von Leo Ensel
Vor circa 15 Jahren erzählte mir eine gute belarussische Freundin in Minsk mal folgenden Witz: Ein Russe, ein Ukrainer und ein Weißrusse betreten ein Restaurant und setzen sich an den Tisch – genau auf einen Nagel, der in allen Stühlen im Sitzpolster versteckt war. Wie reagieren die drei? Der Russe geht zum Wirt und haut ihm die Fresse nach hinten. Der Ukrainer zieht den Nagel aus dem Polster und verkauft ihn. Und der Weißrusse bleibt mit unbewegter Mine sitzen und denkt sich: „Es ist ja ein bisschen unbequem, aber vielleicht muss es ja so sein!“
Meine Freundin Tanja wollte mir damit die belarussische Mentalität erklären: „Wir sind bereit, sehr viel Unbequemlichkeit zu ertragen, wenn die Verhältnisse wenigstens einigermaßen stabil bleiben und es nicht noch schlimmer kommt!“
Zwischen West und Ost
Weißrussland, neuneinhalb Millionen Einwohner, an der Nahtstelle zwischen West und Ost, ein Land mit bewegter Geschichte. Seit Ende des ersten Jahrtausends Teil des Kiewer Rus, gehörte es vom 14. bis Ende des 18. Jahrhunderts zum Königreich Polen-Litauen, bevor es im Zuge der polnischen Teilungen ins zaristischen Russland eingegliedert wurde. Nach einer sehr kurzen Episode der Unabhängigkeit zwischen 1918 und 1920 war es als Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik – wie die Ukraine und Moldawien mit wechselnden Grenzen nach Westen – über 70 Jahre Teil der Sowjetunion.
Seit 1992 ein selbständiger Staat und seit 26 Jahren vom ehemaligen Sowchosleiter Alexander Lukaschenko mit eiserner Hand regiert. Durchmarschgebiet von Napoleons Grande Armée und Hitlers Wehrmacht auf dem Wege nach Moskau. Ort von Napoleons größtem Desaster, als sich Ende November 1812 auf dem Rückzug beim Überqueren zweier Behelfsbrücken bei Borissow Hunderte Soldaten in einer Massenpanik gegenseitig tottrampelten und im eisigen Wasser der Beresina versanken.
Im II. Weltkrieg zahlte das Land mit einem Viertel seiner Bevölkerung den größten Blutzoll von allen Sowjetrepubliken. Zugleich war der Partisanenkampf nirgends so hartnäckig wie hier. Wehrmacht und Einsatzgruppen der SS hinterließen eine Spur der Verwüstung. Zwischen 1942 und 1944 wurden im Rahmen des „Antipartisanenkampfes“ Hunderte von Dörfern unter logistischer und tatkräftiger Mithilfe der Wehrmacht von den Einsatzgruppen der SS abgefackelt – inklusive der Bevölkerung, die man zuvor in die Dorfscheune oder -kirche getrieben hatte.
In Chatyn, auf der Straße nach Witebsk, befindet sich eine Gedenkstätte, die weltweit einmalig ist: Ein Friedhof – nicht für Menschen, sondern für 186 Dörfer, die dem Erdboden gleichgemacht und nach dem Krieg nie wieder aufgebaut wurden. Die Hauptstadt Minsk war, wie fast alle weißrussischen Städte, zu über 90 Prozent zerstört und wurde in den Fünfziger Jahren als „Sonnenstadt der Träume“ im Stil einer vorweggenommenen kommunistischen Utopie wiederaufgebaut.
All das hat Spuren in der belarussischen Mentalität hinterlassen.
Belarus ist auch das Land, das am meisten von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl heimgesucht wurde. Bis heute sind vor allem im Südosten ganze Landstriche radioaktiv verseucht. Die Weißrussen, das hat man im Westen überhaupt nicht auf dem Schirm, waren nicht zuletzt die Verlierer der EU-Osterweiterung: Während man vor dem EU-Beitritt Polens und des Baltikums problemlos von Belarus aus in diese Nachbarländer fahren konnte, wird seitdem ein Visum benötigt, das nicht ganz leicht zu besorgen und für die meisten Weißrussen recht teuer ist.
Die falschen Freunde der Opposition
Jahrzehntelang hat sich im Westen so gut wie niemand für dieses kleine Land zwischen EU und Russland interessiert. Die Meisten wussten nicht genau – die Analogie zur Krim und zum Donbass drängt sich förmlich auf –, wo dieses Land liegt und gar nicht so wenige noch nicht mal, dass es dieses Land überhaupt gibt. Und wenn, dann kursierten bestenfalls mitleidig-spöttische Phrasen wie die vom „Freilichtmuseum des real-existierenden Sozialismus“, dem „Nordkorea vor der polnischen Haustür“, beherrscht vom „letzten Diktator Europas“. Ab und zu verschlug es ein paar sowjetnostalgische Touristen, die noch einmal risikolos ein posthumes „Sowjetfeeling“ goutieren wollten, in dieses exotische Land jenseits der EU. Sie genossen in diesem Land, in dem Ordnung und Sauberkeit wie bei den Sieben Zwergen herrschen, wohlig und wohlfeil einen (für sie) billigen Thrill: Schließlich heißt sogar der Geheimdienst dort noch wie zu Sowjetzeiten – KGB!
Lediglich einige wenige Organisationen wie zum Beispiel das „Internationale Bildungs- und Begegnungswerk“ (IBB) leisteten in aller Stille über einen sehr langen Zeitraum wertvolle Versöhnungsarbeit: Bei der Entschädigung von Zwangsarbeitern, der Durchführung von Geschichtswerkstätten, der Sanierung einiger Gebäude im ehemaligen von den Nazis eingerichteten Minsker Ghetto und dem Aufbau einer Gedenkstätte in Maly Trostenez, elf Kilometer südöstlich der Hauptstadt, wo zwischen 1942 und 1944 die deutsche Sicherheitspolizei bis zu 60.000 Menschen – Juden (viele von ihnen aus großen deutschen Städten), sowjetische Kriegsgefangene und Partisanenverdächtige – exekutierte.
Jahrzehntelang lag dieses Land – so schien es jedenfalls den meisten hier – in einem tiefen Dornröschenschlaf.
Nun aber auf einmal entdeckt der Westen, entdecken die deutschen Medien ihr Herz für Weißrussland. Schließlich ist endlich mal etwas los in diesem bis gestern noch vor sich hin dämmernden Land: Opposition! Widerstand! Da fühlen sich barmherzige Samariter*Innen wie Ralf Fücks und seine unermüdliche Gattin Marieluise Beck vom „Zentrum Liberale Moderne“, Alice Bota, Christina Hebel oder der bei jeder Revolution mit dem Arsch der Anderen durchs Feuer reitende Bernhard-Henri Lévy sofort bemüßigt, ungefragt zu helfen. Natürlich in dem für den Westen so typischen Gestus fürsorglicher Bevormundung.
Und eine verbindliche neue Sprachregelung wird gleich mitgeliefert: Aus politisch-korrekten – will sagen: geopolitischen – Gründen wird, Spiegel-Online deklarierte es, ab sofort nur noch von „Belarus“ gesprochen. Offensichtlich geht es darum, das peinliche Wort „Russland“ zu eliminieren. (Was allerdings schon beim Adjektiv nicht mehr hinhaut. „Belarussisch“ und „weißrussisch“ bedeuten, wie jeder Slawist bestätigen wird, auch semantisch exakt ein und dasselbe.) Wie beim Wort „Geflüchtete“ oder beim Genderstern soll die neue Sprachregelung als Vereinsabzeichen fungieren: Wer auf der richtigen Seite, sprich: der Guten, stehen will, sagt ab jetzt „Belarus“. Wer dagegen immer noch von „Weißrussland“ spricht, erweist sich als Putin- und Lukaschenko-Knecht. Dumm nur, dass dies – abgesehen von ein paar strammen Nationalisten, wie es sie auf der Welt überall gibt – in Weißrussland, pardon: Belarus!, keinen interessiert!
Ich nehme mir heraus, beide Begriffe synonym zu verwenden.
Natürlich ist dieses neue Interesse nicht uneigennützig: Die Versuchung, auch noch den letzten Pufferstaat aus der Zerfallsmasse der ehemaligen Sowjetunion dem Westen – vor allem der NATO, versteht sich – einzugliedern und damit Russland nachhaltig zu schwächen, ist für Einige einfach zu groß. Entsprechend stark sind auch die Aspirationen der deutschen Transatlantiker von grün bis schwarz. Es sind nicht nur die alten Kämpferinnen wie Marieluise Beck oder Viola von Cramon-Taubadel, das Wort „Belarus“ ist neuerdings auffallend oft auch aus dem Munde eines Norbert Röttgen zu hören. Übrigens meist im Zusammenhang mit dem Giftanschlag auf Nawalny. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Dass mit dieser Strategie im schlimmsten Fall auf dem Rücken der weißrussischen Bevölkerung sicherheitspolitische Vabanquespiele vom Kaliber einer Kubakrise ausgetragen würden, ist den selbstlosen Streitern für die Menschenrechte egal. Belarus in der NATO, am Ende mit atomar bestückten Kurzstreckenraketen unmittelbar vor der russischen Haustür – das fehlte gerade noch!
Fragt sich nur, ob das erstens im Interesse der Weißrussen liegt und ob zweitens für die Mehrzahl der Menschen, die gegenwärtig mit dem Risiko auf die Straßen gehen, von Vertretern ihrer Staatsmacht grün und blau geprügelt zu werden, geopolitische Ziele überhaupt eine Rolle spielen.
Die illegitime Wahl
Wahlen, bei denen die Herrschenden im Voraus unter fadenscheinigsten Vorwänden sämtliche Kandidaten, die ihnen gefährlich werden könnten, einsperren oder von der Wahl ausschließen, sind illegitim. Schon deswegen ist die weißrussische Opposition im Recht, wenn sie mittlerweile – und nicht nur in Minsk, sondern in zahlreichen Städten des Landes – seit über einem Monat zu Hunderttausenden friedlich, aber hartnäckig protestiert. Dies gilt auch unabhängig davon, ob die Wahl am 9. August, wie von den Demonstranten behauptet, massiv gefälscht wurde oder nicht!
Eine Reihe von Ungereimtheiten gab es in der Tat: Beobachter der OSZE konnten nicht ins Land, weil das weißrussische Außenministerium sie nicht rechtzeitig eingeladen hatte. Nach der Wahl war der Zugang zum Internet landesweit zwei Tage lang weitgehend gesperrt. Lukaschenko zeigte sich zusammen mit seinem Sohn Kolja in Militäruniform mit einer Kalaschnikow in der Hand. Wahlgewinner mit stolzen 80 Prozent der abgegebenen Stimmen im Rücken sehen anders aus. Mindestens 6.000 Demonstranten wurden in den folgenden drei Tagen, wie die belarussischen Behörden selbst mitteilten, verhaftet. Viele von ihnen schwer misshandelt.
Bereits im Vorfeld hatte Lukaschenko mächtig ausgeteilt. Und zwar nicht nur gen Westen, sondern auch – das geriet hier etwas in Vergessenheit – in Richtung Russland. Offenbar witterte er Feinde überall. Der ehemalige Direktor der Belgazprombank Viktor Babariko wurde am 18. Juni verhaftet und Valerij Zepkalo, stellvertretender belarussischer Außenminister von 1994 bis 1997 und langjähriger Direktor des Minsker Hightech-Parks, von der Wahl ausgeschlossen. Damit waren die beiden Kandidaten, die Lukaschenko am gefährlichsten hätten werden können, ausgeschaltet. Die im Westen zur Jeanne d‘Arc hochgepuschte Swetlana Tichanowskaja, die einsprang, wird dagegen von den meisten Weißrussen als wenig kompetent eingeschätzt. Was ist davon zu halten, dass sie sich nach der Wahl zur Siegerin erklärte?
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Noch vor zehn oder fünf Jahren hätte Lukaschenko jedenfalls keine einzige Wahl fälschen müssen. Das Quorum von 50 Prozent hätte er mit Sicherheit locker geschafft. Vielleicht nicht in Minsk. Aber sein Rückhalt auf dem Lande und bei der älteren Bevölkerung, die in Belarus immer noch recht sowjetisch ‚tickt‘, war groß. Aber nehmen wir einmal an, die Wahlergebnisse wären diesmal tatsächlich drastisch gefälscht worden. Würde das im Umkehrschluss bedeuten, dass Frau Tichanowskaja die tatsächliche Wahlgewinnerin ist? Nein! Lukaschenko könnte die illegitime Wahl vielleicht nicht mit den offiziellen 80 Prozent gewonnen, jedoch – wofür einiges spricht – als Kandidat die meisten Stimmen auf sich vereinigt, möglicherweise auch das Quorum von 50 Prozent wieder geschafft haben.
Es gibt daher nur einen Ausweg: Die Wahl muss wiederholt werden! Und zwar unter Teilnahme aller zuvor ausgeschalteten Kandidaten. Und unter Aufsicht der OSZE. Es sieht so aus, dass selbst der belarussische Präsident – unter dem Druck der Verhältnisse – sich an diesen Gedanken langsam zu gewöhnen scheint. Durchaus möglich, dass Putin hier beim kommenden Treffen in Sotschi noch etwas nachhelfen wird.
Ist Lukaschenko „Putins Mann“?
Entgegen den Suggestionen einiger westlicher Medien war Lukaschenko nämlich nie Russlands oder gar Putins Mann. In den Neunziger Jahren, in der Endphase Jelzin träumte der weißrussische Machthaber mal kurz von einer Union beider Staaten. Er machte sich wohl Hoffnungen, Jelzins Nachfolger zu werden. Allerspätestens als Putin an die Macht kam, musste er jedoch die Erfahrung machen, dass der Schwanz nicht mit dem Hund wackelt – und das Projekt „Union“ mutierte zu einer unendlichen Geschichte ohne große Konsequenzen, denn für Lukaschenko wäre selbstverständlich nur eine ‚Wiedervereinigung‘ zu weißrussischen Bedingungen infrage gekommen.
Lukaschenkos Außenpolitik zeichnete sich durch eine jahrzehntelange Schaukelpolitik zwischen West und Ost aus, bei der auch der Westen keine besonders gute Figur abgab. Mit Bauernschläue, nicht selten dreist, im Sinne seiner Machterhaltung aber durchaus erfolgreich, machte Lukaschenko je nach Opportunität mal der einen, dann der anderen Seite Zugeständnisse – und nahm sie wieder zurück, wenn es ihm gerade in den Kram passte. Kurz: Lukaschenko handelte nach dem Prinzip der Echternacher Springprozession, will sagen, frei nach Lenin: Ein Schritt vor – zwei zurück! Und die EU war nur zu bereit, bei den eigenen hehren Werten immer wieder beide Augen zuzudrücken, wenn Lukaschenko nur mal ein paar politische Gefangene freiließ – und ein Zusammengehen mit Belarus gerade eine geopolitische Schwächung Russlands versprach.
Putin hat sich mit einer Stellungnahme zur aktuellen Entwicklung in Belarus relativ viel Zeit gelassen und sein ‚Hilfeversprechen‘ in Richtung Lukaschenko war eher an einem Worst Case-Szenario – „Wenn die Situation außer Kontrolle geraten sollte!“ – orientiert, das hoffentlich nie eintritt. Zugleich ging er zum weißrussischen Präsidenten vorsichtig auf Distanz, indem er mit Blick auf die Massenproteste betonte, die Menschen hätten ein Recht, ihre Meinung zu äußern.
Man braucht kein Kreml-Astrologe sein, um die These aufzustellen, dass Putin in erster Linie an Stabilität – keine geopolitischen Veränderungen und keine bürgerkriegsähnlichen Zustände – im westlichen Nachbarland interessiert ist. Sollte Lukaschenko dies nicht mehr garantieren können, wäre es höchstwahrscheinlich auch mit der russischen Unterstützung aus. Moderatere Kandidaten, die auch von großen Teilen der Opposition akzeptiert werden, dürften im traditionell russlandfreundlichen Belarus unschwer zu finden sein.
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Der Autor: Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Seit den Nuller Jahre führte er in Weißrussland zahlreiche interkulturelle Trainings mit belarussischen Germanistikdozentinnen und Deutschlehrerinnen vor allem für das Goethe-Institut durch.
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