von Leo Ensel
Es gibt gefühlte Temperaturen, es gibt seit einem Jahr gefühlte - genauer: alternative - Fakten und es gibt seit Neuestem gefühlte Aggressionen.
Mit dem neuen NATO-Hauptquartier in Deutschland und der damit angestrebten Stärkung ihrer Kommando- und Streitkräftestruktur reagiere die NATO - so war es vor anderthalb Wochen unisono in den deutschen Medien zu hören und zu lesen - vor allem auf die "als aggressiv wahrgenommene Politik Russlands".
Formal logisch ist gegen diese Formulierung noch nicht mal etwas einzuwenden. In der Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen - und dazu gehört auch die Politik - kann, wie jeder Paartherapeut bestätigen wird, Vieles so oder so wahrgenommen werden.
Es mag ja sein, dass es in Polen oder im Baltikum Menschen gibt, die die Politik Russlands "als aggressiv wahrnehmen". Wie die Schönheit so liegt allerdings auch die Aggressivität nicht selten in den Augen des Betrachters. Hier Fiktion und Fakten penibel auseinanderzuhalten, diese Prüfung wäre Aufgabe einer gewissenhaften Politik.
Stattdessen wird die wahrgenommene Aggressivität per se als reale Aggressivität behandelt. Die gefühlte Bedrohung reicht aus, um reale Fakten zu schaffen. Und weil dies so ist, wird auch die formal korrekte Formulierung von der "als aggressiv wahrgenommenen Politik Russlands" de facto zur aggressiven Politik Russlands. "Die Wahrheit lügen", so könnte man diese raffinierte Form der semantischen Propaganda benennen.
Was macht eine verantwortungsvolle Mutter, wenn ihre vierjährige Tochter sich aus Angst vor als aggressiv wahrgenommenen Gespenstern nicht in den Keller traut? - Sie schickt sie natürlich nicht zur Kinderpsychologin, sondern drückt ihr eine Pistole in die Hand! Eine geladene.
Nicht unmöglich allerdings, dass im Gegensatz zu den Kellergespenstern Russland tatsächlich mal "in echt" reagieren könnte. Das wäre dann allerdings eine reale Aggression als reale Reaktion auf eine "als aggressiv wahrgenommene" Politik!
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Der Autor:
Dr. Leo Ensel ("Look at the other side!") ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt "Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa" sowie Autor einer Reihe von Studien über die wechselseitige Wahrnehmung von Russen und Deutschen. Im Neuen Ost-West-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens.