Unterstützung für Syrien? Beginn der EU-"Geberkonferenz"

Karin Leukefeld

Die Europäische Union hat nach Brüssel eingeladen, um Geld zu sammeln. "Geberkonferenz" nennt sich das von Montag bis Dienstag andauernde Ereignis, bei dem es – so der Titel – um "Unterstützung für Syrien und die Region" gehen soll.

von Karin Leukefeld

Ziel des digital-virtuellen Ereignisses ist es laut offizieller Ankündigung, "die internationale Gemeinschaft zu mobilisieren, eine nachhaltige und glaubwürdige politische Lösung des Syrienkonflikts zu unterstützen, wie es die UN-Sicherheitsratsresolution 2254" vorsehe. Tatsächlich aber geht es um Geld, denn die humanitären und stabilisierenden Hilfsprojekte vor allem in den Nachbarstaaten Syriens Türkei, Irak, Jordanien, Libanon und auch in Ägypten müssen weiter finanziert werden.

Bis Ende 2021 werden dafür rund 8,4 Milliarden Euro gebraucht. Für etwa die Hälfte des Geldes – Spenden oder Kredite – liegen bereits Finanzierungszusagen vor. Die restlichen Milliarden Euro sollen in Brüssel nun eingeworben werden.

Den Ko-Vorsitz der Konferenz haben die Vereinten Nationen, die mit ihren Hilfsorganisationen die sozialen und humanitären Folgen des seit zehn Jahren anhaltenden Konflikts um Syrien humanitär abzufedern versuchen. Dutzende weiterer privater, staatlicher und internationaler Hilfsorganisationen haben in den letzten Wochen Berichte über die schwierige Lage in Syrien und ihre deswegen unverzichtbaren Projekte vorgelegt, die sie allein oder in Kooperation mit anderen umsetzen und für die sie auch Geld brauchen.

Die komplizierten Finanzierungskonzepte der EU-gesponserten Hilfsprojekte seit 2017 "für Syrien und die Region" werden in aufwendigen Finanzberichten beschrieben.

Die Organisatoren der nunmehr bereits 5. Geberkonferenz dieser Art in Brüssel hoffen am Montag und Dienstag auf großzügige finanzielle Zusagen der 77 Delegationen aus 50 Staaten, 10 regionalen und verschiedenen weiteren Finanzorganisationen, die ihre Teilnahme angekündigt haben. Hochrangige Experten der UNO, von Institutionen und Nichtregierungsorganisationen sowie Politiker werden dafür bei Forumsdiskussionen werben. Wegen anhaltender Gefährdung durch COVID-19 trifft man sich nicht persönlich, sondern im virtuellen Raum des Internets.

Auch wenn das Programm für den ersten Tag eine "Interaktive Plattform für Dialog" ankündigt,  geht es nicht um einen politischen Dialog zwischen syrischen Kontrahenten im Sinne der UN-Sicherheitsratsresolution 2254. Vielmehr kommen – moderiert von einem deutsch-libanesischen Reporter der Deutschen Welle – EU- und UN-Vertreter mit Vertretern der syrischen Zivilgesellschaft ins Gespräch. Dabei geht es um "Wirtschaftliche Entwicklung",  "Nahrungsmittelsicherheit", um die  "Freilassung von Gefangenen" und einen "Weg zu Gerechtigkeit und Frieden".

Vorschläge und Eindrücke von 1.572 Vertretern zivilgesellschaftlicher Gruppen aus der Region sind nach Angaben der EU in einen Online-Bericht eingeflossen, der am ersten Tag der Konferenz von acht ausgewählten Beteiligten vorgetragen werden soll. 40 Begleitveranstaltungen – über das Leben Jugendlicher, über "Herausforderungen und Möglichkeiten der Weizen- und Olivenwertschöpfungskette in Nordwest- und Nordostsyrien" bis hin zu "Stabilisierung und Gesundheitssystem im Nordosten Syriens" – können während der zweitägigen Veranstaltung im Livestream verfolgt werden.

Am zweiten Tag kommt die offizielle Politik zu Wort. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und der UN-Sonderbeauftragte für Syrien Geir Otto Pedersen sprechen über den politischen Dialog unter dem Dach der UNO, weiter wird über "humanitäre Hilfe und Bildung" und über die "regionale Resilienz (...) der Nachbarländer" debattiert.

Am Abend dann soll der EU-Kommissar für Krisenmanagement Janez Lenarčič verkünden, in welcher Höhe sich die teilnehmenden Staaten, Organisationen und internationalen Finanzagenturen jeweils verpflichtet haben, um die laufende humanitäre Hilfe bis  Ende 2021 weiter zu finanzieren. Seit 2011 haben auch die EU und EU-Mitgliedsstaaten 25 Milliarden Euro aufgebracht, um die Folgen des Krieges in Syrien aufzufangen. Die größten Geberländer sind Deutschland, Großbritannien und die USA.

Hilfsprojekte ja, wirtschaftliche Entwicklung nein

Bei dem EU-Projekt "Unterstützung für Syrien und die Region" geht es darum, die Auswirkungen des Krieges um Syrien aufzufangen. Humanitäre Probleme der Bevölkerung sollen gemildert, die Widerstandskraft – die sogenannte "Resilienz" – von syrischen Flüchtlingen in den Nachbarländern und von Inlandsvertriebenen soll gestärkt werden. Die Hilfsprojekte, die von dem Geld der Geberkonferenz profitieren, werden in erster Linie in der Türkei, im Irak, Libanon, in Jordanien und auch Ägypten umgesetzt. Diese Länder haben die meisten der rund 6 Millionen syrischen Flüchtlinge aufgenommen und müssen sie auch mit Unterkünften (Lagern), Strom, Wasser, Essen, Lebensmitteln und medizinisch versorgen. Der Krieg hat nicht nur zu Flucht und Vertreibung, zu Zerstörung und Hunger  geführt, alle Länder wurden durch die anhaltende Intervention regionaler und internationaler Akteure und die enorme Militarisierung destabilisiert. Alle Länder durchlaufen schwere wirtschaftliche und politische Krisen.

Als offizielles Ziel ihres Projekts gibt die EU an, Syrien und der Region helfen zu wollen. Tatsächlich geht es aber auch darum, neue Flüchtlingsbewegungen zu verhindern. Der Chef des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Filippo Grandi warnte, die Geberkonferenz für Syrien müsse die Türkei, den Libanon, Jordanien, den Irak und Ägypten großzügig unterstützen. Nur so könne verhindert werden, dass weitere Flüchtlingsboote – wie bereits vom Libanon in Richtung Zypern – letztlich in Richtung Europa ablegten.

Ein weiteres Ziel des EU-Projekts ist es, in Syrien und um Syrien herum – die EU spricht von "östlicher Nachbarschaft" – an Einfluss zu gewinnen. Das geschieht – neben militärischer Stationierung –, indem der politische und wirtschaftliche Druck auf die betroffenen Länder – vor allem Syrien, Libanon, Irak und Jordanien – seit Jahren aufrechterhalten bleibt und erhöht wird. Mittel dafür sind Sanktionen, militärische Besatzung und Bedrohung, die politische Blockade und Isolation Syriens. Gleichzeitig werden Projekte ziviler und humanitärer Intervention erweitert.

Aber Hilfe und Sanktionen sind zwei Seiten einer Medaille. Im gleichen Zeitraum, in dem die EU und EU-Mitgliedsstaaten nach eigenen Angaben 25 Milliarden Euro für Hilfsprojekte ausgegeben haben – seit Beginn des Krieges 2011 – haben sie ihre einseitigen wirtschaftliche Strafmaßnahmen (Sanktionen) gegen Syrien jährlich verlängert und verschärft. Heute stehen auf der EU-Sanktionsliste 289 Personen und 70 zumeist staatliche Unternehmen, u.a. der Öl- und Gaswirtschaft und die syrische Zentralbank, Geldkonten wurden eingefroren. Die EU-Sanktionen werden ergänzt durch das "Caesar-Gesetz" der USA. Diese einseitigen Strafmaßnahmen sind völkerrechtlich nicht legitimiert. Sie treffen nicht nur Syrien, sondern auch die Nachbarländer, denen der Handel mit Syrien vor allem durch das US-"Caesar-Gesetz" unter der Androhung, selbst sanktioniert zu werden, untersagt wird.

Die  Staaten, die mit der Finanzierung von EU-gesponserten Hilfsprojekten weiter unterstützt werden sollen, werden dadurch eher an die lange Leine gelegt. Politische Eliten, die sich wenig um die Versorgung der eigenen Bevölkerung kümmern können oder wollen, werden gestärkt. Eigenständige politische Entwicklungen – wie die regionale Kooperation in Politik und Handel, auch der Wiederaufbau in Syrien, von dem die Nachbarländer profitieren könnten, einschließlich der Rückkehr von syrischen Flüchtlingen – werden durch die Sanktionen verhindert.

Daran soll sich auf absehbare Zeit auch nichts ändern, wie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell kürzlich deutlich machte. Bei einer Debatte "Zehn Jahre Krieg in Syrien" im EU-Parlament (am 10. März 2021) sagte Borrell nicht ohne Stolz: "Wir sind der größte Geber, und wir werden weiter unsere Solidarität zeigen." Allerdings werde es "kein Ende für die Sanktionen, keine Normalisierung, keine Unterstützung für den Wiederaufbau" geben, solange es in Syrien keinen "politischen Wandel (Transition)" gebe, meinte Borrell mit Nachdruck. Das müsse auch "die Botschaft der Brüsseler (Geber-)Konferenz sein."

Caritas fordert Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien

Die meisten der Hilfsorganisationen, die bei dem virtuellen Geber-Ereignis in Brüssel in diesen Tagen um Finanzierung ihrer Projekte – und damit auch für den eigenen Erhalt – werben, äußern sich nicht dazu. Anders Caritas Internationalis, die Dachorganisation der Römisch-Katholischen Kirche für 162 nationale Caritas-Organisationen. Die internationale Gemeinschaft müsse endlich aktiv werden und die einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Syrien – die  Sanktionen – aufheben, sagte der Generalsekretär der Organisation Aloysius John auf einer Pressekonferenz.

Die Caritas unterstütze die Kirchen in Syrien, die das seit Jahren forderten, so John. Die Sanktionen, die bereits zu Beginn des Krieges gegen Syrien verhängt worden seien, müssten aufgehoben werden, um die Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, auch die Versorgung der syrischen Bevölkerung mit Impfstoff gegen COVID-19. Die Sanktionen behinderten die Arbeit von Hilfsorganisationen, auch der Kirchen und eine Verhandlungslösung. Der Stillstand und das große Leid der Bevölkerung würden andauern, wenn die Sanktionen nicht aufgehoben würden. "Alle Syrer, besonders die junge Generation, verdienen eine bessere Zukunft."

Der Apostolische Nuntius in Syrien Mario Kardinal Zenari fügte hinzu: "Es ist richtig, dass seit einigen Monaten in etlichen Teilen Syriens keine Bomben und Raketen mehr eingeschlagen sind. Dafür explodiert jetzt die schreckliche 'Bombe' der Armut." Und Riad Sargi von der Caritas in Syrien wies darauf hin, dass die Syrer für den Krieg in den letzten zehn Jahren einen hohen Preis bezahlt hätten. "Die Sanktionen, der (politische) Boykott gegen Syrien und das (US-)Caesar-Gesetz schaden dem Leben aller Syrer. Die Sanktionen treffen sie in ihrem Alltag", so Sargi. "Die Müllcontainer in den Straßen sind für die Ärmsten zur Nahrungsquelle geworden."

Die negativen Auswirkungen der Sanktionen auf das Leben der Bevölkerung bekräftigt auch die UN-Sonderberichterstatterin Alena Douhan. In einem Interview mit der Schweizer Zeitung Zeit-Fragen sagte sie kürzlich, dass eine "erschreckende Mehrheit" der unilateralen Sanktionen – die nicht nur Syrien beträfen – das Völkerrecht verletzten. Die Menschenrechte der gesamten Bevölkerung würden missachtet, aktuell zeige sich das an der COVID-19-Pandemie. Syrien – Douhan sprach in dem Zusammenhang auch von Venezuela – werde gehindert, Medikamente, medizinische Geräte, Testmaterial zu erhalten, um die Krankheit einzudämmen. Sanktionen gegen Einzelpersonen und Unternehmen behinderten den Wiederaufbau in Syrien, lebensnotwendige Infrastruktur in der Öl- und Gasförderung könne nicht umgesetzt werden. Das wiederum verzögere den Wiederaufbau von Wohnungen und Krankenhäusern, weil Stromnetze, Wasser- und Gasversorgung nicht gewährleistet seien.

Die einseitigen Strafmaßnahmen verletzten mehrere Grundrechte auf einmal: "Das Recht auf Gesundheit, auf Nahrung, auf Leben", so Douhan. Die diese Sanktionen verhängenden Staaten begründeten ihre Maßnahmen mit der Einhaltung von Menschenrechten. "Ich denke, es ist absurd, Menschenrechte zu schützen, indem man sie verletzt." Es gäbe kein "tolerierbares Maß an Kollateralschäden", so Douhan weiter. Länder seien durch internationale Konventionen und Gewohnheitsrecht verpflichtet, "die Rechte eines jeden zu schützen und sich völkerrechtskonform zu verhalten".

Die EU gibt an, dass durch die einseitigen Strafmaßnahmen/Sanktionen die humanitäre Hilfe nicht behindert oder gestoppt werde, dafür sei eigens ein Katalog erstellt worden.

Alena Douhan dagegen erfuhr von zahlreichen humanitären Nichtregierungsorganisationen das Gegenteil. Ein umfangreiches Verfahren sei notwendig, um eine Lizenz von der EU oder auch den USA zu erhalten, um beispielsweise medizinische Geräte nach Syrien zu liefern. Das gelte auch für COVID-19-Tests, Medikamente oder einen CT-Scanner. Die Verfahren seien langwierig und teuer, weil man Anwälte einschalten müsse. Selbst um Treibstoff für ein Fahrzeug zu kaufen, das Hilfe nach Syrien bringt, brauche man eine Lizenz der Länder, die die Sanktionen verhängten.

Kein Vertrauen in die EU

Alles das wird aber bei der 5. Geberkonferenz zur "Unterstützung für Syrien und die Region" nach dem Willen des EU-Außenbeauftragten gar kein Thema sein. Die Einladung, an dem virtuellen Event teilzunehmen und sich einzubringen, dürfte in Syrien müde belächelt werden. "Wie, wenn wir keinen Strom haben", sagt Haitham A. in einem kurzen Telefonat mit der Autorin. "Wie, wenn wir von morgens bis abends laufen, um Essen auf den Tisch zu bringen?!" Hussam M., ein Buchhalter aus Damaskus, antwortet knapp: "Ich traue so einem Spektakel nicht."

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