von Leo Ensel
Eiszeit. Die Beziehungen zwischen den beiden größten Atommächten, die sich jahrelang kontinuierlich verschlechtert hatten, befanden sich auf dem Tiefpunkt. Das Vertrauen war restlos zerstört, das wechselseitige Aufrüsten – vor allem bei den nuklearen Sprengköpfen und Trägersystemen – hatte ein brandgefährliches Stadium erreicht. Immer wieder war es zu Fehlalarmen gekommen, die um ein Haar ein globales Inferno ausgelöst hätten. Nahezu alle Kontakte auf offizieller Ebene waren abgebrochen. Ein persönliches Treffen der Chefs der Supermächte hatte es seit Jahren nicht mehr gegeben. Die Welt hielt den Atem an.
Als sie sich endlich unter den Augen einer höchst angespannten internationalen Öffentlichkeit in Genf trafen, gerieten sie bei ihrer ersten Zusammenkunft gleich hart aneinander. Der US-Präsident warf seinem russischen Gegenüber schwere Menschenrechtsverletzungen im Inland und militärische Interventionen im Ausland vor. Der hellwache Russe konterte: "Und wer hat die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen?" Und was das Thema "Menschenrechte" angehe, so hätten die USA kein Recht, anderen Ländern ihre Standards aufzuzwingen.
Mit der Zeit wurde der Ton sachlicher. Immerhin konnten die beiden sich auf eine gemeinsame Abschlusserklärung einigen, die sich als folgenschwer erweisen sollte: Ein Atomkrieg könne nicht gewonnen und dürfe daher auch niemals begonnen werden. Und keine Seite dürfe militärische Überlegenheit anstreben. Damit war ein entscheidender Anfang gemacht.
Zwei Jahre später trafen sich die Staatsmänner wieder, um den bedeutendsten Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte zu unterzeichnen, der erstmals eine gesamte Waffenkategorie eliminierte. (Er ist mittlerweile selbst Geschichte.) Schließlich gelang es den beiden, so viel Vertrauen hatten sie in der Zwischenzeit aufgebaut, 80 Prozent ihrer Atomsprengköpfe restlos zu verschrotten.
Die Rede war natürlich – lang, lang ist's her – von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow und ihrem ersten persönlichen Zusammentreffen am 19. und 20. November 1985 in Genf.
Die Erwartungen im Vorfeld
Ob ein Ereignis von der Tragweite eines Gipfeltreffens als Erfolg bewertet wird, hängt nicht zuletzt von den Erwartungen ab, die zuvor an es gestellt wurden. So gesehen, war es sicher kein Fehler, dass sowohl im Kreml wie im Weißen Haus die Erwartungen im Vorfeld sehr niedrig gehängt wurden. In bemerkenswerter Übereinstimmung betonten beide Seiten, die wechselseitigen Beziehungen seien mittlerweile auf dem Tiefpunkt angelangt. Selbst zu Zeiten des Kalten Krieges, so Kremlsprecher Peskow, habe es nie einen solchen Mangel an Kontakten gegeben. (Die subkutane Botschaft aus Moskau und Washington: Es kann nur noch besser werden!)
Entsprechend gab Präsident Putin als Ziel an, er wolle "unsere persönlichen Kontakte und Beziehungen wiederherstellen, einen direkten Dialog anbahnen und wirksame Kooperationsmechanismen schaffen". Und er ergänzte: "Es gibt Bereiche, in denen wir wirklich effektiv zusammenarbeiten können." Es gehe um die strategische Stabilität, regionale Konflikte und den Umweltschutz. Ein Angebot zur begrenzten Zusammenarbeit also. Das immerhin schien Biden ähnlich zu sehen, wobei er es sich nicht verkneifen konnte, sein Angebot – getreu der neuen NATO-Doktrin "Dialog und Härte" – mit einer unverhüllten Drohung zu verknüpfen: "Ich werde Präsident Putin deutlich sagen, dass es Bereiche gibt, in denen wir zusammenarbeiten können", sagte er am Montag. "Und wenn er sich gegen eine Zusammenarbeit entscheidet und sich so verhält, wie er es in der Vergangenheit getan hat, mit Blick auf die Cybersicherheit und andere Dinge, dann werden wir darauf entsprechend antworten." Die berühmten 'roten Linien' also.
In den Kreisen westlicher und russischer Experten gab man sich ähnlich gedämpft. Das verhaltene Resümee des Journalisten und langjährigen Friedensaktivisten Andreas Zumach: "Im besten Fall gibt es in Genf eine Einigung über die Aufnahme von Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen für den START-Vertrag zur Begrenzung strategischer Atomwaffen." Dies würde immerhin, so Zumach, eine leichte Deeskalation bedeuten, die bereits den großen Aufwand lohnen und zumindest mittelfristig auch zu konkreten Verbesserungen der Beziehungen zwischen Moskau und Washington führen könne.
"Strategische Stabilität"
Skeptischen Optimismus äußerte auf russischer Seite der ehemalige Außenminister Igor Iwanow: "Strategische Rüstungskontrolle bleibt ein zentrales Thema in den amerikanisch-russischen Beziehungen. Die jüngste Verlängerung von START III ermöglichte es Russland und den USA, Zeit zu gewinnen, um einen endgültigen Zusammenbruch des bilateralen Rüstungskontrollregimes zu vermeiden. Jetzt sollten wir gemeinsam die Arbeit an einem neuen Steuerungsmodell beginnen, das die militärpolitischen und militärtechnischen Realitäten des 21. Jahrhunderts besser widerspiegelt." Die strategische Stabilität impliziere nach Iwanow auch eine enge Zusammenarbeit oder zumindest eine Abstimmung zwischen den Parteien im Hinblick auf gemeinsame externe Herausforderungen wie internationaler Terrorismus und Klimawandel, die COVID-19-Pandemie und die Gefahren von menschengemachten Katastrophen, unkontrollierter Migration und unverantwortlichem Verhalten nichtstaatlicher Akteure in der Weltpolitik oder Bedrohungen im Cyberspace.
Deutlich sarkastischer drückte das der Vorsitzende des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik Fjodor Lukjanow aus, als er im Zusammenhang mit dem Konzept der strategischen Stabilität von einer notwendigen "Reparatur der Konfrontation" sprach: "So seltsam es klingen mag, Russland und die USA brauchen eine geordnete Konfrontation – ein Bewusstsein für echte Widersprüche, ihre Hierarchie (was mehr und was weniger wichtig ist) und zumindest eine Grundidee von einem Rahmen und verbindlichen Grenzen." Dies bedeute "absolut keine Annäherung, keine Versöhnung, sondern eine Minimierung allzu gefährlicher oder sinnloser Risiken, die leider in letzter Zeit zugenommen haben". Sollten Putin und Biden als Ergebnis der Genfer Gespräche verkünden, sie hätten Fachleute wie Militärs, Diplomaten und Wissenschaftler gebeten, sich an kontinuierlichen Diskussionen über neue Prinzipien zur Stärkung ebendieser strategischen Stabilität unter Berücksichtigung der sich verändernden Waffentypen, der Rolle des Cyberspace, des Wachstums weiterer nuklearer Akteure etc. zu beteiligen, so wäre das, laut Lukjanow, ein Erfolg.
Man sieht: Zumindest die Statements der russischen Seite durchzieht immer wieder das Konzept der strategischen Stabilität, was man als das Bemühen übersetzen könnte, die Konfrontation zumindest regelbasiert zu begrenzen. (Optimisten mögen dies als Ausgangspunkt für künftige Abrüstungsbemühungen ansehen.)
Das Ende des Schweigens
Versuchen wir auf diesem Hintergrund eine vorläufige Bilanz im unmittelbaren zeitlichen Anschluss an das Treffen.
Dass eine gemeinsame Abschlusserklärung von vornherein nicht eingeplant war, war vermutlich eine weise diplomatische Entscheidung im Vorfeld, die beiden Akteuren mehr Beweglichkeit ohne vorschnellen Zwang zu großen, aber womöglich hohlen Worten erlaubte. Den Einzelstatements von Putin und Biden ist übereinstimmend zu entnehmen, dass das Treffen in einer offenen Atmosphäre "ohne Feindseligkeiten" (Putin) verlief, was auf dem Hintergrund der vergangenen Monate – man denke nur an Bidens "Mörder"-Äußerung – bereits ein nicht zu unterschätzender Fortschritt ist.
Schaut man sich die getroffenen Vereinbarungen an, so stellen sie tatsächlich zumindest die Weichen für einen künftigen regelbasierteren Umgang miteinander. Dass es – erstmals seit 1952 – in beiden Hauptstädten überhaupt keine Botschafter mehr gibt, ist ein unhaltbarer Zustand, der schnellstmöglich revidiert werden musste. (Auf russischer Seite hatten dies kürzlich Ex-Außenminister Iwanow und der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Dynkin eingeklagt.) Mit der vereinbarten Rückkehr der Botschafter werden die basalen Bedingungen für zivilisierte zwischenstaatliche Beziehungen wiederhergestellt. Ähnlich sieht es mit dem vereinbarten strategischen Rüstungsdialog von Diplomaten und Militärs "als Grundlage für kommende Abrüstungsgespräche" und dem anvisierten Dialog über Cybersicherheit aus: Beide Seiten signalisieren hier immerhin das Ende der Kommunikationslosigkeit.
Natürlich wäre es verfrüht, von einem 'Durchbruch' zu sprechen, aber vergleicht man die Ergebnisse des Treffens der beiden Staatschefs mit den oben zitierten (gedämpften) Erwartungen westlicher und russischer Experten, so wäre es im Sinne ihrer Äußerungen in der Tat berechtigt, von einem 'Erfolg' – die vorsichtigen Anführungszeichen sollte man beibehalten – zu sprechen. Man muss Lukjanows sarkastische Formel der "geordneten Konfrontation" nicht teilen, um zu konstatieren, dass sowohl er als auch Iwanow in Russland wie Andreas Zumach in Deutschland mit Verlauf und Ergebnissen der Genfer Unterredung 'zufrieden' sein müssten. Mit anderen Worten: Es hätte schlimmer kommen können!
Nimmt man allerdings das erste Treffen von Gorbatschow und Reagan zum Maßstab, so fällt Genf 2021 weit hinter Genf 1985 zurück. Beim Genfer Treffen 2021 war weder von einem 'Reset' die Rede, wie weiland – und ebenfalls in Genf – 2009 unter Obama und Medwedjew, erst recht war vom 'Spirit' des Neuen Denkens nichts zu finden, das sich in der gemeinsamen Genfer Abschlusserklärung von 1985 in ersten Ansätzen bereits deutlich abzeichnete. Aus der Perspektive des Neuen Denkens – "Im Atomzeitalter kann die Sicherheit, vor allem der atomaren Großmächte, nur gegenseitig und im globalen Rahmen nur allumfassend sein. Die Politik der Stärke hat sich grundsätzlich überlebt." (Michail Gorbatschow) – wurden gestern einige wenige, allerdings dringend notwendige, Verbesserungen im Rahmen des alten Denkens erzielt. Nicht mehr und nicht weniger!
Realistisch betrachtet, war wohl auch nicht mehr zu erwarten. Man kann also schon mal erleichtert sein, dass das Treffen wenigstens kein Misserfolg war. Wie weit das Genfer Gipfeltreffen tatsächlich ein 'Erfolg' war, wird sich wohl erst in drei bis sechs Monaten besser beurteilen lassen, wenn sich abzeichnet, ob die vereinbarten Gespräche über strategische Stabilität und Cybersicherheit tatsächlich konstruktiv verlaufen werden. Präsident Biden ist zumindest in diesem Punkt hier recht zu geben.
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