russland News, der als bislang als Einziger im deutschsprachigen Raum über Kraschenninikowas Thesen berichtete.
Russlands falsche Freunde
Die Hauptursache für zeitweise Kontakte zwischen Mitgliedern – nicht Regierungsmitgliedern! – der Partei „Einiges Russland“ und anderer russischer Parteien mit Vertretern rechtspopulistischer Parteien aus der EU sieht sie in der Isolationspolitik Westeuropas gegenüber Russland, die seit 2014 auf Druck der USA erfolgte. Auf dem Hintergrund der westlichen Sanktionspolitik und einer scharfen antirussischen Stimmung seien in Westeuropa rechte Opportunisten aufgetreten, um diese Situation für sich zu nutzen und das internationale Parkett zu betreten:
Wir hörten von diesen Parteien Thesen, die so klangen, als würden sie Russland positiv gegenüberstehen. Ich habe aber nie präzise Argumente gesehen, warum sie eigentlich für Russland sind! Ideologisch verbindet uns nichts. Wie Präsident Putin unmissverständlich gesagt hat, lehnen wir nationalistische und chauvinistische Ansichten kategorisch ab. Jede Ideologie von Hass kann kein Freund Russlands sein! Wir haben eine solche Ideologie 1945 zerstört. Wir hatten gedacht, dies sei einmalig und für immer gewesen, aber irgendwelche Reste sind vielleicht doch noch geblieben. In Deutschland und Italien erfolgte die Denazifizierung nur teilweise, denn die Faschisten in Europa waren für Washington im Kampf gegen die Linke und Gewerkschaften, sogar für die Terroranschläge unter fremder Flagge (siehe Operation ‚Gladio‘) mehr als nur einmal nützlich.
Alle Rechtspopulisten vereine eine Ideologie des Hasses gegen Flüchtlinge, Migranten, Juden und Moslems, Rassismus, Chauvinismus und Gewalt sowie das Bestreben, die bestehende Ordnung zu zerstören und zentristische Parteien aus dem Machtbereich zu fegen. Diese Ideologien seien für ein multiethnisches und polykonfessionelles Land wie Russland höchstgefährlich, kurz: der schnellste Weg das Land zu ruinieren, gar zu zerstören.
Präsident Putin: Der Islam gehört zu Russland
Kraschenninikowa zitiert Präsident Putin aus einer Rede vom Januar dieses Jahres: „Der Islam ist ein Teil des russischen Kulturcodes“ und „Die Moslems sind ein wichtiger Bestandteil des multinationalen russischen Volkes.“ Antiislamische Hetze analog zur Parole der AfD, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, fiele in Russland unter § 282 „Schüren von Hass oder Feindseligkeit sowie Entwürdigung“ beziehungsweise § 280 „Öffentlicher Aufruf zur Ausübung extremistischer Tätigkeit“ des Strafgesetzbuches. Russland verfüge über eine jahrhundertelange Erfahrung des friedlichen Zusammenlebens von Christen und Moslems, eine Erfahrung, von der die meisten Staaten des Westens eine Menge lernen könnten.
Auch könnten die Europäer von Russland lernen, wie man Flüchtlinge aufnehme. Nach Beginn der Kampfhandlungen im Frühjahr 2014 habe Russland innerhalb weniger Monate über anderthalb Millionen Flüchtlinge aus dem Donbass aufgenommen. „Die Exekutive fand Mittel für die Koordinierung der Handlungen, die Gesetzgeber passten die Gesetze an und bei der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligten sich praktisch sämtliche Regionen Russlands. Mehr noch: die Regionen luden von sich aus Menschen mit solchen Berufen ein, an denen es vor Ort mangelte.“
Ultrarechte Parteien mit Trump gegen Europa?
Bemerkenswert beim Thema „Flüchtlingspolitik“ sei, dass bei aller gegen die Immigration gerichteten Hysterie keine der ultrarechten Parteien Westeuropas Front gegen die wahren Ursachen des Migrantenstroms mache: Die von der NATO und von den USA geführten Kriege im Nahen Osten und in Nordafrika. Dies sei auch kein Wunder, denn in Wirklichkeit hätten diese Parteien weder etwas gegen die USA noch gegen die NATO. Jüngste Äußerungen des US-Botschafters in Deutschland Richard Grenell und dessen geistigem Vater Stephen Bannon hätten jeglichen Zweifel an der Unterstützung antieuropäischer Kräfte durch Donald Trumps USA beseitigt. Die Trump-Administration arbeite auf die Spaltung Europas hin, denn für sie sei ein starkes Europa ein gefährlicher Konkurrent. Die wichtigsten EU-Staaten mit Hilfe ultrakonservativer Strömungen auseinanderzubringen und anschließend einzeln zu zerstampfen, sei ein hervorragender Plan der Bekämpfung von Konkurrenten im Stile Trumps.
„Was aber wollen sie im Gegenzug aufbauen?“, fragt Kraschenninikowa rhetorisch. „Ein ‚Europa der Nationen‘ wie in den 30er Jahren? Ein Europa nationalistischer Staaten mit endlosen gegenseitigen Territorial- und Handelsansprüchen? Ein Europa, das zwei Weltkriege entfesselte und Russland in diese hineinmanövrierte, welches in diesen Kriegen die schwersten Verluste erleiden musste?“
All dies sei in Russland kaum bekannt. Russische Kontakte zu europäischen Ultrarechten seien in der Absicht geknüpft worden, zu „zeigen, dass Russland nicht isoliert ist“ und „weil andere keinen Umgang mit uns wollen“. Allerdings führe eine Assoziation mit Ultrarechten, laut Kraschenninikowa, noch weiter in die Isolation und setze die Reputation des Landes aufs Spiel, so dass Russland noch erheblich mehr reale und potenzielle Mitstreiter verliere.
Schluss mit der westlichen Isolation Russlands!
Den scharfsinnigen Thesen des Vorstandsmitglieds von „Einiges Russland“ ist eine möglichst breite Rezeption in Deutschland und Westeuropa zu wünschen, denn sie präzisieren, was Wladimir Putin in Interviews bereits angedeutet hatte: Kontakte russischer Politiker mit rechtspopulistischen Parteien in Westeuropa entspringen nicht einer russischen Strategie, die EU zu zerstören – da sind mittlerweile ganz andere Akteure auf dem Plan –, sie sind vielmehr Resultat der vom Westen selbstverschuldeten Isolierung Russlands.
Die Konsequenz für die Politik der Staaten der Europäischen Union liegt auf der Hand: Da Russland, wie Putin zu bekräftigen nicht müde wird, nach wie vor an einem starken Europa interessiert ist, benötigen die russischen Befürworter einer Kooperation mit der EU die Unterstützung aus Westeuropa – und zwar nicht von den rechten Rändern, sondern aus der gesellschaftlichen Mitte!
Mit anderen Worten: Die Parteien der politischen Mitte in Deutschland und Westeuropa müssen sich endlich bewegen und auf die russischen Parteien zugehen! Interessengeleitet, pragmatisch und ohne gefühlte moralische Überlegenheit. Gute Kontakte zu Russland sind zu wichtig, um sie rechten Rattenfängern zu überlassen. Rückendeckung in der Bevölkerung gäbe es: Nach wie vor sprechen sich 80 Prozent der Deutschen für ein besseres Verhältnis zu Russland aus.
Und die Staaten der Europäischen Union, allen voran Deutschland, müssen sich endlich von ihrer Amerikahörigkeit emanzipieren und eine Entspannungspolitik 2.0 initiieren. Dabei müssten sie noch nicht mal komplettes Neuland betreten.
In Deutschland gab es doch mal Parteien, die in den Siebziger Jahren, mitten im Kalten Krieg, die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion gewagt hatten …
Nachbemerkung
Übrigens wird Frau Kraschenninikowa am 18. Oktober auf Einladung des Deutsch-Russischen Forums in Berlin einen Vortrag zum Thema „Europa und die außenpolitischen Interessen Russlands – Eine russische Sicht“ halten. Eine gute Gelegenheit für die Parteien der gesellschaftlichen Mitte, erste Kontakte mit ihr und damit mit „Einiges Russland“ aufzunehmen. Wenn es ein solches Interesse denn geben sollte...
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