von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
USA und NATO orchestrieren die Gefährdung des Weltfriedens sorgfältig: Kaum nimmt das Kriegspotenzial in einem Konfliktherd etwas ab – Beispiele: Libyen, Syrien, Ukraine –, schon liegt an anderer Stelle die Lunte am Pulverfass. Jetzt drohen die USA, den INF-Vertrag über das Verbot nuklearer Mittelstreckensysteme zu kündigen. Angeblich, weil Russland dagegen verstoße, und zwar mit seinem Marschflugkörper Novator 9M729, NATO-Code: "SSC-8". Wie immer spielt ARD-aktuell dazu die Leitmelodie: russlandfeindliche Töne, mal Piano, mal fortissimo. Tagesschau und Tagesthemen fragen weder nach Belegen für die Vorwürfe aus Washington, noch gehen sie gar der Frage nach, ob die USA nicht ihrerseits den INF-Vertrag verletzen. Um im Bilde zu bleiben: Ob das Pulver im Fass noch trocken ist, prüfen sie auch nicht.
Vor 31 Jahren leitete der INF-Vertrag das Ende des Kalten Krieges zwischen West und Ost ein und bot Europa seither relativen Schutz vor atomarer Bedrohung. Jetzt verlangen USA und NATO von Russland ultimativ, auf seine Novator 9M729 zu verzichten, (und das) binnen zwei Monaten. Andernfalls will Präsident Trump den INF-Vertrag kündigen. Und die Redaktion von ARD-aktuell stellt weder sich selbst noch in der Öffentlichkeit die für Journalisten immer obligatorische Fragen: Warum das alles? Wieso gerade jetzt? Hatte Trump nicht schon vor Monaten seine Unzufriedenheit mit dem INF-Vertragswerk erklärt? Den USA passte doch schon zu Obamas Zeiten die ganze Richtung nicht mehr?
Das neue Stichwort für Russlandhetze löst das Thema Syrienkrieg ab. Die Propagandakrieger atmen auf: Denn die Terrorbanden in Syrien, von Dr. Gniffkes Tagesshow als "moderate Rebellen" oder "bewaffnete Opposition" verniedlicht, sind ja längst geschlagen. Mit den bei Idlib eingekesselten Söldnerheeren wird nur noch über Waffenruhe, Kapitulation und Abzug verhandelt. Die al-Kaida-nahen "Weißhelme" haben im Westen, auch in Deutschland, Unterschlupf gefunden. Tagesschau & Co. ging der Stoff für antirussische Propaganda aus. Die verbliebenen humanitären Probleme in Syrien waren und sind für ARD-aktuell-Qualitätsjournalisten kein thematischer Ersatz.
Die vom Kabinett Merkel massiv geförderte Sanktionierung Syriens zwingt dessen Bevölkerung weiter Leid und Elend auf. Aber Tagesschau und Tagesthemen interessiert weder diese Schändlichkeit noch die deutsche Mitschuld an der Zerstörung Syriens. ARD-aktuell-Redakteure bürsten nicht gegen den Kriegstreiberstrich, auf dem sich ihr Vormann Gniffke und "Faktenfinder" wie Patrick Gensing ("Ich war als Jugendlicher Antifa-mäßig unterwegs") prostituieren. Das Elend der Menschen dient solchen Figuren allenfalls zur Agitation gegen "Machthaber Assad" und gegen das russische Militär. Der amoralische Umgang mit dem syrischen Buben Omram ist vielen Mitmenschen vielleicht noch in übler Erinnerung.
Dass die USA und ihre westliche Allianz – Deutschland ist Mitglied dieser Mörderbande – in Syrien ihren völkerrechtswidrigen Krieg fortsetzen und tagtäglich Menschen umbringen, ist der Tagesschau keine Meldung wert. Wenn "wir", die "Guten", für Freiheit und Menschenrechte in Syrien Bomben werfen, dann ist das ethisch höherwertig als das völkerrechtlich saubere Eingreifen der Russen, nicht wahr?! Und für "unsere" Besorgnis um Syriens Zivilbevölkerung muss diese schon ein paar Kollateralschäden hinnehmen …
Syrien? Thema durch. Vorübergehend bot das Intermezzo an der Krimbrücke ARD-aktuell Anlass zu weiterer Hetze gegen Russland. Über die Genese dieses Konflikts aber, der die Ukraine ins Verderben stürzte, ein neofaschistisches Regime in Kiew an die Macht und Europa einmal mehr in Kriegsgefahr brachte, leistete sich die Tagesschau lediglich Verzerrtes, Desinformation oder Informationsverweigerung.
Die "Ausstiegsdrohung" der USA in Bezug auf den INF-Vertrag gab der ARD-aktuell neues Propagandafutter. Er verbietet Entwicklung und Bau von Atomraketen mit mittleren Reichweiten von 500 bis 5.500 Kilometern. Vor 31 Jahren, im Dezember 1987, schuf der INF-Vertrag Entspannung zwischen den Supermächten. Jetzt machen ihn die USA nach außen hin zu einem Zankapfel.
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Die Vorgeschichte und den politischen Kontext lässt die ARD-aktuell einfach weg. Stattdessen unterstützen Tagesschau & Co. die durchsichtige Strategie der USA, Russland vor der Weltöffentlichkeit als vertragsbrüchig hinzustellen. Der Gleichklang des öffentlich-rechtlichen Senders mit der Erklärung des US-Scharfmachers und Außenministers Pompeo ist beeindruckend.
Dabei wäre es so einfach gewesen, ein wenig Frischluft in diesen Agitprop-Gestank zu blasen. Ein kleiner Hinweis auf vergleichbar schräge Manöver der USA hätte genügt. Hatte Präsident Trump nicht erst im Frühjahr das Atomabkommen mit dem Iran aufgekündigt? Hatte er dabei nicht ebenfalls vollkommen beweislos Vertragsverletzungen behauptet, entgegen aller bekannten Fakten? Hatte er nicht auch da "Nachbesserungen" zugunsten der USA erpressen wollen und neue Sanktionen gegen den Iran verhängt – unter rücksichtsloser Verletzung des Völkerrechts? O-Ton Pompeo:
Die USA erklären, dass Russland den Abrüstungsvertrag gebrochen hat. Wir werden ihn auch nach 60 Tagen suspendieren. Es sei denn, Russland wird den Vertrag voll und überprüfbar einhalten.
Die Tagesschau tut so, als erschöpfe sich ihre Verpflichtung zu objektiver und umfassender Berichterstattung in der Wiedergabe solcher US-amerikanischer Sprücheklopferei. Dr. Gniffkes Qualitätsjournalisten ignorieren großzügig, dass es bisher allein den USA vorbehalten blieb, bestehende Atomabrüstungsverträge einfach zu kündigen. Russland und die VR China müssen trotzdem als Feindbilder herhalten. Sie dienen Washington zur Begründung seiner geradezu aberwitzigen Aufrüstung.
Im Kalten Krieg hatten die USA und die Sowjetunion versucht, auch mit dem ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty, 1972) die Installation neuer Raketenabwehrsysteme zu verhindern. Aber 2002 hatte US-Präsident George W. Bush den Vertrag aufgekündigt und damit begonnen, "Raketenschutzschirme" nahe der russischen Westgrenzen zu installieren: in Rumänien, in Polen und gar in Tschechien (bis Prag damit Schluss machte). Angeblich zum Schutz Mittel- und Westeuropas vor Angriffen aus dem Iran oder Nordkorea.
Auch für den Bush-Nachfolger und Friedensnobelpreisträger Obama war keinerlei Vertrauensbruch tabu: Während er das Ziel einer atomwaffenfreien Welt verkündete, ließ er neue taktische Atomsprengköpfe entwickeln und "modernisierte" damit einseitig das nukleare Arsenal der USA. Zugleich ließ er den Konflikt mit Russland eskalieren. Kurzum: Die Vorgeschichte US-amerikanischer Vertrags- und Vertrauensbrüche hätte ARD-aktuell nicht unerwähnt lassen dürfen, wenn seriöse Berichterstattung über den INF-Vertrag ihre Absicht gewesen wäre.
Vor sieben Wochen, am 22. Oktober, reiste der Nationale Sicherheitsberater der USA, John Bolton, nach Moskau. Die New York Times berichtete, die Trump-Regierung wolle Russland über ihre Absicht informieren, aus dem INF-Vertrag auszusteigen. Interessant ist, was das Blatt über die Hintergründe der Bolton-Reise wusste, gestützt auf regierungsnahe Informanten und ausländische Diplomaten: Zweck des geplanten Vertragsausstiegs sei es, "den USA zu ermöglichen, der chinesischen Aufrüstung im Pazifik etwas entgegenzusetzen". China ist nämlich nicht durch den INF-Vertrag gebunden. Er wurde ja nur zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossen …
Also ist der antirussische Zoff nur ein Ablenkungsmanöver, ein dümmliches, abgekartetes Spiel? Oder der naheliegende Versuch Washingtons, einen neuen Keil zwischen Russland und die VR China zu treiben? Wie dem auch sei, der von der New York Times beleuchtete Hintergrund zeigt, dass die USA wieder einmal nur nach Vorwänden suchen, um ihre aggressive Politik mit allen Mitteln voranzutreiben. Ziel der Aggression ist die VR China, sie steht ganz oben auf der Liste jener Länder, deren Regierungen sich nicht dem Diktat der USA unterwerfen wollen. Doch was juckt das den deutschen Qualitätsjournalisten?
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Einflussreiche US-Strategen meinen: Ein begrenzter Atomkrieg darf jetzt wieder ins politische Kalkül einbezogen werden. Elbridge A. Colby, früherer stellvertretender Sekretär für Strategie und Streitkräfteentwicklung, schreibt unter dem Titel "Wenn du Frieden willst, bereite dich auf Atomkrieg vor":
Die Risiken eines nuklearen Spiels mit dem Feuer mögen enorm sein, aber ebenso groß wäre der Gewinn eines nuklearen Vorteils gegenüber dem Gegner.
Über diesen Irrsinn unterrichtet ARD-aktuell das deutsche Publikum nicht, obwohl es das erste Opfer einer nuklearen Antwort Russlands wäre. Stattdessen serviert die "Macht um acht" billige amerikanische Hetze gegen Russland. Und agitiert damit die gleiche furchtbare Drohung einer atomaren Vernichtung herbei, die vor 40 Jahren schon einmal über Deutschland schwebte.
Regierungsmitglieder wie der großformatige Heiko Maas tragen mit ihren antirussischen Sprüchen ebenfalls nicht zu distanzierter Betrachtungsweise und Meinungsbildung bei. Die selbstzerstörerische Konzeption der deutschen und der europäischen Außenpolitik nimmt billigend in Kauf, dass das "Spiel mit dem nuklearen Feuer" auf deutschem Boden gespielt wird ...
Deutschland ist immer dabei: Wir Willigen kommen lieber gefügig Trumps Forderung nach Rüstungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes nach und pumpen zusätzliche Milliarden in die Waffenindustrie, als mit diesem Geld die Hartz-IV-Sätze zu verdoppeln. Die (noch) mitregierenden Sozialdemokraten sind auf Linie. Ihr Heiko Maas, die personifizierte Pleite rationaler Außenpolitik, bisher noch in keinem einzigen Fall mit eigenständigem, gutem Konfliktmanagement hervorgetreten, darf sich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit Sprüchen wie diesen profilieren:
Ich hoffe, dass dieser 'last call' auch dazu führt, dass alle Möglichkeiten unternommen werden, um die Vertragstreue wiederherzustellen. (...) Dass das nicht einfach wird, das wissen wir auch, weil das in den letzten Jahren auch nicht gelungen ist (...), aber es steht viel auf dem Spiel …
Er unterstellt den Russen Vertragsbruch und behauptet zugleich, USA und NATO hätten sich seit Jahren um allseitige Vertragstreue bemüht. Deutscher Qualitätsjournalismus lässt solche Windbeutel pupen, ohne ihre Absonderungen zu hinterfragen oder ihnen gar zu widersprechen.
Wie der Außenminister bemüht sich auch die ARD-aktuell-Redaktion, logische Brüche in ihrer Darstellung der Weltlage zu verkleistern. Da sie gegen Präsident Donald Trump von Anfang an verächtlich stänkert, fällt es ihr jetzt schwer, die Kritik an dem Unsympathen mit der Rechtfertigung seiner Aufrüstungspolitik zu verbinden. Der Qualitätsjournalismus greift in solchen Fällen zu Trick 17: Die USA, so wurde jetzt unterstrichen, werfen Russland ja schon seit langem vor, den INF-Vertrag zu brechen. Hinweise der Geheimdienste auf ein neues russisches Raketensystem gebe es bereits seit Obamas Zeiten.
Spionagedienst-Verlautbarungen als Fakten zu verkaufen, ist eine ARD-übliche Masche, ein besonders widerlicher Beleg der Regierungsabhängigkeit der wichtigsten deutschen Nachrichtensendung. Dabei verstrickt sich allerdings Dr. Gniffkes Qualitätsjournalisten-Truppe auch mal in Widersprüche. Am 23. Oktober stellte die Tagesschau die von US-Sicherheitsberater Bolton nach Moskau gebrachte Botschaft von der beabsichtigten INF-Vertragskündigung noch als "wenig freundlichen Akt" dar und ließ die russische Seite betonen, eine Vertragskündigung ohne Nachfolgeregelungen sei nicht gerade ratsam. Die ARD-"Faktenfinder" kamen bezüglich der Frage "Wer verletzt den INF-Vertrag" am gleichen Tag immerhin zu der Erkenntnis: "Beide haben eine gewisse Form von Glaubwürdigkeit."
Sie zitieren zustimmend diese Äußerungen des SIPRI-Chefs Dan Smith (SIPRI = Stockholm International Peace Research Institute, das Friedensforschungsinstitut in Schweden). Und weiter:
Man befinde sich in einem Stadium von Vorwurf und Gegenvorwurf. Ohne Zugang zu geheimen Dokumenten fehlt auch Forschern hier die Möglichkeit, genauer nachzuprüfen.
Ja was denn nun? Wie passt das zur volltönenden Promotion der Tagesschau für das Ultimatum der USA?
Liebe Desinformationsopfer, tief durchatmen: Russland hat den USA längst Informationen über die Tests mit dem Marschflugköper-System Novator 9M729 zur Kontrolle übergeben. Und: Washington und Moskau verhandeln bereits seit fünf Jahren in aller Stille über einen einvernehmlichen Verzicht auf den INF-Vertrag.
Was aber kümmert einen Qualitätsjournalisten vom Range des ARD-aktuell-Chefredakteurs die Erkenntnisleistung weltweit anerkannter Friedens- und Konfliktforscher? Was kümmern ihn historische Fakten und bedenkenswerte Argumente aus Moskau? Er ist schließlich nur Befehlsempfänger und hat im Dienste der USA, der NATO und der Regierung in Berlin zu funktionieren. Seine Auftragsbotschaft heißt: Wir sind die Guten. Russland ist das Reich des Bösen. Damit das klar ist.
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Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 - 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Journalist. 1975 - 1996 im NDR, zunächst in der ARD-Tagesschau, nach 1991 in der NDR-Hauptabteilung Kultur. Danach Lehr- und Forschungsauftrag an der Fu-Jen-Uni Taipeh.
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