Fall Skripal und die Qualitätsmedien 2.0 – Heute: Spiegel Online

Leo Ensel

Im Westen nichts Neues. Auch wenn in der Affäre um den vergifteten Doppelagenten Sergej Skripal nach wie vor nichts bewiesen ist, demonstrieren die deutschen Qualitätsmedien im hektischen Wettbewerb, was sie an antirussischer Demagogie zu bieten haben.

von Dr. Leo Ensel

Was von ZEIT-Online in dieser Hinsicht zu halten ist, haben wir bereits analysiert. Schauen wir uns heute an, was Konkurrent Spiegel-Online auf Lager hat. Am Mittwoch den 4. April veröffentlichte Moskaukorrespondentin Christina Hebel im Qualitätsmedium einen Artikel mit dem durchaus zutreffenden Titel: "Giftanschlag auf Ex-Agent Skripal: Viel Wirbel, wenig Wissen." Auch der Teaser war noch korrekt:

Vor einem Monat wurde der Ex-Agent Skripal vergiftet – London wirft Moskau vor, verantwortlich zu sein. Die Belege sind dünn. Beide Länder geraten immer heftiger aneinander.

So weit, so gut. Allerdings konnte man es sich nicht verkneifen, die sachlichen Überschriften direkt im Anschluss mit dem Foto eines offensichtlich (hinter)listig dreinblickenden russischen Präsidenten zu illustrieren – ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Die subkutane Message: "Und Putin lacht sich eins ins Fäustchen!" Aber das hat das Qualitätsmedium selbstverständlich nicht geschrieben.

Auch wenn es im folgenden Text, abgesehen von der obligatorischen, Kausalität suggerierenden Auflistung des (tatsächlichen oder vermeintlichen) russischen Sündenregisters streckenweise wieder sachlicher zugeht: Die Weichen für die Wahrnehmung sind längst gestellt. Da helfen weder die klare Aussage, dass es bislang keine Beweise für die Täterschaft Russlands gebe, noch der Verweis auf das überhastet wirkende Handeln der britischen Regierung. Schließlich lugt Putin immer noch perfide im Hintergrund!

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War Qualitätsjournalistin Christine Hebel am Mittwoch noch vergleichsweise zurückhaltend, so wird sie einen Tag später bereits in der Überschrift dringlicher. Diesmal heißt es "Nervengiftanschlag auf Skripal – Leichtes Spiel für Putin." Und im Teaser:

Die britische Regierung muss im Fall des vergifteten Ex-Agenten Skripal endlich Beweise vorlegen. Tut sie es nicht und leistet sich Fehler wie zuletzt, spielt sie dem Kreml in die Hände.

Auf Deutsch: "Es muss jetzt endlich bewiesen werden, dass die Russen es waren – sonst haben wir dummerweise ein Eigentor geschossen!" Subkutan steht auch hier wieder der Schuldige längst fest. Noch einmal wird die vom Westen vorgetragene Indizienkette aufgezählt, dann aber bleibt auch Frau Hebel die bittere Schlussfolgerung nicht erspart:

Das sind aber nur Hinweise. Mehr nicht. Nur die Vorwürfe gegen Russland zu wiederholen, reicht nicht aus. Nicht in einem Rechtsstaat.

Rechtsstaatliche Grundsätze werden über Bord geworfen

Das hektische Bedauern, Putin immer noch nicht in flagranti ertappt zu haben, ist mit Händen zu greifen. Schade eigentlich, dass wir immer noch in einem Rechtsstaat leben! Dann müsste man sich allerdings konsequenterweise in Politik und Presse mit vorschnellen Schuldzuweisungen und erst recht mit massiven Konsequenzen auf der Handlungsebene zurückhalten, denn nach wie vor gilt – oder sollte gelten – der Grundsatz: "In dubio pro reo!" ("Im Zweifel für den Angeklagten").

Immerhin argumentiert Frau Hebel noch nicht auf dem Niveau des CDU-Europaabgeordneten Michael Gahler, der vor einer Woche im Deutschlandfunk unter der Überschrift "Russland ist ein Gegner!" diesen zentralen Grundsatz der westlichen Werteordnung mit der saloppen Bemerkung, man befinde sich ja nicht in einem Strafprozess, flott vom Tisch wischte.

Im Anschluss beschreibt Frau Hebel wieder, durchaus zutreffend, die Fehler der britischen Informationspolitik, um dann resigniert zu konstatieren, dass dies ja alles nur Russland nütze. Unausgesprochene Überschrift: "Wenn man Russland schon einen reinwürgt, dann sollte man das gefälligst professioneller anstellen!"

Statt Fakten regieren Suggestionen. Und wo Kritik an forschen Schuldzuweisungen und fahrlässig eskalierenden Handlungskonsequenzen auf Basis unbewiesener Vorwürfe angebracht wäre, wo angedeutet werden müsste, dass im Falle einer Falsifizierung der Vorwürfe zumindest eine Entschuldigung gegenüber der anderen Seite angebracht wäre, kommt Frau Hebel zum Schluss ihres Kommentars zu der Folgerung:

Längst geht es nicht mehr nur um den Anschlag auf Skripal. Es geht um die grundsätzliche Frage, wie der Westen einem Land gegenübertritt, das mit Desinformationskampagnen wie bei der Krim-Annexion, dem Krieg in der Ostukraine oder dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 weiszumachen versucht, es gebe keine belastbaren Tatsachen mehr.

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Nein, Frau Hebel, darum geht es nicht! Es geht darum, wie ernst der Westen seine eigenen Werte überhaupt noch nimmt. Im anderen Falle könnten sich nämlich auch noch die "Westler" unter den Russen – und Putin war einmal einer von ihnen – endgültig vom Westen abwenden. Und zwar zu Recht!

Dr. Leo Ensel ("Look at the other side!") ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt "Postsowjetischer Raum und Mittel-/Osteuropa". Autor einer Reihe von Studien über die wechselseitige Wahrnehmung von Russen und Deutschen. Im Neuen Ost-West-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens.

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