von Leo Ensel
Fast zehn Jahre hatte es gedauert, bis sich die Nachricht von seiner Millionen Menschenleben rettenden Nicht-Tat allmählich in der Welt verbreitete. Und dann dauerte es nochmals Jahre, bis er langsam wenigstens einen Bruchteil der Anerkennung erhielt, die er verdient: Der ehemalige Oberstleutnant der Sowjetarmee Stanislaw Petrow hatte im Herbst 1983 durch eine einsame mutige Entscheidung sehr wahrscheinlich den Dritten Weltkrieg verhindert und damit das Leben von Millionen, gar Milliarden Menschen gerettet.
Die Nacht vom 25. auf den 26. September 1983
Zur Erinnerung: In der Nacht vom 25. auf den 26. September, mitten im kältesten Kalten Krieg, schrillte um 0:15 Ortszeit im sowjetischen Raketenabwehrzentrum bei Moskau die Sirene. Das Frühwarnsystem meldete den Start einer amerikanischen Interkontinentalrakete. Dem diensthabenden Offizier Petrow blieben nur wenige Minuten zur Einschätzung der Lage. Im Sinne der damals geltenden Abschreckungslogik – "Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter!" – hatte die Sowjetführung weniger als eine halbe Stunde Zeit, den alles vernichtenden Gegenschlag auszulösen. Petrow analysierte die Situation und meldete nach zwei Minuten der Militärführung Fehlalarm infolge eines Computerfehlers. Während er noch telefonierte, meldete das System einen zweiten Raketenstart, kurz darauf folgten ein dritter, vierter, fünfter Alarm. Stanislaw Petrow behielt trotz allem die Nerven und blieb bei seiner Entscheidung. Nach weiteren 18 Minuten extremster Anspannung passierte – nichts! Der diensthabende Offizier hatte recht behalten. Es hatte sich in der Tat um einen Fehlalarm gehandelt; wie sich ein halbes Jahr später herausstellte, infolge einer äußerst seltenen Konstellation von Sonne und Satellitensystem, noch dazu über einer US-Militärbasis. Das sowjetische Abwehrsystem hatte diese Konfiguration als Raketenstart fehlinterpretiert.
Was geschehen wäre, wenn Petrow zu einer anderen Einschätzung gelangt und dem als äußerst argwöhnisch geltenden Parteichef Juri Andropow den Anflug mehrerer amerikanischer Interkontinentalraketen gemeldet hätte – und dies im Vorfeld der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa und drei Wochen nach dem Abschuss einer südkoreanischen Passagiermaschine über der russischen Insel Sachalin –, das kann sich jeder ausrechnen, der bereit ist, die notwendige Fantasie und den Mut aufzubringen, eins und eins zusammenzuzählen. Vermutlich hat die Welt nie so unmittelbar vor einem alles vernichtenden atomaren Weltkrieg gestanden.
Wer war dieser Mann, dem wir die Rettung unserer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verdanken?
Ein sowjetisches Leben in kurzen Strichen skizziert: 1939 bei Wladiwostok geboren, der Vater Jagdflieger, die Familie eines Soldaten muss oft umziehen. Später wird er selbst Berufssoldat. Für seine weltrettende Entscheidung wurde er zuerst gerüffelt, dann weder befördert noch bestraft. Den frühen Tod seiner geliebten Frau scheint er nie verwunden zu haben. Die Journalistin Ingeborg Jacobs hat vor drei Jahren über ihn, die Zeit des Kalten Krieges und die berühmte Nacht im Herbst 1983 ein kluges, einfühlsames Buch verfasst.
Ein verhinderter Friedensnobelpreisträger im Plattenbau
Als ich im Jahre 2010 zum ersten Mal von Stanislaw Petrow und den Ereignissen des 26. September 1983 erfuhr, musste ich mich erst einmal setzen. Nachdem ich endlich wieder zu mir gekommen war, mir bewusst gemacht hatte, was da eigentlich geschehen war und was ich zusammen mit der ganzen Welt diesem Mann verdanke, schossen mir folgende Fragen durch den Kopf:
Warum erhält dieser Mann nicht den Friedensnobelpreis?
Warum steht diese Geschichte nicht in den Lesebüchern aller Kinder dieser Welt?
Als warnendes Beispiel dafür, wie weit es die Menschheit mit ihrem Wettrüsten bereits gebracht hatte.
Und als ermutigendes Beispiel für menschlichen Mut und Zivilcourage.
Und:
Wie lebt dieser Stanislaw Petrow als russischer Rentner in seiner vermutlich 60 Quadratmeter großen Wohnung im Plattenbau?
Hat er mehr als 200 Euro im Monat?
Und:
Wie geht es ihm?
Ist er gesund?
Glücklich?
Ich wusste nichts über ihn und hatte doch, ohne es erklären zu können, ein Gefühl: Dieser Mann ist nicht glücklich!
Im Mai 2013 nahm ich Kontakt mit ihm auf. Ich schickte Stanislaw Petrow einen Dankesbrief zusammen mit einer schönen Armbanduhr und Geld. Wenig später erhielt ich von ihm eine sehr freundliche Mail.
Besuch in Frjasino
Es dauerte noch drei Jahre, bis ich ihn im Sommer 2016 in Frjasino bei Moskau besuchte. Als das Taxi vor dem großen Wohnblock in der Uliza 60 let SSSR hielt, stand er schon, in der Hand eine Stofftasche, vor dem Eingang. Er kam gerade vom Kiosk, wo er noch Mineralwasser für uns beide eingekauft hatte. Ich sah einen schmächtigen älteren Mann mit fahler Gesichtsfarbe, schon etwas klapprig auf den Beinen, der erkennbar schlecht sah. Wie er mir später erzählte, war eine Star-Operation nicht erfolgreich verlaufen.
Vor diesem Treffen hatte ich Angst gehabt. Ich wusste, dass seine zunehmende Bekanntheit ihm durchaus nicht immer zum Vorteil gereicht hatte. Die wenigsten seiner Besucher waren uneigennützig gewesen, von einem dänischen Regisseur waren er und seine Geschichte wie eine Goldmine zynisch ausgebeutet worden. Er war zu Recht misstrauisch.
Wir setzten uns in seine Küche, und es wunderte mich nicht: Viele russische Männer, vor allem die älteren, tun sich schwer mit der Führung eines eigenen Haushalts – und das konnte man deutlich sehen. Ich fuhr alle meine Antennen so weit wie möglich aus, ignorierte die verwahrloste Küche und schaute ihm nur in seine schönen wässrig-hellblauen Augen. Eine Stunde nahm er sich Zeit, und ich erlebte auf dem abgewetzten speckigen Küchenmobiliar aus Kunstleder einen freundlichen, klugen, sensiblen und gebildeten Mann mit einer kräftigen dunklen Stimme. Der Abschied war freundschaftlich und herzlich.
Späte Anerkennung
In den letzten zehn Jahren seines Lebens kam es dann doch noch zu einer gewissen späten Anerkennung. Er erhielt Einladungen nach New York, Westeuropa und besonders oft nach Deutschland. Und einige Preise waren nicht nur mit Ehre verbunden, sondern zum Glück auch mit – Geld! Und doch blieb er, so scheint es mir, zugleich der einsame Mann in der verstaubten unbenutzten Küche seiner Plattenbauwohnung, endlose 50 Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum, vom Kreml entfernt.
Anlässlich einer Preisverleihung 2012 in Baden-Baden kam es am Ende eines Interviews, das die WELT mit ihm führte, zu folgendem bemerkenswerten Dialog:
Die Welt: Herr Petrow, sind Sie ein Held?
Stanislaw Petrow: Nein, ich bin kein Held. Ich habe einfach nur meinen Job richtig gemacht.
Die Welt: Aber Sie haben die Welt vor einem Dritten Weltkrieg bewahrt.
Stanislaw Petrow: Das war nichts Besonderes.
Man halte für einen Moment lang inne und mache sich klar, was dieser nüchterne Satz Petrows bedeutet: Er ist nichts weniger als das Understatement der Weltgeschichte!
Am 19. Mai 2017 ist Stanislaw Petrow im Alter von 77 Jahren in Frjasino gestorben. Wie mir sein Sohn Dmitri Anfang September letzten Jahres mitteilte, wurde er im engsten Familienkreis beigesetzt. Es dauerte fast vier Monate, bis diese Nachricht die Welt endlich erreichte.
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln. Weitere Beiträge des Autors finden Sie hier.