von Karin Leukefeld aus Damaskus
Allmonatlich wird über "die politische Lage in Syrien" im UN-Sicherheitsrat debattiert. Am vergangenen Dienstag war es hinter verschlossenen Türen wieder so weit. In einer "nicht öffentlichen" Videositzung informierte der UN-Sonderberichterstatter Geir O. Pedersen über den Fortgang der UN-gesponserten Syrien-Gespräche in Genf. Sein Aufruf zu "konstruktiver internationaler Diplomatie" stieß auf taube Ohren. Russland, das politisch und militärisch mit Syrien verbündet ist, fordert die westlichen Nationen seit Beginn des Krieges 2011 – die UNO spricht von einem "Konflikt" – zur Kooperation in Syrien auf. Die westlichen Nationen sind dazu nicht bereit, weil sie ihre Ziele in Syrien nicht erreicht haben. Also werfen sie Russland eine "Blockadehaltung" vor. Schuld an allem sei "das syrische Regime", so EU-Vertreter in einer gemeinsamen Stellungnahme.
Syrien bleibt eine Kampfzone des neuen Ost-West-Konflikts
US-Besatzungstruppen verstärken ihre Präsenz im Nordosten und Süden des Landes. Gemeinsam mit Israel, den arabischen Golfstaaten und der EU unterstützen die USA die Konfrontation mit Iran, einem weiteren Verbündeten Syriens. Finanziell, politisch, wirtschaftlich und militärisch fördern die USA, die EU, Israel und die arabischen Golfstaaten oppositionelle Kräfte, die in Syrien wenig bekannt oder isoliert sind und keinen Kompromiss wollen.
Russland vermittelt zwischen den Fronten. Basis ist das Völkerrecht, das jedem Staat politische Souveränität und territoriale Integrität garantiert. Einerseits im Bündnis mit Syrien und andererseits mit Iran und der Türkei in der Astana-Gruppe (2017) konnte die militärische Konfrontation reduziert und die syrischen Streitkräfte gestärkt werden. Weitere Erfolge gelingen kaum, weil die westlichen Nationen blockieren. Stattdessen ermuntern sie ihre Stellvertretertruppen in Syrien, aktiv zu werden. Als per Videoschaltung der UN-Sicherheitsrat tagte, wurde die russische Militärbasis Hmeimim bei Latakia mit Langstreckenraketen attackiert, die aus Idlib abgefeuert worden waren. Die US-Armee brachte Nachschub zu ihren illegalen Militärbasen in Syrien.
Pedersen: Konstruktive internationale Diplomatie wird gebraucht
Bei der nicht öffentlichen UN-Sicherheitsratssitzung am 9. Februar über die politische Lage in Syrien hatte der norwegische Diplomat Geir Pedersen über die fünfte Runde der UN-gesponserten Gespräche eines syrischen Verfassungskomitees in Genf berichtet. Im Anschluss fasste Pedersen gegenüber Journalisten in Genf – und per Video – wesentliche Punkte seines Berichts zusammen.
Beide Seiten des Verfassungskomitees – der Syrische Nationalrat und die syrische Regierung – hätten sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können. Er habe für den UN-Sicherheitsrat die von beiden Seiten und zusätzlich der Gruppe der Zivilgesellschaft eingebrachten Grundsatzpositionen zusammengefasst. Einen weiteren Arbeitsplan gäbe es nicht, und eine der Seiten habe vorgeschlagen, die Treffen hinsichtlich der Häufigkeit und Dauer völlig anders zu gestalten. Alles in allem sei das fünfte Treffen des syrischen Verfassungskomitees "eine verschenkte Gelegenheit und Enttäuschung" gewesen. Das dürfe nicht wieder vorkommen, man müsse sich auf "eine gemeinsame rechtsstaatliche Sprache" konzentrieren.
Pedersen forderte eine "konstruktive internationale Diplomatie" zu Syrien. "Mehr denn je" sei er "überzeugt, dass ohne diese kein Weg – weder der Weg zu einer Verfassung noch irgendein anderer – wirklich weiter führen wird". Es gäbe kaum Vertrauen und wenig politischen Willen, Kompromisse zu finden, und "es gibt einen Mangel an politischem Raum, um Kompromisse einzugehen". Vieles, was für die verschiedenen Seiten wichtig sei, habe nichts mit der Verfassung zu tun und "liegt noch nicht einmal in den Händen der Syrer selbst", so Pedersen. "Es muss verhandelt werden", das wisse jeder in Syrien und außerhalb. "Aber die meisten Akteure scheinen nur daran interessiert zu sein, dass sich die andere Seite zuerst bewegt."
Das gelte für das Verfassungskomitee, und er habe es dort auch betont. Er sei aber überzeugt, dass mehr noch die aktuelle Spaltung in der internationalen Gemeinschaft überwunden werden müsse. Um Bewegung in die UN-Sicherheitsratsresolution 2254 zu bekommen, seien "gegenseitige und auf Gegenseitigkeit beruhende Schritte" erforderlich.
Pedersen kündigte weitere Gespräche mit der Regierung in Damaskus und dem oppositionellen Syrischen Nationalrat an. Außerdem werde er – vorausgesetzt, die Corona-Lage lasse es zu – an der nächsten Sitzung der Astana-Gruppe am 15./16. Februar in Sotschi teilnehmen.
UNO: 57 Staaten sollen ihre Bürger aus Lagern im Nordosten Syriens nach Hause holen
Stéphane Dujarric, Sprecher des UN-Generalsekretärs, fasste das Sitzungsgeschehen äußerst knapp zusammen und ging auf inhaltliche Details nicht ein. Umfangreicher äußerte er sich zu der besorgniserregenden Lage für mehr als 64.000 Menschen, darunter 31.000 Kinder in den Lagern al-Hol und Roj im Nordosten Syriens, über die man auch gesprochen habe. Dujarric verwies auf eine Erklärung des UN-Menschenrechtsrates (8. Februar 2021), in der konkret 57 namentlich genannte Staaten aufgefordert werden, ihre Bürger – vor allem die Frauen und Kinder – aus diesen Lagern in Syrien "umgehend" nach Hause zu holen.
EU: Das "syrische Regime" ist schuld
Nach der geschlossenen Sitzung verlas der estnische UN-Botschafter Sven Jürgenson im Namen von fünf aktuellen und ehemaligen EU-Mitgliedsstaaten im UN-Sicherheitsrat – Estland, Frankreich, Irland, Belgien und Deutschland – eine Erklärung, in der dem "syrischen Regime" vorgeworfen wurde, den Gesprächsprozess in Genf "zu blockieren".
Man unterstütze "voll und ganz den UN-Sonderbeauftragten Pedersen" und fordere Damaskus auf, "sich ernsthaft in einem glaubwürdigen politischen Prozess zu engagieren". Dazu gehöre "die Freilassung von Gefangenen und Auskunft über Verschwundene", führte der estnische UN-Botschafter aus. Es müssten "freie, faire und transparente Wahlen" unter UN-Aufsicht organisiert werden. Alle Syrer, "auch die in der Diaspora", müssten teilnahmeberechtigt sein. Wohl wissend, dass voraussichtlich im Juni 2021 turnusgemäß die nächsten Präsidentschaftswahlen in Syrien anstehen, erklärten die Botschafter: "Wir werden keine Wahlen anerkennen, die nicht mit den Bedingungen der Resolution 2254 übereinstimmen." Unterstützung für den Wiederaufbau in Syrien werde es nicht geben, "solange nicht eine umfassende, glaubwürdige und inklusive politische Transition fest auf dem Weg" sei, wie es die UN-Sicherheitsratsresolution 2254 vorschreibe.
Gleichwohl sei die EU "entschlossen", das syrische Volk weiter zu unterstützen und man freue sich auf die fünfte Brüssel-Konferenz Ende März, bei der – rechtzeitig zum "zehnten Jahrestag des syrischen Aufstandes" – Geld und politische Unterstützung für die EU-Politik eingeworben werden sollen: zur Unterstützung der Zukunft Syriens und der Region".
Russland: Wir brauchen Vertrauen und (von den westlichen Staaten) konstruktive Vorschläge
Der russische stellvertretende UN-Botschafter Dmitri Poljanski erklärte gegenüber der russischen Nachrichtenagentur TASS (10. Februar 2021), das Verfassungskomitee unter dem Dach der UNO sei "das einzige Format", das funktioniere und alternativlos sei. "Wir brauchen Vertrauen zwischen den Seiten, und die westlichen Staaten könnten dazu beitragen, wenn sie ordentlich mit der Opposition arbeiten und gegenüber Damaskus konstruktive Angebote vorlegen würden." Der Diplomat verwies darauf, dass Moskau die Anstrengungen von Geir Pedersen unterstützen und immer auf eine politische Lösung in Syrien hingearbeitet habe. Dafür stehe auch der Astana-Prozess. "Wir gehen davon aus, dass der Ablauf und die Methoden bei der Arbeit des Verfassungskomitees von den Syrern selbst bestimmt werden sollten."
Vertreter aus Russland, Iran und der Türkei (Astana-Gruppe) hatten am Rande des Treffens in Genf Ende Januar die Teilnehmer des Verfassungskomitees ermuntert, "Bereitschaft zum Kompromiss und konstruktiver Teilnahme" zu zeigen, um in "allgemeiner Übereinstimmung (...) die breiteste mögliche Unterstützung für das syrische Volk" zu erreichen.
Der russische Außenminister Sergei Lawrow hatte in einem Telefonat mit UN-Generalsekretär António Guterres unter anderem die Aufhebung der einseitigen Wirtschaftssanktionen gegen Syrien gefordert, um dem Land mehr Spielraum im Umgang mit der COVID-19-Pandemie zu verschaffen. Internationale humanitäre Hilfe solle nicht "politisiert" werden, berichtete die syrische Nachrichtenagentur SANA.
Syrien: Das Völkerrecht gilt auch für Syrien
Von syrischer Seite gab es zu der UN-Sicherheitsratssitzung keine offizielle Stellungnahme. Allerdings hat die syrische Regierung wiederholt ihre Forderungen gegenüber dem UN-Sicherheitsrat deutlich gemacht. Danach müssen die fortgesetzten völkerrechtswidrigen Angriffe Israels in Syrien gestoppt werden, ausländische Besatzungstruppen der Türkei und der USA müssen abgezogen werden. Die einseitigen, ebenfalls völkerrechtlich nicht legitimierten Wirtschaftssanktionen der EU und USA müssen aufgehoben werden und die Länder, deren Bürger sich dem Islamischen Staat in Syrien angeschlossen hatten, müssen diese und deren Angehörige aus Syrien evakuieren. Internationale humanitäre Hilfe dürfe nicht politisch instrumentalisiert werden. Erst vor wenigen Tagen protestierte das syrische Außenministerium dagegen, dass die Türkei Pläne bekannt gab, in al-Rai, nördlich von Aleppo, eine Abteilung der Universität von Istanbul zu eröffnen. Das sei gefährlich und eine drastische Verletzung der UN-Charta und des Völkerrechts, so Damaskus.
Syrien: Leben in der Kampfzone
Am selben Tag, an dem im UN-Sicherheitsrat der UN-Syrienbeauftragte Geir Pedersen eine "konstruktive internationale Diplomatie" für das Land forderte, geschah in Syrien dies:
Islamistische Kampfverbände in Idlib verletzten den im März 2020 vereinbarten Waffenstillstand 29 Mal in den Provinzen Idlib, Latakia, Hama und Aleppo, berichtete das Russische Zentrum für die Versöhnung der verfeindeten Seiten in Syrien. Bei Ain Issa nördlich von Rakka griffen die von der Türkei unterstützten Kampfverbände Positionen der von den USA unterstützten kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) an. Syrische Truppen wiederum feuerten auf Stellungen der türkisch unterstützten Milizen bei al-Barah, westlich von Maarat an-Numan. Am selben Tag wurden "illegale Öllager" in der Nähe von al-Bab, nordöstlich von Aleppo, zerstört. Russische Quellen schrieben diesen Angriff den syrischen Streitkräften zu. Russland und Syrien führten zudem in der Provinz Aleppo gemeinsame Manöver durch, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Die russische Luftwaffenbasis Hmeimin bei Latakia wurde von Langstreckenraketen angegriffen, die von Mehrfachraketenwerfern in der Provinz Idlib abgefeuert worden waren.
US-Kampfdrohnen der Sorte "MQ-9 Reaper" (eingesetzt zur Ermordung des iranischen Generals Qassem Soleimani und dessen Delegation am 3. Januar 2020 am Flughafen Bagdad) kreisten Berichten zufolge über der Stadt Idlib gemeinsam mit einer türkischen Kampfdrohne Bayraktar TB2. Nach Einschätzung von Augenzeugen waren die US-Kampfdrohnen mit AGM-114-Hellfire-Raketen bewaffnet. Beide Drohnen führten Behälter mit sich, die möglicherweise Kameras zur Aufzeichnung enthielten. US- und türkische Kampfdrohnen sind immer wieder über Idlib im Einsatz, obwohl eine offizielle Kriegserklärung der beiden NATO-Staaten gegen Syrien nicht vorliegt. Offiziell geben beide Staaten an, in Syrien die Terrorgruppen Al-Qaida und Islamischer Staat zu bekämpfen.
US-Truppen transportierten am selben Tag schweres Material aus Irak zu eigenen Militärstützpunkten in Syrien. Die insgesamt 59 Lastwagen sollen Augenzeugenberichten zufolge Kühlschränke, Tanks und militärische Fahrzeuge sowie militärische Ausrüstung und Logistik geladen haben, hieß es sowohl bei SANA als auch im staatlichen US-Auslandssender Voice of America. 45 Fahrzeuge sollen über den irakisch-syrischen Grenzübergang Samalka im Nordosten Syriens gefahren sein, der von den USA und SDF-Kräften kontrolliert wird. Weitere 14 Fahrzeuge seien über den Grenzübergang al-Walid/At-Tanf im Dreiländereck von Syrien, Irak und Jordanien gekommen, der von US-Truppen und islamistischen Kampfverbänden kontrolliert wird. Dort befindet sich die illegal errichtete US-Militärbasis At-Tanf auf syrischem Territorium, um die die US-Streitkräfte eine 50 Kilometer breite "Schutzzone" gezogen haben. Sollten sich syrische Truppen dorthin bewegen, werden sie angegriffen. Auf der Militärbasis At-Tanf wird eine sogenannte "Revolutionäre Kommandoarmee" ausgebildet, die angeblich gegen den IS kämpfen soll. Tatsächlich rekrutiert sich diese Truppe aus islamistischen Kämpfern.
Im Nordosten Syriens errichten die US-Streitkräfte derzeit offenbar eine weitere ebenfalls illegale Militärbasis in der Stadt al-Hasaka. In der gleichnamigen Provinz befindet sich bereits eine US-Militärbasis mit Flugfeld bei den Ölfeldern von Shaddadeh und Rmeilan. Eine weitere US-Militärbasis ist auf dem Omari-Ölfeld bei Deir ez-Zor. Seit der Amtsübernahme des neuen US-Präsidenten Joe Biden am 20. Januar sollen lokalen Berichten zufolge insgesamt vier Militärkonvois über den Grenzübergang Samalka gekommen sein. Mindestens 200 US-Soldaten seien per Hubschrauber eingeflogen worden. Jindar Berekat, ein Reporter von Voice of America, berichtete, eine neue US-Basis werde in al-Hasaka errichtet, wo die Bauarbeiten rund um ein Gebäude mit US-Flagge verfolgt werden könnten.
Die Menschen in al-Hasaka seien der Ansicht, die US-Truppen wollten gegenüber den russischen Truppen Präsenz zeigen, die ebenfalls in al-Hasaka seien. Russland unterstützt auf Bitte des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad seit 2015 die syrische Armee. Die russische Militärpolizei kooperiert sowohl mit türkischen als auch mit syrischen und kurdischen Truppen. Russland vermittelt auch zwischen den kurdisch dominierten SDF-Kräften und der Regierung in Damaskus.
Der vorherige US-Präsident Donald Trump hatte vergeblich angeordnet, die US-Truppen aus Syrien abzuziehen. Schließlich akzeptierte er eine geringe Zahl, "um das Öl zu schützen", wie er sagte. Im August 2020 begann die US-Firma Delta Crescent Energy LLC mit der Förderung von Öl im Nordosten Syriens. Mit der kurdisch dominierten SDF-Verwaltung war eine entsprechende Vereinbarung getroffen worden. Die syrische Regierung protestierte scharf gegen die illegale Plünderung syrischer Ressourcen.
Das geförderte Öl wird weiterhin in Tanklastwagen unter dem Schutz der Nacht und von US-Truppen zum Verkauf in den Nordirak geschmuggelt. US-Präsident Biden wählte eine andere Sprachregelung als sein Vorgänger. Nicht wegen des Öls seien die US-Truppen auf und bei den Ölfeldern im Nordosten Syriens, erklärte Pentagon-Sprecher John Kirby, sondern um ein Wiedererstarken des IS zu verhindern.
Tatsächlich gibt es erneut zunehmend Angriffe des "Islamischen Staates in Irak und der Levante", vor allem in den Wüstengebieten im Osten und Südosten des Landes. Um Weihnachten, als syrische Soldaten zum Heimaturlaub unterwegs waren, gab es Anschläge auf die Busse, die Soldaten und Zivilisten transportierten. In Syrien ist man überzeugt, dass der IS dort stark ist, wo die US-Administration Einfluss nimmt und ihre Interessen und militärische Präsenz behaupten will.
Syrien: Leben in der Schwebe
Die Bevölkerung in al-Hasaka, Qamischli und anderen Orten im Nordosten Syriens lebt in einer Kampfzone. Sie ist im Machtkampf zwischen den US-Besatzungstruppen und den syrischen Kurden auf der einen, türkischen Besatzungstruppen und deren islamistischen Milizen auf der anderen und Russland und der syrischen Armee gefangen. Strom, Wasser und Telefonverbindungen werden immer wieder von der türkischen Seite und/oder der kurdischen Administration gekappt. Die kurdisch dominierte Verwaltung hat angeordnet, Orts- und Straßennamen in die kurdische Sprache zu ändern. Gehälter werden Berichten zufolge in US-Dollar ausgezahlt. Schulunterricht wird ganz oder teilweise in kurdischer Sprache abgehalten. Bauern wird untersagt, ihre Weizen- oder Baumwollernte nach Aleppo zu verkaufen, wie sie es seit Generationen getan haben. Wasser und Elektrizität der Euphrat-Dämme werden von der SDF-Behörde kontrolliert, und zwischen den Gebieten nördlich des Euphrats und südlich davon gibt es "Grenzübergänge". Reisende von Damaskus oder Aleppo nach al-Hasaka oder Qamischli und umgekehrt sind nicht nur lange unterwegs, sie müssen sich auch immer wieder ausweisen und erklären, wen von ihrer Verwandtschaft sie in welchem Ort besuchen wollen.
In Teilen Nordsyriens und in Idlib werden von der Türkei mit EU-Geld Stromleitungen und andere Infrastrukturmaßnahmen umgesetzt. Schulen und Universitäten werden errichtet, in denen Türkisch, Arabisch und Englisch gelehrt wird. Türkische Lira werden als Währung eingesetzt, die Türkei hat eigene Postämter eröffnet und Sicherheitskräfte ausgebildet, die zur Gefolgschaft des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vereidigt werden. Die Bauern werden gezwungen, ihre Produkte nicht auf die Märkte von Aleppo, sondern in die Türkei zu liefern.
Während in den von den USA und der Türkei besetzten Gebieten Syriens Kriegswirtschaft herrscht, ist der Rest des Landes einer massiven Wirtschaftskrise ausgesetzt. Das syrische Pfund verliert an Wert, die Produkte werden teuer, Arbeitslosigkeit nimmt zu. Weil Syrien keinen Zugriff auf die eigenen Öl- und Gasvorkommen jenseits des Euphrats hat, ist das Land auf den Import angewiesen oder auf das Angebot von Schmugglern, die gegen entsprechende Bezahlung Öl beschaffen können. Für die Bevölkerung bedeutet das, kein Heizöl im Winter, Mangel an Treibstoff und Gas, das die Menschen zum Kochen brauchen. Wer Geld hat, kann sich überteuert und auf dem Schwarzmarkt versorgen. Die Korruption nimmt zu, die Schere zwischen Arm und Reich wird größer.
Die einseitig von der EU und den USA verhängten wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Syrien greifen ineinander und schnüren den Syrern geradezu die Luft zum Atmen ab. Das US-fabrizierte "Caesar-Gesetz" sorgt zusätzlich dafür, dass auch die Bevölkerung in den Nachbarstaaten Libanon, Jordanien und Irak betroffen sind. Geschäftsleuten und selbst Mitarbeitern von Hilfsorganisationen aus aller Welt droht eine "Bestrafung" durch die USA, sollten sie in oder mit Syrien arbeiten.
In Syrien gibt es für das Vorgehen des Westens, das angeblich die Rechte der Bevölkerung stärken und die Regierung schwächen soll, kein Verständnis. Wenn das Ausland ein Problem mit der Regierung habe, sollte es nicht die Bevölkerung dafür verantwortlich machen, sagt beispielsweise Aban Noufouri, der einen kleinen Familienbetrieb für Medizinprodukte führt und große Probleme mit dem Import von Rohstoffen hat. "Letztlich sind wir doch Nachbarn", sagte er kürzlich im Gespräch mit der Autorin in Damaskus. "Wenn jemand mit seinem Nachbarn ein Problem hat, dann muss er dennoch zu dessen Sohn 'Guten Morgen' sagen."
USA und EU: Konfrontation statt Kooperation
Die Außenpolitiker der Bundesregierung gehören zu den stärksten Verfechtern dieser Erdrosselungspolitik, die Russlands Außenminister Lawrow kürzlich als "Methoden und Werkzeuge aus der kolonialen Vergangenheit" beschrieb.
Das Auswärtige Amt folgt mit seiner harten Haltung auf EU- und UN-Parkett ganz den Stichwortgebern der US-Administration, die diese Politik für Syrien und den Mittleren Osten schon unter dem früheren Präsidenten Barack Obama entwickelten. Unwahrscheinlich ist, dass diese Haltung sich unter der neuen Administration von Joe Biden ändern könnte, denn die Berater Obamas sind nun in Schlüsselpositionen aufgestiegen.
Dazu gehört Dana Stroul, Mitglied des Washingtoner Instituts für Nahostpolitik (WINEP), einem Thinktank, der seit 1985 die Nahostpolitik US-amerikanischer Administrationen begleitet. Wegen seiner Nähe zum American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) und seiner deutlich pro-israelischen Politik wird das Institut in der arabischen Welt sehr kritisch gesehen. Unter Präsident Biden soll Stroul im US-Verteidigungsministerium, dem Pentagon, nun die Abteilung für den Mittleren Osten leiten.
Zuletzt war Stroul eine von zwei Vorsitzenden der parteiübergreifenden Syria Study Group, die ihren Abschlussbericht im Herbst 2019 vorlegte. Bei der Veranstaltung "Syrien in der Grauzone", die im Oktober 2019 vom Zentrum für internationale und strategische Studien (CSIS) veranstaltet wurde, führte Stroul aus, in Syrien gehe es nicht nur um das Drittel des Landes, "das dem US-Militär und unserer militärischen Präsenz gehört".
In Syrien gehe es vielmehr um drei weitere Einflussbereiche von internationaler Bedeutung: "Eines ist die politische und diplomatische Isolation des Assad-Regimes", mit der eine Rehabilitierung, wie sie von Russland gewollt sei, verhindert werden könne. Man müsse "verhindern, dass Botschaften in Damaskus wieder öffnen". Als zweiten Punkt nannte Stroul "die Architektur der Wirtschaftssanktionen", mit denen "auch die Unterstützer von Assad" getroffen werden sollten. Drittens, so Stroul, gehe es um "die Wiederaufbauhilfe", die verhindert werden müsse. Weil Russland und "Assad" das wollten und bräuchten, bedeute es "eine Karte in der Hand der USA", die "in Kooperation mit den Europäern" Einfluss auf die internationalen Finanzinstitutionen nehmen könne. "Ohne Verhaltensänderung des Assad-Regimes sollten wir daran festhalten, Wiederaufbauhilfe und die Rückkehr von technischem Know-how nach Syrien zu verhindern."
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