von Leo Ensel
Was sagt eine Lehrerin, wenn der Schüler, den sie ständig auf dem Kicker hat, wider alle Erwartungen doch mal was richtiggemacht hat? Die klassische Antwort, die in keinem Handbuch des Lehrersadismus fehlen darf, lautet – Sie erinnern sich – natürlich: „Warum nicht gleich so!“
Ein Schelm, wem solche Assoziationen beim vergifteten Kompliment der alternativen Qualitätsjournalistin Barbara Oertel durch den Kopf gingen: „Geht doch. Gewinnen kann man auch ohne Betrug!“ Gemeint war der unerwartete 5:0-Sieg der russischen Sbornaja gegen Saudi-Arabien beim WM-Eröffnungsspiel in Moskau. Und ihr Kollege, taz-Fußballexperte Fred Valin resümierte: „Zum Glück fielen viele Tore, sonst wäre es ein Scheißspiel gewesen.“ Das wiederum erinnert an die Logik des berühmten Satzes: „Wussten Sie schon, dass die Alpen einen ganz traurigen Anblick bieten, wenn man sich die Berge einmal wegdenkt?“
Ja, der taz und ihrer anspruchsvollen Leser*innenschaft kann man es schwer recht machen! Besonders, wenn es sich um Russland handelt. Ohne kleine oder größere Sticheleien und Seitenhiebe geht es da nicht ab.
Aber fangen wir mit dem Anfang an. Ort: taz Café, Berlin. Zeit: Donnerstag, 14. Juni, nachmittags. Die Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft in Russland soll im Liveticker kompetent kommentiert werden. Wie lautet wohl die erste Frage nach Robbie Williams, Aida Garifullina und dem Einmarsch der Nationen? Jawoll! „Wo bleibt Putin?“ Beunruhigend: „Der Lieder [sic!] glänzt durch Abwesenheit“, konstatiert die Osteuropa-Redakteurin der taz. Naheliegende Vermutung: „Vielleicht bereitet er einen anderen Einsatz vor?“ Mag ja sein, aber für Westeuropa und die NATO kann Entwarnung gegeben werden. Schließlich galt der Überfall diesmal ja nur dem eigenen Volk!
Aber, oh Wunder, zehn Minuten später ist es bereits so weit und die taz entdeckt Diversity-Anklänge in der Eröffnungsansprache des russischen Präsidenten. Dagegen klingt die russische Nationalhymne in den alternativen Ohren eher wie „Go West“ von den Pet Shop Boys. Und los geht der „erste Schlagabtausch in der Diktatorengruppe A: Russland gegen Saudi-Arabien, autoritäre Präsidialherrschaft gegen wahabbitische Öl-Monarchie.“
Erste Enttäuschung: Wider Erwarten schießt die Sbornaja bereits in der zwölften Minute ihr erstes Tor, laut Osteuropaexpertin Oertel immerhin „Balsam für die russische Seele“. Kein Balsam für die politisch-korrekten Seelen der taz-Redakteur*innen ist jedoch eine unangenehme Entdeckung: Deutschlands prominentester Putin-Freund sitzt tatsächlich auch auf der Tribüne! Will er etwa nach dem Spiel schon wieder als einer der Ersten Putin die Hand schütteln?
Langsam wird das Spiel ruhiger, will sagen: langweiliger. „Russen fremdeln mit der Führung“, kommentiert die Osteuropakennerin, was in ihrem Munde nur ironisch gemeint sein kann. Zum Glück gibt es gegen die Langeweile ein Rezept, das in Russland immer funktioniert! Genau: „Ein Wodka würde dem Spiel gut tun.“ Aber nein, wer hätte das gedacht: Diesmal geht es auch ohne Wodka! 2:0 für die Sbornaja in der 43. Minute!
Halbzeitpause. „Ich glaube, das Spiel hat eine negative Packing-Rate“, orakelt Taktikexperte Valin im fußball-esoterischen Jargon der Eingeweihten.
Weiter geht‘s und Oertel wagt eine erste Prognose: „Es gibt maximal ein 3:0. Der Plansoll ist bereits erfüllt.“ Der? Egal: Russland = Sowjetunion = Plansoll! Und genau eine Viertelstunde später hat sich der erste Teil der Prophezeiung bereits erfüllt: 3:0. Nur Putin, der Coole „klatscht gelangweilt“. Ein guter Anlass, mal wieder auf die politische Seite der WM zu verweisen:
In der Diktatoren-Gruppe A sieht es so aus, als setze sich die autoritäre Präsidialherrschaft Russlands gegen die totalitär-wahabbitische Öl-Monarchie Saudi-Arabiens durch.
Aber dann – der Schiedsrichter wird doch wohl nicht bestochen sein! – kommt ganz zum Schluss die unerwartete Klimax: 4:0 in der 91. und 5:0 in 95. Minute! Zwei Tore ausgerechnet in der Verlängerung. Die Sbornaja hat gewonnen. Und auch noch deutlicher als Weltmeister Deutschland gegen den selben Gegner. Das hatten selbst die Russen ihrer Mannschaft nicht zugetraut! Passt erst recht nicht ins taz-Fußballweltbild. Zeit für vergiftete Komplimente.
Aber halb so schlimm. Schließlich führt Russland ja nur die „Diktatoren-Gruppe“ an!
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