Von Dr. Leo Ensel
Im Herbst 1996, mitten in der Hochzeit von Boris Jelzins Raubtierkapitalismus, führte ich mein erstes interkulturelles Training in der ehemaligen Sowjetunion durch. Das Goethe-Institut Moskau hatte mich eingeladen, mit Mitteln des szenischen Spiels die Deutschlandbilder russischer Germanistinnen – der Sprachenbereich ist hier wie in der gesamten Ex-UdSSR fest in weiblicher Hand – und deren komplementäre russische Selbstbilder zu erkunden. Es sollte das erste Seminar einer langen Reihe werden, die mich in den folgenden zwei Jahrzehnten fast in den gesamten postsowjetischen Raum führte.
Moskau war inzwischen zur, nach Tokio, zweitteuersten Stadt der Welt avanciert. Die Stadt war nun nachts hell erleuchtet, erste Staus verstopften die ehemals leeren breiten Straßen, Marlboro-Cowboys ritten an stalinistischen Hochhauswänden entlang, und das vormals größte Kaufhaus der Sowjetunion, das GUM – einst berühmt für den sarkastischen Witz "Sie wollen ein Kilo Fleisch? - In dieser Schlange gibt's nur kein Brot! Kein Fleisch gibt's in der Schlange nebenan!" – war zu einem Konsumtempel sämtlicher westlicher Luxuswaren mutiert - 1983 hatte ich dort noch mit eigenen Augen gesehen, wie an einem Wasserautomaten alle Besucher aus demselben Glas tranken.
Die durch Masseninflation verarmten russischen Normalbürger versorgten sich dagegen mit den Waren des täglichen Bedarfs an den zahllosen Kiosken, mit denen die Marktwirtschaft in Russland Einzug gehalten hatte und die überall das Stadtbild dominierten. Die meisten Menschen hielten sich mit einem Grundstück weit außerhalb der Stadt über Wasser, wo sie im Sommer Gemüse anbauten, um damit irgendwie durch den Winter zu kommen. Andere zogen zu ihren Verwandten und vermieteten ihre leeren Wohnungen an Ausländer. Damit ließ sich erheblich mehr Geld – und das hieß damals fast überall in Russland: Dollar – machen, als man jemals mit geregelter Arbeit verdienen konnte. Immer wieder hörte ich den bitteren Satz: "Früher hatten wir Geld und nichts zu kaufen – heute gibt es alles, und wir haben kein Geld!"
Das erste Seminar mit russischen Germanistinnen
Vor diesem Seminar – es fand im Gebäude der ehemaligen Botschaft der DDR am Moskauer Lenin-Prospekt statt – hatte ich großen Bammel gehabt. Nie zuvor hatte ich mit russischen Deutschlehrerinnen oder Germanistikdozentinnen zusammengearbeitet. Ich rechnete damit, die Teilnehmerinnen würden bei ihren Deutschlandassoziationen vor allem Bilder aus der Zeit des II. Weltkrieges, von Gräueltaten der deutschen Besatzer oder Szenen aus Kriegsgefangenen- oder Zwangsarbeiterlagern präsentieren. Wie würden sie mich, den Deutschen, behandeln?
Zu meiner größten Überraschung aber war das erste spontane Deutschlandbild, das die Teilnehmerinnen zeigten – das Münchner Hofbräuhaus! Ausgelassen und mit einer Maß Bier bewaffnet prosteten drei Deutsche sich gegenseitig zu. Eine Deutschlandassoziation, wie sie genauso gut von Amerikanern oder Japanern hätte stammen können. Die zweite spontane Assoziation zu den Deutschen verblüffte mich noch mehr: Es war – die Mülltrennung! Deutsche sind – so die damalige russische Wahrnehmung – so ordnungsliebend, dass sie sogar noch ihren Abfall sortieren. Aufgefordert, eine analoge russische Gegenszene zu entwickeln, warfen meine Moskauer Teilnehmerinnen den Abfall wild in die Gegend. Kommentar: "Es ist eh schon alles dreckig!" Und von einer Überzeugung ließen sich die russischen Germanistinnen schon gar nicht abbringen: Die Hausarbeit verrichten in Deutschland Männer und Frauen gemeinsam, wenn es nicht sogar der Mann ist, der seine berufstätige Frau nach einem stressigen Arbeitstag liebevoll bekocht.
Ich war sprachlos. Mit solch harmlosen, ja idealisierten Bildern von den Deutschen hatte ich gerade in Russland nicht gerechnet! Zugleich nahm man aber auch einige deutsche Macken liebevoll auf die Schippe: Die Deutschen wurden nicht nur als ordnungsliebende, umweltbewusste und emanzipationsfreudige Biertrinker gesehen, sondern auch als zurückhaltend, unflexibel, etwas langweilig und schlecht gekleidet. Aufgewachsen mit dem Klischee von fülligen Sowjetfrauen, die in dicken Wattejacken als verdiente Kranführerinnen oder im Straßenbau für den Aufbau des Sozialismus schufteten, traute ich meinen Ohren nicht, als eine Moskauer Lehrerin meinte: "Deutsche Frauen schenken ihrem Äußeren zu wenig Aufmerksamkeit, obwohl sie mehr Möglichkeiten haben als die Russinnen. Sie kleiden sich nicht so elegant, sondern billiger als wir!" – Nicht zuletzt galten die Deutschen als sparsam bis geizig.
Letztere Eigenschaft brachten die russischen Germanistinnen in einer Szene auf den Punkt, die in abgewandelter Form später auch in anderen postsowjetischen Ländern immer wieder auftauchte: Während am Ende einer feuchtfröhlichen Kneipenrunde die Russen untereinander wetteifern, wer nun die Rechnung für alle bezahlen darf – "Die weite Seele kennt keine Sparsamkeit" –, sehen sie die Deutschen mühselig damit beschäftigt, mit dem Taschenrechner den präzisen Betrag für jeden Einzelnen auszurechnen. Ironischer russischer Kommentar: "Jeder zahlt für sich allein – jeder stirbt für sich allein!"
Erst nachdem ich in den Folgejahren analoge Seminare in anderen russischen Städten, aber auch in Kasachstan, Belarus, der Ukraine (West und Donbass), Armenien und Moldawien durchgeführt hatte, wurde mir bewusst, dass ich offenbar auf sehr typische Bilder gestoßen war, die den Blick der Menschen im postsowjetischen Raum auf die Deutschen bestimmen. Vor allem drei – zum Teil gegensätzliche – Cluster tauchten immer wieder auf.
Die Deutschen: Ordnungsfanatiker
Zum einen dominiert noch das wohlvertraute Bild von den klassischen "analen" Eigenschaften der Deutschen, euphemistisch auch "preußische Tugenden" genannt. Demach legen die Deutschen nach wie vor großen Wert auf Pünktlichkeit, sie arbeiten fleißig, zielstrebig und konzentriert, seien sparsam bis geizig, und sie legen eine Ordnungs- und Sauberkeitsliebe an den Tag, die bisweilen schon starre, kaltherzige und selbstgerechte Züge annehme. Zu diesen Zuschreibungen gehören selbstverständlich auch Gesetzestreue sowie eine gewisse Distanziertheit.
Fast alle diese Eigenschaften werden von den ehemaligen Sowjetbürgern zwar einerseits bewundert, allerdings entgeht ihnen nicht, dass sie, rigide gehandhabt, schnell kontraproduktiv werden. So kann man sich als Fußgänger in Deutschland zwar darauf verlassen, dass die Autos auch tatsächlich anhalten, wenn man selbst über die Straße gehen darf, aber die Deutschen versteigen sich in ihrer Regelverliebtheit sogar zu dem für Russen unfassbaren Verhalten, an einer Fußgängerampel selbst dann noch auf "Grün" zu warten, wenn weit und breit kein Auto in Sicht ist.
Deutsche Ordnungsliebe und Gesetzestreue schlügen zudem schnell in Hartherzigkeit gegenüber denjenigen um, die es damit nicht ganz so genau nehmen. In der entsprechenden Szene kann eine Ausländerin, die im Zug ohne Fahrkarte angetroffen wird, weil sie vielleicht kein Geld hat, weder beim Schaffner noch bei den übrigen Passagieren auf Mitgefühl oder gar Erbarmen hoffen. Wer Papier auf die Straße wirft, kann sicher sein, sofort zur Rede gestellt zu werden, und wenn abends im Haus zu laut gefeiert wird, holt man gleich die Polizei. Nach wie vor gilt hier der bekannteste deutsche Satz: "Ordnung muss sein!"
Auch das von Deutschen so hingebungsvoll betriebene Mülltrennen wird aus postsowjetischer Sicht eher als eine moderne Variante deutschen Ordnungsfimmels belächelt, dem ökologisch motivierten Wassersparen dagegen wird der generelle deutsche Hang zur Sparsamkeit unterstellt. Und wo die russische oder ukrainische Hausfrau mal schnell nebenbei "frei Schnauze" einen Kuchen backt, ist ihre deutsche Kollegin ohne Rezept, Messbecher und Uhr völlig aufgeschmissen. Insgesamt ergibt sich aus all diesen Zuschreibungen das wohlbekannte Deutschlandstereotyp vom fleißig-korrekten, aber auch distanzierten und etwas starren unbeweglichen Deutschen.
Im Vergleich zu den preußisch-analen Deutschen sehen sich die ehemaligen Sowjetbürger als spontan, impulsiv, emotional, bequem, hedonistisch bis anarchisch, aber auch als freigiebiger, verschwenderischer und solidarischer. In den entsprechenden Selbstbildern nimmt man es beispielsweise mit der Arbeit weniger genau. "Bei der Arbeit wollen wir uns erholen. Arbeiten tun wir zu Hause!" oder "Kollektivität – Zusammenarbeit und keine Verantwortung", lauten in diesem Zusammenhang die typischen Selbstattribuierungen.
Wo die Deutschen sich in den Bildern gesetzestreu und korrekt verhalten, fahren Russen und Kasachen munter bei Rot über die Straße und behandeln Fußgänger fast wie Freiwild. ("Rot ist kein Verbot, sondern eine Empfehlung!") Sie drehen Justitia den Rücken zu – "Russen sind schlau!" –, denn ihre Lebenserfahrung sagt ihnen: "Unsere Gesetze sind schlecht. Wer Macht hat, hat Recht!" Diese anarchische Einstellung hat allerdings auch eine sehr liebenswerte Kehrseite: Wenn jemand in Not ist, wird Partei für ihn ergriffen – wenn es sein muss, auch gegen die Hüter der öffentlichen Ordnung.
Im Gegensatz zu den als starr gesehenen Deutschen sind die ehemaligen Sowjetbürger stolz auf ihr Improvisationstalent. "Aus einem Glas Wasser, ein bisschen Mehl und einem Ei kann jede russische Frau einen Kuchen backen", lautet der selbstbewusste russische Satz. Man müsse sich daher auch nicht groß verabreden, wenn man sich sehen will, sondern besuche sich spontan, ohne Anmeldung. ("Belarussen sind offen.") Irgendetwas wird man immer auftreiben, um seine Gäste zu bewirten! Überhaupt sieht man sich gern als freigiebig, verschwenderisch und gastfreundlich, schließlich "lebt man nur einmal!"
Die Deutschen: Hedonisten
Allerdings bekommt das klassische "preußisch-anale" Deutschlandbild im postsowjetischen Raum besonders bei der jüngeren Generation zunehmend Konkurrenz durch ein anderes Bild, das diesem diametral entgegensteht. Vor allem die unter 30-Jährigen beschreiben in ihren Bildern die Deutschen eher als locker, hedonistisch und demokratisch. Da widmen sich die Deutschen ausgiebig dem Bierkonsum und schunkeln zu rheinischer Karnevalsmusik, sie bereisen als Touristen sämtliche Länder der Erde, legen mehr Wert auf sportlich-bequeme Kleidung, und am Wochenende arbeiten sie sowieso nicht. Zudem interessieren sich die Deutschen für Politik, praktizieren in der Schule einen lockeren, demokratischen Unterrichtsstil, sie haben die traditionellen Geschlechterrollen etwas aufgeweicht und verhalten sich umweltbewusst aus Überzeugung.
Im Vergleich zu diesen hedonistischen Deutschen beschreiben sich die ehemaligen Sowjetbürger nicht nur als fleißiger im Privatleben, sondern auch als traditioneller und konservativer – nicht zuletzt im Geschlechterverhältnis. Immer wieder beklagen sich die Frauen der postsowjetischen Länder, deutsche Männer wüssten nicht mehr, wie man sich einer Frau gegenüber zu benehmen hat. In den präsentierten Szenen bieten deutsche Männer beim Aussteigen aus dem Bus den Frauen nicht ihre Hilfe an, und dass beim gemeinsamen Essen in einem Restaurant der deutsche Mann die Frau nicht selbstverständlich einlädt, wird von den Frauen in der Ex-UdSSR nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen.
Auch in den postsowjetischen Schulen geht es konservativer und strenger zu. Hier praktizieren die Lehrerinnen vor ihren stramm sitzenden Schülern und Schülerinnen oft noch klassischen Frontalunterricht. Diese reden nur, wenn sie aufgerufen werden, und müssen wesentlich mehr Hausaufgaben erledigen als ihre deutschen Altersgenossen – auch am Wochenende. Überhaupt erweisen sich die Menschen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion im Privatleben im Vergleich zu den hedonistischen Deutschen als wesentlich fleißiger. Wenn man auf der Arbeit mal weniger ranklotzt, dann nicht zuletzt wegen der Schufterei zu Hause und in den obligatorischen Obst- und Gemüsegärten. Dies gilt in besonderem Maße für die Frauen: "Unsere Frauen haben überhaupt keine Freizeit!" Vor allem für die Alten ist statt eines geruhsamen Lebensabends Feld- und Gartenarbeit angesagt. Hier sind also die ehemaligen Sowjetbürger die Fleißigen und die Deutschen die Bequemen.
Die Deutschen: Einzelgänger
Nicht zuletzt werden die Deutschen als sehrindividualisiert, vereinzelt und distanziertwahrgenommen. Deutsche gelten als egozentrische Einzelgänger, die wenig Anteil am Leben anderer nehmen. "Das geht mich nichts an!", lautet der hier immer wieder zugeschriebene Satz. Oder mit den Worten einer 22-jährigen russischen Verkäuferin aus der Schwarzerderegion: "Der wichtigste Mensch für einen Deutschen ist immer nur er selbst!" Dazu passt, dass die unterschiedlichen Generationen in Deutschland kaum noch Kontakt miteinander haben. Dass die Mehrzahl der Deutschen in Kleinstfamilien oder allein lebt, ruft vor allem im ländlichen Kasachstan immer wieder großes Erstaunen bis Unverständnis hervor. Dort lautet dagegen das Motto: "Die Probleme der anderen sind auch meine Probleme!"
Und der Krieg?
Eines fiel mir immer wieder auf: Der Krieg, der "Große Vaterländische Krieg", der fast 27 Millionen Menschen in der Sowjetunion das Leben kostete und der in den meisten Nachfolgestaaten nach wie vor im öffentlichen Raum unübersehbar präsent ist, wurde auf den Seminaren so gut wie nie thematisiert. Immer war ich es, der dieses Thema ansprach. Und immer bekam ich dieselben Antworten zu hören: "Wir haben nicht gegen die Deutschen gekämpft, sondern gegen die Faschisten!" Noch drastischer drückte es eine Studentin in Kasachstan aus: "Der Faschismus tötete mit den Händen der Deutschen." (Noch nicht einmal von deutschen Faschisten war also die Rede!) Und am häufigsten fielen die Sätze: "Wir haben keinen Hass auf die Deutschen. Heute lebt dort eine andere Generation!"
Ich habe die Versöhnungsbereitschaft der ehemaligen Sowjetbürger immer als große zivilisatorische Vorleistung empfunden. Und ich weiß, dass fast alle deutschen Russlandreisenden ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Und ich wäre sehr glücklich, wenn im Bewusstsein der Deutschen zwei Umstände genauso präsent wären wie der Völkermord an den europäischen Juden: die deutschen Verbrechen an den Völkern der Sowjetunion und die unfassbare Versöhnungsbereitschaft der Menschen dort!
In den letzten beiden Jahrzehnten bereiste ich die meisten Länder der ehemaligen Sowjetunion, wo ich für das Goethe-Institut, den DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst - d.Red.) oder andere Organisationen interkulturelle Trainings durchführte. Überall lernte ich höchstsympathische, hilfsbereite Menschen kennen, die mich durch den Dschungel des postsowjetischen Alltags lotsten, und freundete mich mit ihnen an. Für die meisten von ihnen waren Deutschland und "Europa" Sehnsuchtsorte – für die einen erreichbar, für die anderen noch in weiter Ferne. Hätte mich damals jemand gefragt, was ich in diesen Ländern denn eigentlich täte, so hätte ich geantwortet: "Aufräumarbeiten nach dem Ende des Kalten Krieges!" Jede Aktivität, jeder Kontakt mit den Menschen dort war für mich immer auch eine Feier des glücklichen Endes des Kalten Krieges.
Dass es nochmals zu einem neuen Kalten Krieg kommen könnte; ja, dass sich viele meiner neuen Freunde wenige Jahre später bitterlich verfeinden würden – das hätte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können!
(Fortsetzung folgt - Teil 1 bis 4 finden Sie hier.)
Dr. Leo Ensel ("Look at the other side!") ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt "Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa". Autor einer Reihe von Studien über die wechselseitige Wahrnehmung von Russen und Deutschen. Im Neuen Ost-West-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens.
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